Schulden - Leben auf Raten

Editorial

"Im Kapitalismus ist eine Religion zu erblicken" (Benjamin 1921/1991: 1000), so schreibt Walter Benjamin in seinem nie fertig gestellten fragmentarischen Text "Kapitalismus als Religion". Reiner Kult und permanente Dauer des Kultes sind ihm zufolge zwei wesentliche Merkmale der kapitalistischen Religion, gefolgt von einem dritten: der Verschuldung.

"Der Kapitalismus ist vermutlich der erste Fall eines nicht entsühnenden, sondern verschuldenden Kultus. Hierin steht dieses Religionssystem im Sturz einer ungeheuren Bewegung. Ein ungeheures Schulbewusstsein das sich nicht zu entsühnen weiß, greift zum Kultus, um in ihm diese Schuld nicht zu sühnen, sondern universal zu machen ..." (ebd.: 100).

Schulden und Verschuldung, dies lässt sich aus den Gedanken Benjamins herauslesen, spielen für die bürgerlich-kapitalistische Produktions- und Vergesellschaftungsweise eine entscheidende Rolle. Besonders deutlich wurde dies in der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise, in deren Zentrum letztlich (geplatzte) Immobilienkredite und damit verbundene Spekulationen standen. Auch die Besorgnis und Reaktionen der politischen Akteur_innen galten der Sicherung der Möglichkeit von Verschuldung - allerdings nur für die globale Ökonomie: Viele Staaten übernahmen Verantwortung für die Krise des Finanzsektors, indem sie in jenem Moment begannen, für "systemrelevante" Banken zu bürgen, in welchem Banken sich wechselseitig - und damit auch anderen Wirtschaftsbetrieben - keine Kredite mehr vergaben. Auch wenn sich in dem Argument, es könne infolge dieser Kreditvergabeblockade zu einem ökonomischem Kollaps kommen, der Einfluss einer mächtigen Bankenlobby auf Regierungen widerspiegelt, so verdeutlichen die Vorgänge vor allem, dass eine kapitalistische Form des Wirtschaftens ohne Schulden letztlich unmöglich ist (vgl. Altvater in diesem Heft).

Demgegenüber wurde die Finanz- und Wirtschaftskrise genutzt, um die Staaten selbst unter einen immensen Spardruck zu setzen. Schulden spielen auch in der Politik eine große Rolle und sie spielen - als eine alternative Einnahmequelle zu Steuern - eine besondere Rolle zur Bildung von Staatshaushalten. Dabei lässt sich im Zeitverlauf ein bemerkenswerter Wandel im Umgang mit Schulden in der staatlichen Politik feststellen. Aus der Perspektive einer fordistisch-keynesianischen Politik galt staatliches "Schulden-Machen" als ein weitgehend unumstrittenes Instrument der Konjunktur und Sozialpolitik, sowohl als ein bewährtes Mittel antizyklischen Eingreifens wie auch als Weg zur Finanzierung sozialpolitischer Programme, jedoch ohne tatsächlich gesellschaftlichen Reichtum anzutasten. Im Gegenteil schaffte man diesem Anlage- und damit Wachstumsmöglichkeiten. Im Kontext neoliberaler Globalisierung hingegen wird eine hohe Staatsverschuldung als Bedrohung für Wirtschaft und Geldwertstabilität eingestuft. "Sparen" lautet nun das Credo. Traf dies seit den 1980er Jahren über die Programme der "strukturellen Anpassung" von IWF und Weltbank vor allem die Länder des globalen Südens, kann sich das neoliberale Spardiktat gegen öffentliche Haushalte seit der globalen Finanzkrise auch in Form von "Schuldenbremsen" in den westlichen Industrienationen Geltung verschaffen; in vielen Ländern wird diesem mittlerweile Verfassungsrang zugesprochen. Mit besonderer Härte stehen die sogenannten "Schuldenstaaten" unter Druck. Der zur unbedingten Notwendigkeit erklärte Schuldenabbau der öffentlichen Haushalte wird somit auch zu einem zentralen Hebel in der Implementierung "wettbewerbsstaatlicher" (vgl. Hirsch 2005) Strukturen und damit auch zur Transformation, d.h. im Ab- und Umbau wohlfahrtstaatlicher Institutionen und Programme. Diese Kürzungspolitiken haben reale Auswirkungen auf den Alltag der sozialen Akteur_innen durch den Abbau von Infrastruktur, die (Re)Kommodifizierung von ehemals öffentlichen Gütern und die zunehmende Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen.

Sich-Verschulden ist längst zu einer regulären Form des Wirtschaftens von privaten Haushalten geworden. Seinen Anfang nahm diese Entwicklung mit der Einführung und Ausweitung des Konsumentenkredits im Fordismus, der den Absatz der langlebigen und in Masse produzierten Gebrauchs- und Konsumgüter sowie deren Etablierung als feste Bestandteile der alltäglichen Reproduktion erst ermöglichte (vgl. Reis 1992; Ebli in diesem Heft). Ob Haushaltsgeräte, Mobilität, Erreichbarkeit, Wohnen oder Freizeit: Um an diesen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens zu partizipieren, spielten Schulden und Kredite für viele bereits eine wichtige Rolle. Mit der Ökonomisierung der Bildungs-, Gesundheits- und Altersvorsorgesektoren (und dem Zurücknehmen staatlicher Ausgaben in diesen Bereichen der sozialen Infrastruktur) wurde in den letzten Jahrzehnten zunehmend Geld der Privathaushalte etwa über Bildungskredite, private Lebens- und Rentenversicherungen etc. in den Finanzsektor umgeleitet. Die Folge bedeutet nicht nur eine tatsächliche Umverteilung bei stagnierender Lohnentwicklung, sondern auch eine zunehmend notwendige Verschuldung für weite Teile der Bevölkerung als Bedingung zur Teilnahme an Gesellschaft. Am Beispiel der Suprime-Krise in den USA wurde deutlich, dass diese Ausweitung der Verschuldung von Privathaushalten aktiv begünstigt wurde. Durch die strategische Öffnung der Kreditvergabepolitiken für Kreditnehmer_innen mit schwacher Bonität wurde versucht, der Schwächung der Nachfrage in Folge von Einkommensstagnation und Prekarisierung der Beschäftigungsverhältnisse zu begegnen. Die Folgen dieses krisenanfälligen Arrangements hatten und haben die privaten Haushalte zu tragen: So ist beispielsweise die Zunahme der Wohnungslosigkeit aufgrund von Zwangsräumungen in der Zwischenzeit auch in Europa angekommen; Griechenland ist hierfür ein aktuelles und dramatisches Beispiel.

Doch diese Entwicklungen werden von den sozialen Akteur_innen nicht nur ertragen. Gerade in der Zuspitzung der Finanz- und Wirtschaftskrise formierten sich die Widerstände auch öffentlichkeitswirksam: Die Bewegung Occupy Wall Street (bei der viele Aktivist_innen über Bildungskredite verschuldete junge Akademiker_innen waren) wie auch die großen Proteste in Griechenland und Madrid machen sichtbar, dass die sozialen Akteur_innen nicht mehr und nicht um jeden Preis bereit sind, die Kürzungen in ihrem Alltag hinzunehmen. Schulden stellen somit nicht nur ein Mittel dar, um soziale Herrschaftsverhältnisse zu initiieren und zu legitimieren. Die Forderung nach einem generellen Schuldenerlass ist historisch nicht selten Anlass oder Begleiterscheinung sozialer bzw. politischer Proteste und Erhebungen (vgl. u.a. Graeber 2012; Foltin in diesem Heft).

Keinen Zugang zu Verschuldung zu haben, ist unter den gegebenen Bedingungen folgenreich und ein Moment sozialer Ausschließung. Schulden sind - ebenso wie Einkommen und Vermögen - gesellschaftlich sehr ungleich verteilt und im Kontext der allgemeinen Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums zu betrachten. Der zunehmend ungleichen und geballten Konzentration von Vermögenswerten - die man gerade im Kontext des letzten Armuts- und Reichtumsberichtes gerne offiziell nicht wahrnehmen wollte - lässt sich auch eine nicht unbeträchtliche Zahl von Haushalten mit einer "negativen Vermögensbilanz" gegenüberstellen (vgl. u.a. Grabka/Westermeier 2014). Gleichzeitig ist das sich zu Verschulden für unterschiedliche Personengruppen unterschiedlich leicht und teuer und gerade für soziale Akteur_innen mit wenigen Ressourcen mitunter unerschwinglich und führt zum daeurhaften Ausschluss auf dem Kreditmarkt. Auch auf diesem Markt gilt. "The poor pay more" (Caplovitz 1967).

Der Terminus der "Schulden" weist im Deutschen eine Nähe zu dem der "Schuld" auf (vgl. hierzu auch Segbers in diesem Heft). Dies sensibilisiert für die Verbindung von moralischen mit materiellen Dimensionen in Bezug auf Schulden: Auch wenn diese einen festen Bestandteil bürgerlich-kapitalistischer Lebensweise darstellen, so besitzen sie doch im Licht hegemonialer Moralvorstellungen eine "dämonische Zweideutigkeit" (Benjamin). Wer Schulden macht, erhält eine Leistung, ohne diese bereits erarbeitet zu haben, er steht somit in jemandes "Schuld" bzw. nimmt eine "Schuld" auf sich, die er abgelten muss, um von ihr befreit zu sein. Problematisch wird dies erst im Problemfall, das heißt wenn aus Verschuldung Überschuldung wird. Diskursiv werden diese Situationen umgeben von Vorwürfen, dass da jemand "über die eigenen Verhältnisse gelebt" habe. Der moralische Grundsatz: "Schulden müssen bedient werden!", scheint alternativlos - unabhängig von individuellen wie gesellschaftlichen Veränderungen. Es hat insofern durchaus etwas "Blasphemisches", dieser Logik nicht zu entsprechen, d.h. Schulden nicht bedienen zu können oder zu wollen. Historisch zeugen Institutionen wie die (antike und moderne) Sklaverei und (antike wie moderne) "Schuldtürme" davon, wie Verstöße gegen diesen Grundsatz gesellschaftlich sanktioniert werden.

Schulden sind auch ein Thema Sozialer Arbeit, bringen sie doch regelmäßig existentielle Notsituationen hervor oder entstehen in Folge von anderen schwierigen Lebenslagen. Soziale Arbeit hat sich mit dem spezifischen Form der Schuldnerberatung in der Auseinandersetzung um die gesellschaftliche Zuständigkeit für das soziale Problem "Überschuldung" gegenüber anderen Akteurs- bzw. Berufsgruppen durchgesetzt (vgl. Ebli 2003 sowie in diesem Heft). Damit existiert zwar einerseits ein potentiell hilfreiches Angebot für Menschen in ökonomisch schwierigen Lebenssituationen, das selbst als Ressource in Gebrauch genommen werden kann oder Zugang zu anderen Ressourcen eröffnet, z.B. in der Kommunikation mit Gläubigern und der Durchsetzung von Pfändungsschutzrechten sowie der Eröffnung des Weges in die Verbraucherinsolvenz. Andererseits verbinden sich mit der Zuständigkeit Sozialer Arbeit auch Prozesse einer Entpolitisierung, Personalisierung und Pädagogisierung, indem die Gründe der Entstehung von Überschuldung auch in einem "falschen" Konsumverhalten bzw. fehlenden "Haushaltskompetenzen" verortet werden und soziale Akteur_innen durch Soziale Arbeit zur "richtigen" Haushaltsführung unter den Bedingungen knapper Ressourcen erzogen werden sollen. Strukturelle Gründe wie die Normalisierung von Verschuldung bis hin zum Zwang zur Schuldenaufnahme für Privathaushalte, um die Folgen der Kürzungspolitiken zu kompensieren, verschwinden dagegen aus dem Blickfeld. Doch auch Schuldnerberatung gerät im Zuge wohlfahrtsstaatlicher Transformation durch die Ökonomisierung Sozialer Arbeit unter Druck: Sie mag zwar einerseits ein "Wachstumsmarkt" sein, andererseits wirkt sich die (seit ihrem Beginn) ungesicherte Finanzierung ebenso auf die Arbeitsbedingungen der Schuldnerberater_innen aus: Die hohe Nachfrage bedeutet für die Ratsuchenden lange Wartezeiten und für die Berater_innen Fließbandarbeit. Unter solchen Bedingungen werden die fachlichen Reflexionsräume für die Schuldnerberater_innen immer enger; die Frage nach der Qualität der Arbeit kann so oftmals nur noch gestellt werden, um Effektivität wie Effizienz zu "belegen".

Das Themenheft der Widersprüche möchte sich mit dem Thema der gesellschaftlichen Bedeutung von Schulden auseinandersetzen und dessen unterschiedliche Facetten entlang der aufgeführten ökonomischen, politischen, moralischen Dimensionen kritisch ausleuchten und dabei insbesondere auch dessen Bedeutung für Sozialpolitik und Soziale Arbeit herausstellen.

Schulden, Verschuldung, Überschuldung wurden auch in früheren Heften der Widersprüche aus unterschiedlichen Perspektiven thematisiert. Die Diskussion um die mit staatlicher Haushaltspolitik verbundene Aufnahme von Schulden und die Infragestellung ihrer politischen Legitimität kann in Texten zur sozialstaatlichen Entwicklung entdeckt werden. Beispielhafte Beiträge sind hier Heinz-Jürgen Dahme, Norbert Wohlfahrt: "Europäische Staatsschuldenkrise und soziale Dienste. Zur Durchsetzung neuer Rentabilitäts- und Akkumulationsbedingungen im Sozialsektor" in Heft 128. Dass Staatsverschuldung schon im Rahmen der "Agenda 201-Politik" ein wirksamer Argumentationsstrang war, zeigt Christoph Butterwegge in Heft 75 mit seinem Text "Zur neoliberalen Modernisierung oder Neoliberalismus in Rot Grün? Eine kritische Zwischenbilanz der Wirtschafts- und Sozialpolitik des Kabinetts Schröder".

Die Schlussfolgerung und die Aufforderung, mit dem staatlichen Schulden-machen Schluss zu machen, führte nicht erst in Zeiten von Deregulierungskommissionen zu Veränderungen von Eigentumsverhältnissen mit inzwischen gut dokumentierten Nebenwirkungen. Darauf wies schon in Heft 60 Christoph Strünck in seinem Beitrag "Leuchttürme oder Irrlichter? Privatisierung und Deregulierung strahlen auf die kommunale Sozialpolitik ab" hin.

Dass den Schulden ein Reichtum an Vermögen gegenübersteht und es tatsächlich Verteilungsspielräume gibt, belegte in Heft 54 Andrea Weinert mit "Wer hat, der hat... Reichtum in Deutschland". Wer nachlesen will, wie 1985 Überschuldung und Armut betrachtet wurden, findet Auskunft bei der Fachgruppe Armut und Unterversorgung und ihrem Text "Arbeitslosigkeit, Ausgrenzung und Armut in der Bundesrepublik Deutschland" in Heft 14.

Wie im öffentlichen Diskurs über die sozialstaatliche Entwicklung Schulden als Argument zum Beleg seiner Krise benutzt werden und welche medialen Konstruktionen dabei wirken, darüber schrieben Thomas von Freyberg in Heft 66: "Die inszenierte Krise des Sozialstaats Ein Angriff auf den demokratischen Prozeß" und Ursula Kreft in Heft 64 im Beitrag "Nachrichten vom Brand im Schlaraffenland. Wie der Sozialstaat in den Medien zum Problemfall wird".

Wer Akteure in solchen Schulden thematisierenden Interessenskämpfen um Wege aus der Krise sind, analysieren Stephan Lessenich in "Das Elend der Mittelschichten. Die "Mitte" als Chiffre gesellschaftlicher Transformation" in Heft 111 und Michael Vester mit "Die Wirtschaftskrise und die Chancen eines gesellschaftlichen Pfadwechsels" in Heft 122.

An die Tradition der Widersprüche, aus der Perspektive der handelnden Subjekte in den Untergeschossen der Gesellschaft Konflikte zu betrachten und ihr "Leben auf Raten" zu verstehen, wurde in früheren Heften beispielhaft von Gabriele Winker mit "Fragile Familienkonstruktionen in der gesellschaftlichen Mitte. Zum Wandel der Reproduktionsarbeit und den politischen Konsequenzen" in Heft 111und von Helga Cremer-Schäfer im Beitrag "Not macht erfinderisch. Zu der Schwierigkeit aus der Moral der alltäglichen Kämpfe um Teilhabe etwas über die Umrisse einer Politik des Sozialen zu lernen" in Heft 99 angeknüpft. Wer die von Franz Segbers in diesem Heft aufgeworfenen Fragen nach Schulden und Schuld mit sozialethischen Reflexionen zum Geben und Nehmen, das ja zu Verschuldung dazugehört, weiter verfolgen will, dem/der sei der Text von Hans-Jürgen Benedict: "Gottes Ökonomie der Gaben" in Heft 99 empfohlen.

Dass wie in diesem Heft auch ganz "praktische" Fragen der Überschuldung angesprochen wurden, zeigt der Beitrag "Pfändungsfreigrenzen auch weiterhin unter dem Sozialhilfesatz Das Überschuldungsrisiko steigt" in Heft 51.

Zu den Beiträgen im Einzelnen

Elmar Altvater stellt in seinem einleitenden Beitrag die Relevanz von Schulden im und für den Kapitalismus heraus. Er beschreibt ihre ökonomische Funktion als Kehrseite der Vermögen und analysiert die Veränderungen der Regulation der Finanzmärkte in der jüngeren Geschichte des globalen Kapitalismus. In seiner Bezugnahme auf Griechenland kann er deutlich machen, wie über Schulden auf staatliche Politiken Einfluss ausgeübt wird: Europäische Politik wird so sichtbar als Wirtschaftspolitik, nicht etwa als Sozialpolitik.

Dass diese zur Absicherung auch auf Moral als Macht-und Herrschaftsinstrument zurückgreift, zeigt Franz Segbers aus sozialethischer Perspektive auf. Die Frage der "Schuld an den Schulden" bildet hierbei seinen Ausgangspunkt, von dem ausgehend er ökonomische und moralische Aspekte von Verschuldung miteinander verbindet. Er endet mit einem Plädoyer, die Verantwortung für die Schulden an die zurückzugeben, die davon profitiert haben. Versteht man den Umgang mit Schulden wie Segbers nicht als alternativlos gegeben, wird die Forderung nach einem Schuldenerlass verstehbar als Kampf der sozialen Akteur_innen um die von ihnen erarbeiteten gesellschaftlichen Ressourcen.

Und hierauf nimmt auch der dritte Beitrag Bezug: Robert Foltin widmet sich hier ausführlich den Grundthesen, die David Graeber in dem inzwischen mehrfach aufgelegten Band "Schulden. Die ersten 5000 Jahre" entfaltet. Foltins Interesse gilt hierbei weniger den anthropologischen Argumentationen, sondern besonders Graebers These zu den moralischen Grundlagen von wirtschaftlichen Beziehungen. Den bereits mehrfach geäußerten Vorwurf, dass Graeber marxistische Analysekategorien vernachlässige, greift Foltin auf, um detailliert die Differenzen der beiden Perspektiven deutlich zu machen. Aus seiner postoperaistischen Perspektive stellt der Autor sodann die Verbindung zur aktuellen Krise des Kapitalismus her und verweist auf das darin aufscheinende Potential der emanzipatorischen Veränderung durch soziale Kämpfe. An dieser Stelle trifft er sich sodann auch wieder mit David Graeber, auch wenn er dessen Perspektive eines Kommunismus im Alltag auf ihre Blindstellen hinterfragt.

Dem Thema der Schulden wendet sich Hans Ebli in seinem Beitrag aus der Perspektive der Sozialen Arbeit zu. Über die Analyse des Institutionalisierungsprozesses des Arbeitsfelds Schuldnerberatung unterzieht er Soziale Arbeit selbst einer kritischen Reflexion. Für Situationen der Überschuldung, die im Zuge der kapitalistischen Transformation mit hervorgebracht werden, entwickelte Soziale Arbeit in der Schuldnerberatung eine spezifische personalisierende Deutung, so Eblis These, von der ausgehend sie eine pädagogisierende und entpolitisierende Problembearbeitung vorschlug. Der Beitrag zeigt auf, dass die Etablierung des Arbeitsfelds genau über diese Deutungsmuster gelang.

Komplementär dazu widmet sich der Beitrag von Kerstin Herzog der Perspektive von Menschen in schwierigen finanziellen Situationen. Ausgehend vom Alltag beschäftigt sich Herzog mit der Frage, wie soziale Akteur_innen ihre Schulden-Situationen bearbeiten und beleuchtet unterschiedliche Strategien, derer sich die Akteur_innen bedienen. Daran schließt sie die Frage nach Schuldnerberatung an: Ist Schuldnerberatung aus Sicht der sozialen Akteur_innen ein hilfreiches Angebot in solch schwierigen Situationen und welche Arbeit müssen diese investieren, um sich Schuldnerberatung nutzbar zu machen.

Auch Andreas Rein stellt in seinem Aufsatz die Frage nach hilfreichen Unterstützungsangeboten in schwierigen finanziellen Situationen. Aus juristischer Perspektive fragt er nach dem Zugang zum bargeldlosen Zahlungsverkehr und konkretisiert dies am Recht auf ein Girokonto. Auch hier zeigt sich die Macht der Banken, indem sie den Zugang zu dieser relevanten Ressource des Wirtschaftens von Privatpersonen blockieren können. Interessanterweise hinkt die deutsche Rechtsprechung beim "Recht auf ein Girokonto" den europäischen Richtlinien hinterher. In seinem Fazit kommt der Autor allerdings zu der Einschätzung, dass durch die Implementierung des europäischen Standards zwar bereits einiges gewonnen wäre, das Thema der Kontolosigkeit jedoch nicht automatisch beendet wäre.

Stephan Nagel stellt in seinem Beitrag dar, dass trotz gesetzlicher Regelungen zur Vermeidung von Mietschulden diese nach wie vor eine wesentliche Ursache für Wohnungslosigkeit sind. Diese Feststellung gilt nicht nur für Mietschulden, sondern auch bei Strom- und Energieschulden. Der Text liefert Hinweise auf den quantitativen Umfang und die qualitative Dimension dieser Bedrohung für die Sicherung der Wohnung und die gesamte Lebenssituation. Stephan Nagel identifiziert negative Etikettierungen (z.B, Schufa-Auskünfte) als für Vermieter finanziell riskante Individuen oder Haushalte als schwer überwindbare Barrieren auf dem Wohnungsmarkt. Öffentliche Unterbringung von Wohnungslosen wird als moderne Variante des Schuldturms beschrieben und verweist auf Fehler der sozialpolitischen Regulation und die Ignoranz gegenüber Handlungsmöglichkeiten sozialer Arbeit. Als politisch besonders wichtig wird die Rolle kommunaler Wohnungsbestände hervorgehoben.

Unter den Forumsbeiträgen findet sich der zweite Teil des in Heft 135 begonnenen übersetzten Textes von Bill Hughes, der sich inhaltlich mit der Frage beschäftigt, welche Antworten gesellschaftlich auf Behinderung gefunden wurden und werden. Als Strategien des Umgangs damit in der Moderne analysiert der Autor Eliminierung, Verbannung und Korrektur, die sich über die Bezugnahme auf den "normalen" Körper als Maßstab konstituieren.

Simeon Arciprete stellt in seinem Beitrag Überlegungen zum Subjektbegriff in der Sozialen Arbeit an und diskutiert diesen in Hinblick auf dessen Anschlüsse für das in der kritischen Psychologie genutzte Konzept der Handlungsfähigkeit. Handlungsfähigkeit versteht der Autor dabei als "analytisch-politischen Begriff" mit einer immanenten herrschaftskritischen Normativität und kommt so zu der Frage nach den Bedingungen von Handlungsfähigkeit für die Subjekte in Gesellschaft wie im Kontakt mit Sozialer Arbeit.

Literatur

Benjamin, Walter 1921/1991: Kapitalismus als Religion . In ders.: Gesammelte Schriften, Band VI, Frankfurt am Main, 100-103

Caplovitz, David 1967: The poor pay more. Consumer practices of low-income families. New York, London

Ebli, H. 2003: Pädagogisierung, Entpolitisierung und Verwaltung eines gesellschaftlichen Problems? Zur Institutionalisierung des Arbeitsfeldes "Schuldnerberatung". Baden-Baden

Grabka, M. M.; Westermeier, Chr. 2014: Anhaltend hohe Vermögensungleichheit in Deutschland. In: DIW Wochenbericht (9), 151-164

Graeber, David 2012: Schulden. Die ersten 5000 Jahre. Stuttgart

Hirsch, Joachim 2005: Materialistische Staatstheorie. Transformationsprozesse des kapitalistischen Staatensystems. Hamburg

Reis, Claus 1992: Konsum, Kredit und Überschuldung. Zur Ökonomie und Soziologie des Konsumentenkredits. Frankfurt/Main

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