Ganztagsschule - Hoffnung. Ernüchterung. Kritik
Editorial
Kaum ein anderes Thema aus dem Bereich Schule/Bildung hat in den letzten Jahren im öffentlichen Diskurs, in Politik, Praxis und Wissenschaft eine derart große Prominenz erhalten wie das Thema 'Ganztagsschule'. Ganztagsschule ist gewissermaßen zur diskurstragenden Begrifflichkeit geworden: Reformhoffnung, Projektionsfolie, Mythos. Bisweilen entsteht der Eindruck, Bildungspolitik ginge in der Ganztagsschulentwicklung auf. Dass diese Diskussion flächendeckend geführt wird, daran besteht kaum Zweifel. Weniger eindeutig ist allerdings zu beantworten, ob die aktuelle Entwicklung gleichzusetzen ist mit einer substanziellen und flächendeckenden Veränderung von Schule, welche Bereiche sich tatsächlich verändern und welche lediglich ergänzt werden, ansonsten aber unverändert weiter bestehen bleiben etc.. Diese Aspekte bedürfen der scharfen Beobachtung.
Zweifelsohne ist der Schulbereich in den letzten Jahren - nicht zuletzt angestoßen durch die milliardenschweren Förderprogramme des Bundes zum Ausbau von Ganztagsschulen - in Bewegung geraten. Alle Bundesländer sind in erstaunlicher Einigkeit wenngleich mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen beteiligt, ebenso weitere Institutionen des Bildungs- und Sozialbereichs: Volkshochschulen, Jugendzentren, Sportvereine, Musikschulen etc. Und manchmal drängt sich fast die Frage auf: Wer macht derzeit eigentlich kein Angebot für den Ganztagsbetrieb? Kooperationen von Jugendhilfe und Schule, um die es hier im Wesentlichen geht, wurden seit den 1960er Jahren, also seit fast 50 Jahren fortwährend eingefordert und konnten sich zwar zögerlich aber doch mit wachsender Tendenz in Teilen des Schulsystems realisieren. Ein derart offensives Einklagen einer inter-institutionellen und inter-professionellen Zusammenarbeit, nicht zuletzt auch von Seite der 'großen' Politik, ist seit dem Ausbau von Ganztagsschulen ebenso etwas Besonderes wie der Umfang, mit dem der Ausbau der Kooperationen von Schule mit außerschulischen Partnern heute tatsächlich stattfindet. Im Zuge der Ganztagsschulentwicklung konnte sich hier etwas realisieren, was zuvor nicht selten bloßer Appell, Aufforderung und Wunsch geblieben war.
Die Entwicklungen im Ganztagsschulkontext sind mittlerweile ausgesprochen umfangreich und vielfältig - ja in Teilen ziemlich unübersichtlich geworden. Dies gilt bereits für das Bündel an formulierten Absichten und Zielsetzungen, mit dem der aktuelle Ausbau von Ganztagsschule begründet wird: So soll aus einem bildungspolitischen Blickwinkel betrachtet mit dem Ausbau von Ganztagsschulen bzw. Ganztagsbetreuung, nicht zuletzt im Anschluss an die als Desaster empfundenen Ergebnisse internationaler Leistungstests, das Leistungsniveau der Schülerinnen und Schüler in Deutschland gehoben und das internationale Ansehen des deutschen Bildungssystems zurück gewonnen werden. Die Steigerung der Schülerleistungen und die Ausdehnung dessen, was durch den Ganztagsbetrieb in Schule gelernt werden soll, soll das "gesamtgesellschaftliche Humanvermögen" erhöhen. Ganztagsschulen werden als Möglichkeiten betrachtet, einen effektiven Ausgleich sozialer Bildungsbenachteiligung (nicht zuletzt für Einwandererkinder) zu schaffen und verstärkt soziales Lernen zu ermöglichen. Aus reformpädagogischer Sicht verbinden sich mit dem Ganztagsschulprojekt die weitergehende Hoffnung, diejenigen schulpädagogischen und unterrichtsbezogenen Reformen wie ganzheitliches Lernen, Rhythmisierung von Lernprozessen, Lebensweltorientierung von Unterricht etc. umzusetzen, die sich bislang nur bedingt realisieren ließen. Und schließlich soll der Ausbau von Ganztagsschule eine vielfältigere Bildungslandschaft und ein erweitertes Verständnis von Bildungsprozessen (formelle und informelle Bildung) befördern und sich unmittelbar als Erweiterung der Möglichkeiten förderlicher Bildungsprozesse für Kinder und Jugendliche niederschlagen.
Und die sozialpolitischen Zielsetzungen sind nicht weniger ambitioniert: Mit dem Ausbau von Ganztagsschulen soll die Betreuung von Kindern vor und nach dem Unterricht sichergestellt werden. Hier sei aufgrund gesamtgesellschaftlicher Veränderungen in Familie und Wirtschaft erheblicher Bedarf entstanden, der nur auf diese Weise sinnvoll gedeckt werden könne. Eine gesicherte Betreuung der Kinder wirke sich wiederum auf die Familienorganisation und auf eine Effektivierung der Gestaltung von Lohnarbeitsprozessen positiv aus, sprich: auf eine Erhöhung der Erwerbstätigkeit von Müttern. Und nicht zuletzt wird mit dem Ausbau von Ganztagsschulen die biopolitische Hoffnung auf einen 'generativen Erfolg' verbunden, nämlich die Steigerung der Geburtenzahlen.
Entsprechend der Vielfalt dieser Intentionen kann es kaum verwundern, dass mit dem Begriff Ganztagsschule Vielfältiges gemeint ist. Den vorliegenden gesetzlichen und fiskalischen Regelungen, die den Entwicklungsprozess ansatzweise steuern, liegen zwar Definitionen von Ganztagsschule zugrunde, z.B. die Unterscheidung von offenen, gebundenen und teilgebundenen Ganztagsschulen. Mit Blick auf das, was bundesweit und vor dem Hintergrund föderal verankerter Länderzuständigkeit diskutiert wird, bedient das Verständnis von Ganztagsschule/Ganztagsangeboten aber ein weites Spektrum, das von einem Angebot, das von vom vormittäglichen Unterrichtsgeschehen weitgehend unabhängig gestalteten Freizeitangeboten am Nachmittag reicht, bis hin zu Konzepten, die einen über den gesamten Tag verteilten Wechsel zwischen 'klassischem' Unterricht und nicht-unterrichtlichen Angeboten vorsehen und bei dem die Grenzziehung zwischen Unterricht und Nicht-Unterricht durchaus verschwimmen kann. Der Minimalkonsens der verschiedenen Konzeptionen ist, dass es bei Ganztagsschulen um mehr geht, als um Unterricht, dass insgesamt mehr Zeit als in einer Halbtagsschule zur Verfügung steht und dass neben der Profession der Lehrerinnen und Lehrer nun weiteres (sozial)pädagogisches Personal an Schule beteiligt ist. Deutliche Unterschiede bestehen demgegenüber hinsichtlich des Grads der Verbindlichkeit der Teilnahme der Schülerinnen und Schüler, dem Ausmaß der systematischen Integration - oder auch Separierung - von Unterricht und Nicht-Unterricht im Schulalltag, der Trägerschaft der nicht-unterrichtlichen Anteile (Schule oder nicht-schulische Träger) sowie der konkreten Orte, an denen der nicht-unterrichtliche Teil des Ganztagsangebotes stattfindet.
In diesem Zusammenhang überrascht es nicht, dass mit dem Ausbau von Ganztagsschulen auch die Diskussion zum Komplex 'Jugendhilfe und Schule' einen enormen Auftrieb erhalten hat. Die Akzeptanz einer Kooperation zwischen beiden Systemen ist vermutlich noch nie so groß gewesen wie zur Zeit. Zugleich scheint sich jedoch mit der konkreten organisatorischen Umsetzung von Ganztagsangeboten an Schulen die Unterordnung von Jugendhilfe gegenüber der Schule weiter fortzuschreiben, die viel beschworene 'gleiche Augenhöhe' nicht selten bloßer Appell zu sein. Zudem wird im öffentlichen wie im wissenschaftlichen Diskurs die Breite dessen, was unter 'Jugendhilfe und Schule' noch bis Ende der 1990er Jahre verstanden und initiiert wurde (z.B. Schulsozialarbeit, Hilfen zur Erziehung und Schule, Jugendarbeit und Schule, Schülerhilfen etc.), von der Ganztagsschulthematik in den Hintergrund gedrängt und damit, das ist hier von besonderer Bedeutung, auch die Forderung nach einer besonderen Förderung benachteiligter Kinder und Jugendlichen, wie es etwa für Schulsozialarbeit oder Sozialarbeit an Schulen immer kennzeichnend gewesen ist.
Der Ganztagsschuldiskurs wird häufig recht verkürzend und selbstbezüglich geführt. Dieser Umstand verdeckt, dass es sich hierbei keineswegs um völlig neue Überlegungen und Entwicklungen, gewissermaßen um Pionierarbeit handelt. Vielmehr gibt es zum einen Vorläufer in der seit den 1960er Jahren immer wieder aufkommenden Debatte zur Ganztagsschule, zum anderen ebenso in den zeitgleich laufenden Auseinandersetzungen um das Verhältnis von Jugendhilfe und Schule und den verschiedenen in diesem Kontext angestoßenen Projekten (wie die genannte Schulsozialarbeit, Schülerhilfen etc.). Zum zweiten gerät schnell aus dem Blick, dass die Ganztagsschulentwicklung keineswegs im bildungs- und sozialpolitisch luftleeren Raum stattfindet. Vielmehr geht sie etwa einher mit der Etablierung zentraler Bildungsstandards und zentraler Leistungsprüfungen (Zentralabitur, jahrgangsspezifische Leistungsmessungen, Sprachstandserhebungen etc.), mit einer Verkürzung der Gesamtschulzeit auf zwölf Schuljahre, sowie mit einer nur randständig geführten schulpolitischen Diskussion um das gegliederte Schulwesen (bei der keine ernstzunehmenden Anzeichen für eine Abschaffung des gegliederten Schulwesens in Sicht sind). Die Ganztagsschuldiskussion steht also insgesamt im Kontext einer Verstärkung der individuellen Leistungsorientierung in der Schule, gepaart mit einer Schulzeitverkürzung, die den individuellen Leistungsanspruch an die Schülerinnen und Schüler faktisch noch einmal erhöht. Parallel schreitet der Ausbau der 'selbständigen' Schule voran, inklusive verschiedener neuer Ansätze zur Finanzierung von außerunterrichtlichen Bildungsangeboten am Nachmittag, der gewollten Konkurrenz unter den Anbietern (Verpflichtung, den billigsten Anbieter einer Nachmittagsbetreuung auswählen zu müssen) sowie der Professionalisierung von Schulleitungen; vielleicht könnte man hier von ersten vorsichtigen Schritten einer Transformation von Schulen in Unternehmen sprechen, einschließlich der Verortung in einer Konkurrenzsituation um Schülerinnen und Schüler, die bei insgesamt abnehmender Kinderzahl und in der Konsequenz drohender Schulschließungen immer deutlichere Züge annimmt.
Schließlich vollzieht sich in wachsendem Maße - und durchaus auch unabhängig von der Ganztagsschulentwicklung - die Hereinnahme von pädagogischem Personal in Schule, die keine Lehrkräfte sind (bspw. Bildungsassistenten oder Sozialpädagoginnen). Sieht man einmal von der Schulsekretärin und dem Hausmeister ab, dann war berufliches Handeln in Schule bislang weitgehend der Profession der Lehrer vorbehalten. Diese professionelle 'Alleinherrschaft' ist mit der Ganztagsschulentwicklung tatsächlich gebrochen. Dennoch und trotz der Betonung der Wichtigkeit der Relationierung formeller, informeller und nonformaler Bildungsprozesse ist die Dominanz der Lehrerprofession in der Schule keineswegs in Frage gestellt. Zudem: Im Ganztagsbetrieb findet nicht selten eine klare Trennung zwischen den Feldern Unterricht und Ganztagsangebote statt und damit auch zwischen den Arbeitsfeldern von Lehrkräften und anderem pädagogischen Personal; das Nicht-Lehrer-Personal ist hinsichtlich des Einflusses auf den gemeinsamen Schulalltag den Lehrkräften untergeordnet; von der Differenz der erheblich schlechteren Entlohnung für die geleistete Arbeit und der nicht selten unsicheren Beschäftigungsverhältnisse des Personals des Nachmittagsbereichs einmal ganz abgesehen.
Und mit Blick auf die Kinder, die zentral an der Ganztagsschulentwicklung beteiligt sind, ist das Bild ebenfalls ambivalent: Für sie bedeutet Ganztagsschule eine verlängerte Anwesenheit in Schule, vermehrte Gelegenheiten, Zeit mit Freundinnen und Freunden zu verbringen, neue Möglichkeiten der Freizeitgestaltung und der Kontakte zu Erwachsenen, vermehrte Lern- und Förderangeboten etc. Die Verlängerung der Schulzeit bedeutet für sie aber auch eine Verlängerung des institutionellen Zugriffs auf ihren Alltag und auf ihre Lebensführung, verkürzt den Zeitraum, der ihnen - freilich begrenzt auf den Rahmen ihrer eigenen Ressourcen und Möglichkeiten - unabhängig vom Zugriff der Schule zur Verfügung steht. Tatsächlich werden mit dem Ausbau von Ganztagsschulen und damit auch dem Ausbau von außerunterrichtlichen Angeboten deutlich mehr Kinder im Rahmen öffentlich verantworteter Erziehung, Bildung und Betreuung erreicht als zuvor - ohne Zweifel ein sozialstaatlicher Ausbau. Es bleibt allerdings zu fragen, um welchen Preis und wen diese neuen Angebote tatsächlich erreichen. Denn der Ausbau von Ganztagsplätzen geht - jedenfalls in einigen Bundesländern - zeitgleich einher damit, dass an anderen Stellen, z.B. bei Angeboten der Hortbetreuung oder offenen Angeboten der Jugendarbeit, eine Verlagerung von Ressourcen in Richtung Schule stattgefunden hat. So wurde z.B. in NRW ein Großteil der Hortplätze aufgelöst bzw. in den Ganztagsschulkontext integriert, was, sofern die Angebotsqualität gesichert wäre, an sich kein Problem bedeuten müsste. Allerdings richteten sich Teilbereiche des Hortangebotes speziell an sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche bzw. deren Familie. Mit der Verlagerung dieser Betreuungen in den Schulbereich wurde die Quantität insgesamt erhöht und eine am Bedarf orientierte, flächendeckende Betreuung und gegebenenfalls Förderung aller Kinder, deren Eltern Interesse angemeldet haben, angestrebt. Eine spezifische Förderung bestimmter Schülergruppen, die unter sozialen Benachteiligungen den Schulbesuch absolvieren müssen, unterbleibt jedoch nicht selten. Diese (zumindest in Teilbereichen) soziale Schieflage bei der Einrichtung von Ganztagsangeboten verschärft sich z.T. noch dadurch, dass eine Kostenbeteiligung der Eltern, häufig ohne einen angemessenen öffentlichen Ausgleich, für das Ganztagsangebot nicht unüblich ist.
Die Beurteilung der aktuell stattfindenden Entwicklungen, so das Fazit dieses kurzen Überblicks, kann nicht eindeutig ausfallen. Weder lässt sich die aktuelle Ganztagsschulentwicklung als die Eröffnung umfassender Optionen für die Schülerinnen und Schüler und für die institutionell Beteiligten interpretieren noch einfach als 'Unterjochung' der ansonsten 'freien und ungebundenen' jungen Menschen unter den nur formierenden und die Selbstentfaltungsmöglichkeiten begrenzenden Einfluss der Schule. Trotz erster empirisch begründeter Hinweise lässt sich (jenseits von Einzelergebnissen) die Entwicklung von Ganztagsschule derzeit kaum seriös beurteilen. Es fehlen (noch) flächendeckende Ergebnisse, wieweit die genannten Intentionen sich umsetzen und welche Folgen die ganztägige Umgestaltung von Schulen für die Beteiligten haben, zuallererst für die Schülerinnen und Schüler, dann für die Lehrerinnen und Lehrer wie für die sozialpädagogischen Fachkräfte. Und nicht zuletzt ist keineswegs hinreichend ausgelotet, was die Ganztagsschulentwicklung für die gesamtgesellschaftlichen Relationierungen zwischen Schule und den weiteren Institutionen des Bildungs- und Sozialbereichs einerseits wie auch zwischen Schule, Eltern und Schülerinnen und Schüler andererseits bedeutet.
Das Bild, das sich aktuell von der Ganztagsschulentwicklung zeichnen lässt, ist also eher uneindeutig und zwiespältig: Zwar ist eine fast schon rasant zu nennende Weiterentwicklung von Schule belegbar; und die Dynamik, die sich hier entfaltet, ist sicherlich nicht zu unterschätzen. Zugleich setzen sich aber Beharrungskräfte durch, die einen der zentralen Stützpfeiler des deutschen Bildungssystem, die hoch-selektive Verteilung der Schülerinnen und Schüler auf unterschiedliche Schulformen, sichern wollen. Ungeachtet der mit dem Ganztagsdiskurs einhergehenden Integrationsversprechen scheinen sich in diesem Aspekt keine bedeutsamen Veränderungen zu vollziehen. Die Ganztagsschulbewegung der 1960er und 1970er Jahre stellte demgegenüber Ganztagsschule in den Zusammenhang mit dem Ausbau von Gesamtschulen. Eine ähnliche Koppelung von ganztägiger Beschulung der Kinder bei gleichzeitiger Abschaffung (oder wenigstens Abmilderung) der schulischen Selektion findet derzeit nicht statt; allenfalls eine Abfederung etwa durch nachmittägliche Förderangebote. Die Weiterentwicklung von Schulen zu Ganztagsschulen hat hier also eine deutliche Grenze. Es wird kritisch zu beobachten sein, ob sich die Ganztagsschulentwicklung nicht als eine Art Befriedungsstrategie herausstellt für das aufgrund seiner selektiven Wirkung in die Kritik geratene bundesdeutsche Schulsystem.
Die nachfolgenden Beiträge versuchen hier, einige Linien aufzunehmen und den bislang eher samtweich geführten Diskurs zu forcieren.
Zu den Beiträgen im Einzelnen
Der erste Beitrag des Themenschwerpunktes kritisiert aus einer ungleichheitskritischen und sozialpolitischen Perspektive eine zentrale Legitimationsfigur des aktuellen Ganztagsschuldiskurses: diese Schulform sei geeignet, so wird erwartet, produktiver mit der sozialen Heterogenität der Schülerschaft umzugehen und ein höheres Integrationspotential freizusetzen. Demgegenüber kritisiert Joachim Schroeder zunächst die Verkürzung sozialer Ungleichheit auf den Topos der Bildungsbenachteiligung. Verarmung und Zuwanderung gehen sehr häufig mit sozialen Spaltungen und der Marginalisierung ganzer Sozialräume einher, sind also nicht primär Folge des dreigliedrigen Schulsystems, mithin schon gar nicht durch die Einführung von Ganztagsschulen zu beheben. Zugespitzt wird die Reproduktion sozialer Ungleichheit im Schulsystem durch die Konzentration auf die Vermittlung kulturellen Kapitals und die Verschleierung der Bedeutung, die dem sozialen Kapital für eine erfolgreiche Bildungslaufbahn zukomme. Eine reflexive Strategie der Unterstützung von marginalisierungsbedrohten Schülerinnen und Schülern könne weder mit appellativen Programmen der Familienstärkung begegnet werden noch allein mit einem intensiveren Einbau der Jugendhilfe an solchen Schulen. Stattdessen gehe es darum, den institutionenfixierten Blickwinkel abzulegen und als Kooperationspartner für Ganztagsschulen nicht allein an die Jugendhilfe oder die Sonderpädagogik zu denken. Darüber hinaus und vor allem gehe es darum, den Jugendlichen Kontaktfelder auch zu solchen Erwachsenen wie Organisationen zu erschließen, die nicht Teil des schulischen Gefüges sind, um ihnen auf diese Weise nutzbare soziale Beziehungen zu verschaffen und zugleich die kulturelle Dominanz der 'Bildungsbürgersschule' zu durchbrechen.
Im Beitrag von S. Karin Amos wird Schule als ein basales Regulativ gesellschaftlicher Mitgliedschaft herausgestellt. Die Frage nach einer Formveränderung dieses Regulativs durch die Ganztagsschulentwicklung stellt den roten Faden ihrer Argumentation dar. Die öffentliche Schule spiele, so markiert die Autorin den Ausgangspunkt ihrer weiteren Überlegungen, eine wesentliche Rolle bei der (staatlichen) Gestaltung gesellschaftlicher Mitgliedschaftsverhältnisse: Historisch könne dies auf die Formel gebracht werden kann, dass sich im Erzieher-Zögling-Verhältnis das Staat-Bürger-Verhältnis präfiguriert. Mit der Durchsetzung des modernen Nationalstaats wird mit dem staatlichen Erziehungswesen (Schule) eine Institution geschaffen, die entlang der aufklärerischen Tradition auf die 'Entwicklung' der Gesellschaft und des Subjekts zielt. Entlang dieser Legitimationsfigur (Metanarration) rückt das meritokratisch begründete Leistungsprinzip in den Vordergrund und dethematisiert Aspekte der ungleichen sozialen Herkunft. Anhand eines Vergleichs von Begründungsdokumenten zur Ganztagsschule aus den 1960er Jahren mit aktuellen Verlautbarungen lässt sich zunächst, so die Autorin, eine gemeinsame Begründungsfigur feststellen: 'Erschließung des Humankapitals in einer internationalisierten Wissensgesellschaft'. Ein markanter Unterschied besteht jedoch darin, dass die Bildungsexpansion der 1960er Jahre neben wirtschaftlichen Überlegungen zwei weitere Diskursfiguren hervorhob: Chancengleichheit und Demokratisierung; beide spielen heute keine Rolle mehr. Dagegen sei nun der dominante Fokus der des Wettbewerbs um Leistung, Wissen und Können. Gesellschaftliche Mitgliedschaft wird nun zweifach konstituiert: als Verkopplung von Staatsbürgerschaft und individuellem Leistungserfolg.
Der zentrale Effekt der Ganztagschulentwicklung bestehe, so die These des Beitrags von Fritz-Ulrich Kolbe und Sabine Reh in einer doppelten Grenzverschiebung des Schulischen: 'nach außen' wie nach 'innen'. Auf der Basis von diskursanalytischen und empirischen Befunden wird dargelegt, dass in den politischen wie pädagogisch-praktischen Begründungsfiguren der deutschen Ganztagsschuldiskussion reformpädagogische Überlegungen einen wesentlichen, wenngleich nicht kritisch-reflexiv eingeholten Stellenwert einnehmen. Eine Grenzverschiebung 'nach außen' entfaltet sich dahingehend, als Schule nun nicht mehr nur als Unterrichtsraum, sondern als umfassende Lebenswelt, gar als sorgende und Halt gebende Gegenwelt konzipiert wird und mit einer bemerkenswerten Abwertung der Familien einhergehe. Nach 'innen' wird die Grenzverschiebung markiert durch ein sich veränderndes Bild von den Heranwachsenden. Die Orientierung an der 'Schülerpersönlichkeit' und nicht mehr so sehr an der 'Schülerrolle' führe zu stärker individualisierten Lernarrangements, die sich zudem über den Unterrichtsanteil hinaus auch z.B. auf die in der Schule verbrachte Freizeit beziehe und darin veränderte Subjektivierungsformen freisetze. Kennzeichnend ist also eine stärkere Individualisierung, die sich als Zumutung zur Selbstständigkeit erweisen könne und hohe Anforderungen an die Subjekte stellt. Die spezifische Ambivalenz dieser Entwicklung liegt nun darin, dass Ganztagsschule einerseits Kindern in anregenden und förderlichen Lernumgebungen selbständige(re)s Lernen ermöglichen kann, ihnen andererseits aber auch die Verantwortlichkeit für das eigene - erfolgreiche - Lernen aufzulasten droht.
Wohl keine Schulform ist im gesellschaftlichen Bewusstsein so umstandslos und weitgehend kritikfrei anerkannt wie die Grundschule: harmonisch, reformfreudig, politikfrei, inklusiv. Dieser 'Mythos Grundschule' wird nicht zuletzt durch zwei aktuelle Reformentwicklungen, die Heike Deckert-Peaceman in ihrem Beitrag analysiert, in Frage gestellt: die Entwicklung von Ganztagsgrundschulen bzw. ganztägigen Angeboten an dieser Schulform sowie Veränderungen im Übergang vom Elementar- in den Primarbereich. Auch in der Entwicklung von Ganztagsgrundschulen zeichnet sich eine spezifische Spannung ab, die die Einführung von Ganztagsschulen generell zu begleiten scheint: auf der einen Seite reformpädagogisch inspirierte Hoffnungen auf einen 'ganzheitlichen' und rhythmisierten Unterricht, auf der anderen Seite die Realität eines primär sozial- und wirtschaftspolitischen Überlegungen folgenden Umbaus zu einer stärker leistungsorientierten Vormittagsschule mit angebotsförmig gekoppelten nachmittäglichen Betreuungsarrangements, die (in erster Linie) den Müttern einen kalkulierbareren Zugang zum Erwerbsarbeitsmarkt verschafft. Auf diese Weise bildet sich eine neue Spaltungslinie in eine Unterrichtsschule für alle am Vormittag, die entlang verstärkter Leistungserwartungen operiert, und in einen nachmittäglichen Bereich für den Teil der Kinder, die spezifische Förderung und Betreuung benötigen. Ähnliche Muster zeichnen sich für die zweite 'Reformbaustelle' ab, den Übergang vom Elementar- zum Primarbereich. Eine markante Entwicklung ist hier die Deregulierung des Eingangs in die Grundschule im Zeitraum zwischen fünf und acht Jahren, die zur Vorverlagerung der für die Grundschule typischen Ambivalenz von Fördern und Auslesen bereits an den Schulanfang führe. Durch den früheren Eintritt von Kindern in den Elementarbereich und den Ausbau ganztägiger Schulformen verstärkt sich zudem die institutionelle Einbindung von Kindheit und führe in der Ganztagsgrundschule zu einer verstärkten Orientierung an formalem Lernen.
Im Fokus des Beitrags von Gabriele Nordt und Charlotte Röhner steht die Frage nach der Qualität der Hausaufgabenbetreuung in der offenen Ganztagsschule, die ja zahlenmäßig die dominante Ganztagsschulform darstellt. Mit der Verlagerung der Hausaufgabenbetreuung in den schulisch strukturierten Nachmittag ist bildungspolitisch die Intention verbunden, auf diesem Wege insbesondere die schulischen Leistungen von sogenannten Risikoschülerinnen und -schülern zu fördern. Die Autorinnen kommen auf der Basis eines Forschungsprojekts zu sehr ernüchternden Ergebnissen: Die Hausaufgabenerledigung (wie zu erwarten begleitet durch nicht dafür qualifizierte und kostengünstige Kräfte) behält ihren hohen Ritualcharakter und wird weiterhin 'jobmäßig' betrieben, der Lerntypus bleibt reproduktiv, Aufgaben werden als fremdbestimmt wahrgenommen, das Setting als hochgradig reglementiert und den Schülerinnen und Schülern bleiben kaum Spielräume für selbstreguliertes Lernen. Tradiert werden also zentrale Merkmale der Hausaufgabenerledigung wie an der Halbtagsschule, ein Qualitätszuwachs in der schulischen Lernkultur sei (angesichts der gegenwärtigen Praxis) nicht erwartbar.
Einen (partiellen) Perspektivenwechsel nimmt Uwe Hirschfeld im letzten hier vorgelegten Beitrag vor. Er diskutiert die 'Politik der Ganztagsschulentwicklung' weniger aus einem institutionellen oder pädagogischen Blickwinkel, sondern interpretiert sie als einen der Bausteine in einer sich abzeichnenden postfordistischen Regulationsweise. Im Rekurs auf Gramsci pointiert er drei Bedeutungsgehalte, die dem Bildungssystem in der Formierung eines neuen 'hegemonialen Blocks' zukomme: erstens in ökonomischer Perspektive angesichts sich verändernder Produktivkraftentwicklungen die angemessene Qualifikation von Arbeitskräften - die Vermittlung einer traditionellen Basisqualifikation wird abgelöst durch lebenslanges Lernen sowie durch Formen des Kompetenzerwerbs auch in nonformalen und informellen Arrangements (was Hirschfeld als 'lebensbreites' Lernen kennzeichnet); zweitens in gesellschaftsregulativer Hinsicht die Vermittlung entsprechender 'ethisch-politischer' Verkehrs- oder Subjektivierungsformen - die 'Meta-Lernaufgabe' charakterisiert der Autor als "verwertungsorientiertes Selbstmanagement von Bildungsprozessen"; zum dritten sei Bildung das Feld, auf dem über diese beiden Merkmale besonders heftig gestritten werde - als kritische Perspektive pointiert Hirschfeld zweierlei: keine weitere Polarisierung von 'niederer' und 'höherer' Bildung in der und durch die Ganztagsschule, sowie die Rekonzeptualisierung von Schule als "Ort des Eigensinns und der produktiven Irritation."
Die Redaktion