Safety first? Smile you're on camera

Editorial

1987 schrieb Jonathan Simon, dass die Herstellung von Sicherheit einen immer größeren gesellschaftlichen Stellenwert einnehmen werde. Er meinte damit freilich nicht die staatliche Garantie einer sozialen Absicherung für Bürger und Bürgerinnen, die in finanzielle Not geraten sind. Vielmehr sprach er von einer Sicherheit nicht für, sondern gegen problematische Personengruppen, welche diese zudem in besonderer Weise benachteiligt. Immer deutlicher, so Simon damals, zeichneten sich die Konturen einer access-society ab, einer Zugangsgesellschaft, die den einzelnen Menschen nur dann Zugang zu ihren jeweiligen Subsystemen gewähre, wenn deren Risikoprofil nicht das Gegenteil nahe lege. In diesem Sinne werde in der Zugangsgesellschaft nicht mehr moralisch argumentiert, sondern mittels Abgleichung des individuellen Risikokombinatoriums würden lediglich vorhandene Gefährlichkeiten und Unsicherheiten festgelegt, die ggf. gegen die Gewährung des Zugangs sprächen. Aus diesen Überlegungen zur access-society entwickelte Jonathan Simon Anfang der neunziger Jahre zusammen mit seinem Kollegen Malcolm Feeley den Begriff der actuarial justice. Dieser neuen "versicherungsmathematischen" Kontrolllogik, so die beiden Autoren dann 1994, gehe es nicht mehr um die Erkundung von Schuld oder das Verhängen gerechter Strafen. Vielmehr ständen Techniken des Identifizierens, Klassifizierens und Managens von Gruppen nach dem Grad ihrer jeweiligen Gefährlichkeit im Vordergrund. Dementsprechend sei es auch nicht mehr das Ziel, das Wollen der Individuen einer universellen Moral anzugleichen, sondern die von Ihnen ausgehenden Risiken präventiv zu (er)kennen und dadurch zu vermeiden und/oder zu lenken. Dieses instrumentelle Ziel kann z.B. erreicht werden durch

  • die architektonische oder bauliche Veränderung des jeweiligen Ortes, Raumes oder Systems;
  • Kontrollen, die verhindern, dass Personen(gruppen) mit bestimmten Risikofaktoren bestimmte Räume betreten bzw. ein bestimmtes System nutzen können;
  • die Konzentrierung bestimmter riskanter Verhaltensweisen an bestimmten Orten (z.B. in Bordellen, Fixerräumen, Raucherecken).

Der Mensch gerät nicht mehr als schuldbeladener Sünder oder zu bessernder Devianter ins Visier der Kontrolle, sondern er wird - Max Wambach analysierte es schon 1983 - immer öfter vor allem als Risiko wahrgenommen. Er wird behandelt, verwaltet, geleitet und kontrolliert, und zwar ausschließlich verhaltensorientiert. Die Tiefen oder gar die Abgründe seiner Seele scheinen ohne Bedeutung zu sein: Eine kalte, entpersönlichte Kontrolle, die von ihrer Berechtigung überzeugt ist, weil sie die Risiken bloß managed: Safety first - Sicherheit geht vor.

Zu den Beiträgen im Einzelnen

Aber ist die skizzierte Entwicklung einer vorrangig risikoorientierten Kontrolle wirklich so eindeutig? Handelt es sich um ein Entweder-Oder von Risiko und Moral? Tilman Lutz und Katja Thane jedenfalls kritisieren dieses (innerhalb des Sicherheitsdiskurses häufig behauptete) Auseinandertreten der Konzepte "Risiko" und "Moral". Denn Schuld, Verantwortung und Verpflichtung, so die AutorInnen, verschwinden unter der Herrschaft des Risikos keineswegs: Weiterhin wird Kriminalität als antisozial betrachtet, weiterhin sollen die Schuldigen zur Rechenschaft gezogen werden. An den Beispielen Drogenpolitik und Restorative Justice machen Lutz und Thane deutlich, dass neben der rationalen risikoorientierten Kontrolle eine hochmoralische neokonservative Strömung zu erkennen ist, "die sich vor allem in der Popularisierung harter Strafen und in konsequentem Vorgehen gegen Kriminelle und Randgruppen äußert und von Politikern jeglicher Couleur vertreten wird." Risikoorientierte und moralische Begründungsstrategien müssten daher als sich synergetisch ergänzend betrachtet werden und führten gerade deshalb zu einer Verschärfung von Kontrolle und Repression.

Dieses komplementäre Verhältnis von "Risiko" und "Moral" bildet den Hintergrund für die Frage, mit der Jan Wehrheim seinen Beitrag beginnt: Warum sieht der ehemalige Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Hans-Olaf Henkel, die Armen nicht? Henkel soll gesagt haben: "Gehen Sie doch mal auf die Straße und suchen Sie sie, die Armen, ich finde sie nicht." Wirkt da ein Trick, der die Armen unsichtbar werden lässt? Keineswegs, argumentiert Wehrheim, sondern dieser Vorgang lässt sich genau beschreiben und liegt offen zutage. Dabei geht es ihm um den Raum als Ort sozialer Ausgrenzung, und zwar zunächst unter dem Gesichtspunkt der "residentiellen Segregation": Freiwillige oder unfreiwillige räumliche Ab-Trennung von sozialen Gruppen kann einerseits bedeuten, dass sich die Wohlhabenderen separierte Wohnquartiere in den Städten suchen, denn für diese scheint ja, wie Bourdieu bemerkte, nichts unerträglicher zu sein "als die als Promiskuität empfundene physische Nähe sozial fernstehender Personen". Eine solche Ab-Trennung hat für die Armen allerdings einen doppelten Effekt: Erstens verstärkt der schlechte Ruf ihrer Quartiere ihre Benachteiligungen auf dem Arbeitsmarkt, und zweitens fehlt ihnen hier das erforderliche soziale Kapital, das ihnen den Ausbruch aus ihrer unterprivilegierten Lage ermöglichen könnte. Überdies wird die Beschränkung der Armen auf eingegrenzte Rest-Orte zugleich mit Zugangsbeschränkungen zu anderen Orten gekoppelt: "Ausschluss aus Raum bedeutet nicht nur, eingeschränkte Wahlmöglichkeiten auf dem Wohnungsmarkt zu haben, sondern zudem aus innerstädtischen Orten wie Parks, Einkaufszentren, Bahnhöfen und Fußgängerzonen exkludiert zu werden." Anhand der Beispiele Shopping Malls und Gated Communities konkretisiert Wehrheim diese Entwicklungen, deren Resultat eine Armut ist, die nicht mehr wahrgenommen wird und der entsprechend auch nicht begegnet werden muss - sehr praktisch für Herrn Henkel.

Ulrich Bröckling formuliert sodann 16 Thesen zur "Macht der Vorbeugung". Diese Thesen können zugleich als 16 gute Gründe für die Plausibilität und Ausdehnung von Prävention gelesen werden. Da es nichts gebe, "was nicht als Bedrohung wahrgenommen oder zur Bedrohung deklariert werden könnte", bestehe zugleich die Möglichkeit, alles zur Zielscheibe präventiver Anstrengungen zu machen. Aufgrund dieser (unbestimmten, auch begrifflichen) Offenheit biete sich Prävention für praktisch jede Lebenslage an. Und warum auch nicht? Schließlich ist Vorbeugen zweifellos besser als Heilen. Oder doch nicht? Man kann diese Frage nicht entscheiden. Aber man kann, und genau das tut Ulrich Bröckling, die Aspekte und Implikationen verschiedener Präventionslogiken zu benennen suchen und sie analytisch zu einer präventionistischen Rationalität verdichten, einer Rationalität, die immer größere Teile des Sozialen und seiner Nischen zu erobern scheint. Die Sicherheit, die Prävention dabei verspricht, hat freilich ihren Preis: Denn einerseits wird die Prävention selbst zunehmend zur Sache der Individuen, die gehalten sind, sich selbst ökonomisch zu regieren. Der "aktivierende Staat", der seine Bürger und Bürgerinnen von der fürsorglichen Belagerung befreit, entlässt sie zugleich in die Freiheit der Selbstsorge, die ihnen auferlegt, ihre Lebensrisiken eigenverantwortlich zu managen. Andererseits ist die präventive Logik expansiv ("wer vorbeugen will, weiß nie genug") und kann leicht totalitäre Züge annehmen.

An diesem Punkt setzt die Frage von Susanne Krasmann an: Ist die Vision totaler Überwachung und Durchleuchtung durch einen Staat, der alles sieht und alles weiß, nicht zu "herrschaftsförmig" und zu "machtlos" zugleich gedacht? Ihre Antwort geht davon aus, dass die Überwachungsmacht nicht in der Kontrolle eines - staatlichen - Monopols liegt: "Der ursprünglich als zentrale Staatsveranstaltung gedachte 'Big Brother' hat sich zellgeteilt und ist in die Gesellschaft zurückgekehrt. Statt wie im Benthamschen Panopticon zentrisch angeordnet, organisiert sich Sozialkontrolle und Überwachungsmacht heute auf mehreren Ebenen über viele größere und kleinere Netzknoten, die teils staatlich, teils besitz- und eigentumsnützlich und hie und da auch privatbürgerlich verfasst sind", zitiert sie zustimmend Nogala (2000). Das ist das Kennzeichen von "Governance". "Governance" ist im Unterschied zu "Government", also einer zentralistisch und hierarchisch agierenden staatlichen Herrschaft, nicht darauf angelegt, die Staatsbürger, Konsumenten, Verkäufer und Anbieter durch einen zentralen Anderen (den Staat) potenziell zu überwachen. Vielmehr soll "Governance" die Menschen zur Selbstkontrolle bewegen. Krasmann verdeutlicht ihre These am Beispiel der Videoüberwachung, die als Chiffre neoliberaler Kontrollgesellschaften im Modus von "Governance" zu lesen sei. Videoüberwachung sei paradigmatisch für neoliberale oder avanciert liberale Formen der "Subjektivierung", wobei hier mit Subjektivierung gemeint ist, dass die Kamera gleichsam eine Moral der Form vermittelt, die zukunfts- und verantwortungsorientiert ist: Es gilt, die Konsequenzen des eigenen Handelns im Blick zu haben, sich im Angesicht der Kamera fortwährend selbst zu kontrollieren. Die Subjektivierung wird daher angeleitet durch das Wissen um eine mögliche Kontrolle, die zu einer Antizipation der Normen führt, eine Antizipation, die das Individuum selbst vornimmt. Die Überwachung führt zu einer kontinuierlichen Selbstkontrolle der eigenen Lebensführung. Und das ist eben etwas anderes als Selbstdisziplinierung und Sozialisierung in ein normativ verwachsenes Regime. "Smile, you're on camera", bedeutet: Selbst auf der Straße sollen wir uns noch als lächelnde Selbst-Unternehmer bewegen. Die Pointe besteht darin, dass diese Kontrolltechnik zwar subjektiviert, aber keine Subjekte erzeugt, die solidarisch denken und handeln und daraus Parolen des Widerstands ableiten.

Dass Widerstand gegen die neuen Kontroll- und Subjektivierungsformen gleichwohl existiert, belegt der Beitrag von Joachim Häfele und Olaf Sobczak. Die beiden Autoren liefern zunächst eine detaillierte Beschreibung der Kontrollformen in und um den Hamburger Hauptbahnhof. Dabei zeigen sie auf, wie dieser Ort durch die ineinandergreifenden Interessen der Deutschen Bahn AG, der beteiligten Dienstleistungsbetriebe und der Geschäftsinhaber sowie der verschiedenen staatlichen und privaten Sicherheitsdienste zu einem "Zukunftsmodell urbaner Raumkontrolle" wird. Im zweiten Teil ihres Beitrags bieten die Autoren dann einen Einblick in Widerstandsformen und -aktionen, die von unterschiedlichsten Gruppen in den Hamburger Hauptbahnhof getragen wurden. Diese Aktionen, so die Autoren, sind zwar stets auch kritisch zu befragen (etwa darauf, ob sie die Marginalisierten als Objekte privater und staatlicher Ausschließung ständig mitproduzieren). Sie sind zugleich aber ein Beleg dafür, dass Subjekte auch weiterhin in der Lage sind, aus Kontrolltechniken Parolen und Praxen des Widerstands abzuleiten.

Neben den Beiträgen zum Schwerpunkt enthält das Heft unter anderem einen Beitrag von Stephen J. Ball zum Terror der Performativität, welcher unsere an das Heft 83 anschließende Reihe Weitergeführt: Zum Thema Globalisierung und Bildung abschließt.

Die Redaktion

Literatur

  • Feeley, Malcolm; Simon, Jonathan 1994: Actuarial Justice: The Emerging New Criminal Law. In: Nelken, David: The Futures of Criminology. Sage, London, p.173-201
  • Nogala, Detlef 2000: Der Frosch im heißen Wasser. In: Schulzki-Haddouti, Christiane: Die Globalisierung der Überwachung. Hannover, S. 139-155
  • Simon, Jonathan 1987: The Emergence of a Risk Society: Insurance, Law, and the State. In: Socialist Review 17, p.61-89
  • Wambach, Max (Hg.) 1983: Der Mensch als Risiko. Zur Logik von Prävention und Früherkennung. Frankfurt/Main