Von der Naturalisierung der Gesellschaft
Editorial
Mit Natur der Gesellschaft hatte die Deutsche Gesellschaft für Soziologie ihren 33. Kongress im vergangenen Oktober in Kassel überschrieben und damit ein hochaktuelles Thema aufgegriffen. Denn die weltweiten Diskussionen um immense klimatische Verschiebungen und deren fundamentale Konsequenzen für soziale Zusammenhänge, aber auch Phänomene wie das der Biopiraterie oder der zunehmenden Zuschreibung genetischer Verantwortung an die Einzelnen machen eine Auseinandersetzung um "Naturverhältnisse" und die damit verbundene Regulierung bzw. Regierung der Natur notwendiger denn je. So ist im Themenpapier des Kongresses zum Hauptprogramm auch zu lesen, "dass in dem heute beobachtbaren epochalen Geltungszuwachs der Biologie 'Kultur' nicht einfach mehr durch 'Natur' ersetzt wird; vielmehr wird nach neuen und anderen Mischungen einer kulturierten Natur oder einer naturbedingten Kultur gefragt. Dies eröffnet die Chance, eingespielte Dichotomien zu verabschieden, wenn es um die Frage geht, was am Menschen als 'natürlich gegeben' und was als 'gesellschaftlich vermittelt', was als 'technisch machbar' und was als 'ethisch erlaubt' anzusehen sei" (DGS 2006: 13). Die damit zumindest prinzipiell eröffnete Gelegenheit, gesellschaftliche Regulationen, Subjektkonstitutionen und "Naturverhältnisse" systematisch analytisch und relational zu fokussieren, wurde während des Soziologiekongresses allerdings weit gehend verschenkt. Denn statt einer kritischen Auseinandersetzung mit den hegemonialen Prämissen einer naturwissenschaftlichen Perspektive auf soziale Praktiken, wurde häufig das konservative Grundmuster einer affirmativen Synthese auf die Agenda gesetzt. Im Jargon der Veranstalter/innen liest sich dies folgendermaßen: Es gehe darum, einen "Dialog mit Genetik und Neurobiologie" zu führen, der ja die Möglichkeit eröffne, dafür Sorge zu tragen, dass "die physiologischen Folgen der Veränderung sozialer Umweltbedingungen ebenso wieder ins Spiel kommen, wie die Kraft bestimmter 'Prägungen' und 'Pfadabhängigkeiten'" (DGS 2006: 13). Damit ist der analytische Blick auf "Naturverhältnisse", eine "Regierung der Gene" oder eine "Kritik der gentechnologischen Vernunft", um nur stichwortartig mögliche sozialwissenschaftliche Zugänge anzudeuten, schon von Veranstalterseite weit gehend verstellt gewesen.
Aus der Unzufriedenheit über diesen verengten Themenfokus und anlässlich des Kongresses sind einige der hier in diesem Widersprüche-Heft versammelten Autoren der Frage nachgegangen, welche Denktraditionen für eine angemessenere sozialwissenschaftliche Perspektive in diesem Zusammenhang bereits vorliegen? Keineswegs überraschend ist, dass sie dabei relativ schnell auf Triebstruktur und Gesellschaft gestoßen sind, das Herbert Marcuse vor 50 Jahren in den USA veröffentlicht hatte. In der spontan initiierten Ad hoc-Gruppe wurde deshalb in Auseinandersetzung an diesen Versuch Marcuses, die Freudsche Triebtheorie zu soziologisieren das im Kongresstitel benannte Thema in modifizierter Weise diskutiert: Kann aus einer triebtheoretischen Perspektive das Phänomen der aktuell zu beobachtenden zunehmenden Naturalisierung der Gesellschaft angemessen analytisch erfasst werden? Mit dieser Frage war zugleich eine zweite auf den Plan gerufen, nämlich die Frage nach der Figur des Subjekts und dessen Positionierung in aktuellen sozialtheoretischen Vorgehensweisen. Mit Blick auf diese Grund legenden Fragestellungen stellte Marcuses Studie Triebstruktur und Gesellschaft einen gemeinsamen Ausgangspunkt ganz unterschiedlicher Zugänge zum Thema dar - Zugänge, die in diesem Schwerpunktheft der Widersprüche auf Basis der damaligen Beiträge ausgearbeitet und ergänzt wurden.
Zu den Beiträgen im Einzelnen
Aufgrund der unterschiedlichen Zugänge sind sich die hier versammelten Beiträge auch keineswegs einig über das Potenzial, das Marcuses Perspektive für einen analytischen Zugang zu den aktuellen Entwicklungen einer Naturalisierung von Gesellschaft - und Subjektivität - zu eröffnen vermag. So betonen etwa Uwe H. Bittlingmayer und Ullrich Bauer zwar prinzipiell die Notwendigkeit einer sozialpsychologischen Perspektive, sie sehen diesen aber mit Blick auf die Bausteine Kritischer Theorie viel eher in der konstruktivistischen, anti-essentialistischen oder anti-naturalistischen Variante. Sie plädieren darum im Anschluss an Marcuse für eine praxeologische Positionierung, wie sie vor allem von Pierre Bourdieu stark gemacht wurde. Fabian Kessl und Holger Ziegler sind noch etwas skeptischer, was die Aktualisierung des analytischen Potenzials von Marcuses Triebstruktur und Gesellschaft angeht. Ihre Zweifel beziehen sich vor allem auf die von Marcuse unterstellte Akteursfigur, weshalb sie eher die Rekonstruktion der politischen Regulations- und Rationalitätsmuster des Begehrens vorschlagen. Mit dieser Deutung zeigt sich wiederum Michael May nicht einverstanden, was er entlang einer ausführlichen Rekonstruktion von Marcuses Perspektive verdeutlicht. In seiner kritischen Auseinandersetzung schlägt er daher deren Weiterführung in einer von ihm an anderer Stelle bereits ausführlich ausgearbeiteten Theorie der Selbstregulierung vor. Lars Heinemann nimmt das von Marcuse konzipierte Verhältnis von gesellschaftlicher Totalität und subjektiver Individualität in den Blick und fordert den in dieser Problemstellung angelegten Impetus kritischer Theorie aufzugreifen und neu zu fundieren. Micha Brumlik greift schließlich auf die, Marcuses Studie zugrunde liegende, Freudsche Triebtheorie selbst zurück. Diese habe Freud bekanntlich als Reaktion auf seine eigenen Erfahrungen hinsichtlich des bereitwilligen Massentötens und -sterbens junger Männer in den ersten Jahren des ersten Weltkriegs entwickelt. Frage man sich im Anschluss daran, wie im Laufe von Entwicklung somatische Reize zu Trieben geformt werden, eröffne sich ein luzider Erklärungszusammenhang auf das aktuelle Phänomen von Selbstmordattentaten, so argumentiert Brumlik.
Literatur
DGS 2006: Themenpapier: Die Natur der Gesellschaft. In: Hauptprogramm. Die Natur der Gesellschaft. 33. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. 9.-13. Oktober 2006. Kassel.