Alles Risiko - oder was?

Sicherheitsdiskurse zwischen Rationalität und Moral
Abstract

Risiko und Moral werden in kriminologischen und kriminalpolitischen Analysen derzeit gerne als antagonistische Logiken präsentiert. Dieser Widerspruch lässt sich bei der Analyse der Praxis auflösen, indem Risiko und Moral als synergetische Begründungen für die Beförderung der ausufernden und zunehmend repressiven Sicherheitspolitik begriffen werden.

In der späten Moderne gibt es einen zunehmenden Trend, kriminalpolitische Entwicklungen und Neuerungen in der Kontrolllandschaft unter dem Begriff "Risiko" und damit verbunden rationalen, versicherungsmathematischen Logiken zu beschreiben und zu analysieren. Das wohl prominenteste Konzept in diesem Bereich, die actuarial justice bzw. Neue Pönologie (vgl. Feeley/Simon 1994) geht gar von einem Paradigmenwechsel aus. Danach bezieht sich Kriminalitätskontrolle nicht mehr auf Individuen und Konzepte wie Schuld, Verantwortung oder Verpflichtung und betrachtet Kriminalität nicht mehr als devianten, antisozialen Akt, der eine Reaktion erfordert, die den Schuldigen zur Rechenschaft zieht. Statt dessen beschäftige sich die Neue Pönologie mit der Identifikation, Klassifikation und dem Management von Gruppen, die aufgrund ähnlicher Gefährlichkeitsmerkmale konstituiert würden. Devianz und Kriminalität würden als normal und nicht mehr als Sonderfall definiert, wodurch Schuld und moralische Fragen irrelevant würden - "the morality play is over" (Scheerer 2000: 250). Es gehe nicht mehr um Vergeltung oder die Besserung der Individuen, sondern um eine ökonomisch-rationale Regulation gefährlicher Gruppen sowie des entstandenen Schadens. So wandele sich beispielsweise das Gefängnis von der Resozialisierungsanstalt in ein Lagerhaus für Träger besonderer Risikokombinatorien - die gerechte Strafe wird zur gerechtfertigten Einsperrung. Dieses Management von Kriminalität orientiert sich nicht mehr an moralischen Kategorien, sondern lediglich an der Minimierung von Risiken: "You want to minimise risk rather than morally condemn behaviour" (Young 1988: 14).

Diese Analysen präsentieren zweifellos eine treffende Beschreibung der aktuellen Entwicklungen in der sozialen Kontrolle. Sie stehen jedoch nur für eine Seite der Medaille und weisen insbesondere durch das Negieren des moralischen Aspekts Inkonsistenzen auf. Denn neben der rationalen, risikoorientierten ist eine hochmoralische, neokonservative Strömung zu erkennen, die sich vor allem in der Popularisierung harter Strafen und in konsequentem Vorgehen gegen Kriminelle und Randgruppen äußert und von Politikern jeglicher Couleur vertreten wird (vgl. Garland 2001: 13; Bauman 1998): Ob in New York Zero Tolerance praktiziert (und über den Import nach Europa und Deutschland mehr als nur nachgedacht) wird (vgl. Wacquant 2000: 21ff.), Gerhard Schröder Sexualstraftäter für immer einsperren möchte (vgl. die tageszeitung vom 10. Juli 2001: 2) oder Ronald Schill sich anschickt, Dealer und Drogenkonsumenten zu vertreiben und zwar "egal wohin" (vgl. Hamburger Morgenpost vom 27. Februar 2002), überall manifestiert sich ein neuer parteiübergreifender Konsens von law and order und tough on crime. Diese populistisch-repressive Politik bedient sich und produziert Ressentiments und Hass auf bestimmte Gruppierungen, die zum archetypischen Anderen bzw. zu Monstern stilisiert und mit expressiven Strafen bekämpft werden. Dies folgt ganz offensichtlich nicht einer rationalen, risikoorientierten Logik, sondern erinnert eher an die "Feste der Martern" vergangener Jahrhunderte (vgl. Foucault 1977: 44ff.).

Beide Tendenzen oder Gleise der Kriminalitätsbekämpfung, zu denen sich vermehrt kommunale Ansätze gesellen, die irgendwo dazwischen angesiedelt sind, werden in der aktuellen Debatte entweder getrennt analysiert - als managerialistischer und populistischer Trend (vgl. Scheerer 2000) bzw. als criminology of the self and of the other (vgl. Garland 2001) - oder unter verschiedenen Konzeptionen, bspw. dem Risiko, zusammengebracht: "the ‚new penology' in which risk and control are penal objectives rather than instruments of other purposes" (Clear/Cadoro 2001: 56). Wir plädieren dagegen im Folgenden dafür, Risiko und Moral als unterschiedliche Begründungsstrategien für die Beförderung von Sicherheitspolitik und entsprechenden Kontrollmaßnahmen zu verstehen, die sich gegenseitig ergänzen.

Welche Sicherheit? Oder: Wie entmoralisiert ist die Kriminalitätskontrolle?

In der aktuellen Rhetorik geht es nicht um Sicherheit als neutralen Begriff, sondern um ganz bestimmte Formen von Sicherheit - um spezifische Risiken und Gefahren, die über moralische Kategorien legitimiert werden. Die "Abweichung der Angepassten" (Frehsee 1991) gehört augenscheinlich nicht zu den Risiken, gegen die sich die Gesellschaft sichern muss. Wenn der neue Hamburger Senat verspricht, die Stadt ‚sicherer' zu machen, dann sagt und meint er damit die Fortsetzung der Vertreibungspolitik im Drogenmilieu, mehr Polizei, geschlossene Unterbringung für kriminelle Kinder und Jugendliche und natürlich den Ausbau von Haftplätzen. Dieses Beispiel aktueller Sicherheitspolitik steht stellvertretend für die moralische Begründung der Risiken, die es zu bekämpfen gilt.

Wir werden im Folgenden zeigen, dass und wie sich Risiko und Moral - zwei Begründungsstrategien für die Veränderungen Sozialer Kontrolle, die wir als zwei Seiten derselben Medaille begreifen - überlappen und ergänzen. Deshalb, so unsere These, kann keineswegs von einer paradigmatischen Durchsetzung einer entmoralisierten Risikoorientierung gesprochen werden. Dies werden wir exemplarisch anhand der Drogenpolitik und dem zunehmend populärer werdenden Phänomen der Restorative Justice belegen, die wir jeweils unter der Dimension Risiko und der Dimension Moral darstellen.

Drogenpolitik - Konsumräume als moralfreie Zone?

Die Risikodimension

DrogenkonsumentInnen werden in der Gesellschaft als ein Risikofaktor betrachtet, den man eliminieren bzw. kontrollieren muss: Sie ‚gefährden' die öffentliche Sicherheit und vor allem das ‚saubere' Stadtbild - die öffentliche Ordnung. Bis Ende der achtziger Jahre wurden KonsumentInnen illegalisierter Drogen vor allem als deviant tituliert und sollten mit strafrechtlichen Maßnahmen gebessert werden. Drogenpolitik war vor allem eine moralische Angelegenheit, die KonsumentInnen bzw. deren Verhalten wurden als unmoralisch stigmatisiert und daher strafrechtlich verfolgt. Seit Ende der 80er Jahre wird jedoch von einer Entmoralisierung und Risikoorientierung in der Drogenhilfe gesprochen: Es gehe nun, so etwa Bossong (1991: 69), um "Schadensbegrenzung beim einzelnen wie bei der Gesellschaft": Drogenpolitik sei "im wesentlichen Risikokontrolle und -steuerung". In diesem Kontext macht Bossong (1991: 82) drei verschiedene Risiken aus: erstens den sich immer weiter ausbreitenden Konsum bzw. Missbrauch insbesondere unter Jugendlichen, zweitens die gesundheitlichen und sozialen Gefährdungen für KonsumentInnen und Abhängige sowie drittens sekundäre Risiken für die Allgemeinheit - wobei offen bleibt, was das für sekundäre Risiken sind, und für wen ein sich ausbreitender Konsum ein Risiko darstellt.

Inzwischen hat sich - eher schleichend - wieder ein Prozess hin zu mehr Ausschluss und weniger Gesundheitsförderung entwickelt, der ebenfalls unter der Risikosteuerung firmiert: "Rather than being defined as deviant malefactors, drug users are becoming ‚the self-selected occupant(s) of a high-risk category that is chanelled away from employment and the greater access it brings'" (Scheerer 2000: 250). Zu dieser Risikosteuerung gehört auch die Einrichtung von Konsumräumen, in denen Abhängige ihren mitgebrachten Stoff unter hygienischen Bedingungen konsumieren können. Für die KonsumentInnen bedeutet dies eine Risikominimierung sowohl in gesundheitlicher Hinsicht als auch hinsichtlich der Strafverfolgung. Doch dienen Konsumräume - neben der Gesundheitsförderung des einzelnen Konsumenten - letztlich vor allem der Kontrolle und Überwachung der riskanten KonsumentInnen, womit neben ordnungspolitischen Gesichtspunkten auch eine "Symbolpolitik" (Michels/Stöver 1997: 34) betrieben wird. Es geht dabei um die Beherrschung und vor allem räumliche Eindämmung von Risiken: des Risikos von gebrauchten Spritzen auf Spielplätzen, des Risikos einer ‚Durchseuchung' der Bevölkerung mit HIV und Hepatitis und nicht zuletzt des Risikos, eines kranken und zugedröhnten Junkies ansichtig zu werden.

Die moralische Dimension

Gleichwohl kann die Drogenpolitik - auch in akzeptierender und niedrigschwelliger Form - nicht nur als Risikokontrolle begriffen werden. Die Debatte um Drogen ist (nach wie vor) gleichzeitig eine hochmoralische Angelegenheit, der Konsum illegaler Substanzen etwas, das ‚man nicht tut', etwas Verwerfliches, was auch mit einem befürchteten Kontrollverlust des Individuums und damit der Gesellschaft zu tun hat: "Durch den Prozeß der Moralisierung, also der Spaltung in ideale Kategorien von Gut und Böse, wird das Tabu gleichsam operationalisiert, die Furcht handhabbar gemacht bzw. in entsprechende Handlungsanweisungen umgesetzt" (Böllinger 1993: 164). KonsumentInnen werden zu Außenseitern der Gemeinschaft gemacht, die Stigmatisierung erfolgt meist schnell und unwiderruflich. Diese moralische Debatte hat nicht an Aktualität verloren: "Das amoralische Subjekt ,Drogenkonsument' ist überaus nützlich als Projektionsfläche für verschiedene Maßnahmen, die geeignet scheinen, die moralische Integration der ,normalen' Bevölkerung zu stärken und staatliche Handlungsfähigkeit zu demonstrieren" (Dollinger 2001: 97).

Auch der Diskurs über die Einrichtung von (mehr) Konsumräumen und anderen niedrigschwelligen Hilfen (brandaktuell: das Modellprojekt zur Heroinvergabe) hat eine moralische Dimension. Auch hier lassen sich die KonsumentInnen moralisch in zwei Gruppen teilen: Diejenigen, die das Angebot nutzen, sich quasi kontrollieren lassen und (in dieser Hinsicht) konform verhalten, und diejenigen, die auch von diesen Angeboten nicht erreicht werden bzw. diese aus unterschiedlichen Gründen ablehnen.

Nun lässt sich (nicht nur) in der Hamburger Drogenpolitik in den letzten Jahren wieder ein zunehmender Trend zu mehr Repression und zu ausstiegsorientierten Therapieangeboten - also wieder mal zur ‚Besserung' des Individuums - beobachten (vgl. Homann 1999). Das heißt, wie auch in anderen Feldern der Kriminalpolitik wird vermehrt auf Strafe, Ausstieg und Repression gesetzt. Nicht therapiewillige Personen, die man mit niedrigschwelligen Angeboten wie Gesundheitsfürsorge und Überlebenshilfen nicht erreichen kann bzw. konnte, sind nun wieder verstärkt ordnungspolitischen Maßnahmen ausgesetzt, wie bspw. die neuen Hamburger Konzepte der verstärkten Strafverfolgung in der Drogenszene besonders deutlich werden lassen. Dies scheint ein globaler Trend zu sein: So lag z.B. in den USA der Anteil der DrogenkonsumentInnen im Strafvollzug 1995 bereits bei 60%, Tendenz steigend (vgl. Wacquant 2000: 85). Damit wird eine "moralische Legitimation von sozialer Kontrolle oder Ausgrenzung" (Dollinger 2001: 97) betrieben, hinzu kommt die durch die herrschende Drogenpolitik beförderte Doppelmoral (vgl. Quensel 1996), indem die Unterscheidung zwischen legalen und illegalen Drogen, zwischen Genuss und Missbrauch getroffen und propagiert wird. Das eine wird (zumindest in Maßen) für gut befunden, das andere als Teufelszeug verurteilt.

Drogenpolitik zwischen Risikoorientierung und Moral?

Wie deutlich geworden ist, lassen sich weder die Drogenpolitik im allgemeinen noch einzelne Aspekte (wie die Einrichtung von Konsumräumen) als rein moralische oder rein risikoorientierte Maßnahmen fassen. Es spielen immer beide Seiten eine Rolle, auch wenn der eine oder andere Strang gerade im Vordergrund der Debatte steht. Deshalb wundert es auch nicht, dass die Drogenpolitik in den vergangenen Wahlkämpfen ein zentrales Thema war. Dabei überboten sich die Parteien gegenseitig in ihren Vorschlägen und Maßnahmen zur Bekämpfung des ‚Drogenproblems'. So wurde in Hamburg der Einsatz von Brechmitteln bei mutmaßlichen Dealern unter der SPD eingeführt, die versuchte, schon mal einen Teil von Schills Programm umzusetzen (vgl. Behörde für Inneres 2001). Dabei sind sowohl die als gefährlich (Risiko) und böse (Moral) titulierten Dealer als auch die kranken (Risiko) und uneinsichtigen (Moral) KonsumentInnen Gegenstand des Diskurses. Insofern kann nicht von einer Konkurrenz zwischen Moral und Risiko gesprochen werden, vielmehr beruht die aktuelle Drogenpolitik auf den Synergieeffekten von moralischen und risikoorientierten Begründungen.

Restorative Justice - ein schillerndes Phänomen zwischen Ratio und Moral

Es erscheint zunächst abwegig, diese Diskussion anhand eines Phänomens weiter zu vertiefen, das (nicht nur) hierzulande eine marginale Rolle spielt. (1) Allerdings werden Theorie und Praxis der Restorative Justice als Integration von Risiko- und Vergeltungslogik gefeiert: Als "aufarbeitendes Recht" (Shearing 1997), das sowohl auf das symbolische Zurechtrücken der Vergangenheit gerichtet ist, als auch im Sinne des instrumentellen, zukunftsorientierten Managements von Kriminalität agiert und somit Moral und Risiko integriert (vgl. Shearing 1997: 274ff.). Diese These sowie das relativ zeitnahe Auftauchen der Risikoorientierung in der Kriminalitätskontrolle prädestinieren das Beispiel der Restorative Justice für unsere Auseinandersetzung mit der Komplementarität dieser widersprüchlichen kriminalpolitischen Begründungsstrategien.

Restorative Justice ist Anfang der neunziger Jahre als Theorie und Konzept mit dem Ziel angetreten, eine Alternative für die Bearbeitung insbesondere strafrechtlich relevanter Konflikte zu sein und einen Paradigmenwechsel im Umgang mit und der Definition von Kriminalität sowie der Herstellung von Gerechtigkeit einzuläuten (vgl. Zehr 1990: 88). Dabei rekurrieren Theorie wie Praxis auf bereits bekannte Grundlagen und traditionelle Konfliktregelungsformen: Nicht der Normbruch, sondern der entstandene Schaden wird in den Mittelpunkt gestellt, Gerechtigkeit soll mittels Wiedergutmachung und Versöhnung zwischen Täter, Opfer und Gemeinschaft hergestellt werden. "Restorative Justice ist ein Prozess, bei dem alle an einer bestimmten Verletzung beteiligten Parteien zusammenkommen, um gemeinsam zu entscheiden, wie mit den Auswirkungen der Tat und ihren Implikationen für die Zukunft umgegangen wird" (Marshall nach Braithwaite 1999: 5, Übers. T.L.; für eine ausführliche Darstellung und Kritik von Restorative Justice vgl. Lutz 2002). Zentral sind Partizipation, Ermächtigung, konsensuale Aushandlung der Entscheidung und die Versöhnung der Beteiligten, die aktive Rolle der Gemeinschaft sowie die Zukunftsorientierung des Ergebnisses. Unter Restorative Justice werden bereits existente Praktiken wie der Täter-Opfer-Ausgleich (teilweise kritisch) subsumiert, insbesondere jedoch neue Mediationsverfahren, die sich auf alte Traditionen berufen und die Gemeinschaft aktiv miteinbeziehen (Familienkonferenzen, Community Conferences).

Die Risikodimension

Die Ziele des Restorative Justice-Prozesses - Wiedergutmachung des Schadens, Versöhnung der Beteiligten und Wiederherstellung des sozialen Friedens - stehen im Zeichen der Risikologik: Die Vereinbarung bzw. Sanktionierung, die konsensual getroffen wird, richtet sich auf die Vermeidung strafbarer Handlungen in der Zukunft. Insbesondere die Schadenswiedergutmachung, die in den amerikanischen Varianten im Vordergrund steht (vgl. Llewellyn/Howse 1998: 14f.), und die damit verbundene "Normalisierung" strafbarer Ereignisse entspricht den Kategorien der Neuen Pönologie: Der "Kriminelle" wird als normal akzeptiert, "Kriminalität" als eine Handlung, die wie jede andere Streitigkeit straffrei durch einen Aushandlungsprozess beigelegt werden kann. Der Fokus des Prozesses liegt analog zur Risikologik auf dem Schaden, den Opfern, auf der Vermeidung von Wiederholungen sowie der Verringerung der Kriminalitätsfurcht, die durch die Begegnung von Täter und Opfer und das daraus resultierende wechselseitige Verständnis erreicht werden sollen. Aber auch die Reintegration des Täters, die neben klassischen Hilfen etwa bei der Arbeitssuche auch durch Veränderungen der Umwelt - Unterstützungsleistungen sowie Kontrolle durch das persönliche Umfeld des Täters - erreicht werden soll, fügt sich in die Logik der Risikominimierung ein.

Die moralische Dimension

Im Gegensatz zu "pur rationalen" risikoorientierten Strategien spielt in den Restorative Justice-Konzepten jedoch die moralische Schuld bzw. Verantwortung (um beim Vokabular der Restorative Justice-Vertreter zu bleiben) des Individuums eine große Rolle: Ohne ein Eingeständnis des Täters, am Geschehen verantwortlich beteiligt gewesen zu sein, ist der Prozess zum Scheitern verurteilt. Die Rekonstruktion der Tat aus den unterschiedlichen Perspektiven der Beteiligten ist insbesondere in der populären Variante des Reintegrative Shaming (vgl. Braithwaite/Mugford 1994) von der moralischen Verurteilung der kriminellen Handlung geprägt, für die sich der Täter schämen soll, um anschließend (in Umkehrung der strafprozessualen Degradierungszeremonie) durch Symbole und Rituale der Vergebung und Versöhnung in die Gemeinschaft reintegriert zu werden. Im Zuge dieser multiperspektivischen Aufarbeitung der Vergangenheit, die sich an der herrschenden Norm und Moral orientiert, wird eine klassische Funktion der Strafe, die Expression der Normgeltung (vgl. Garland 1990: 28ff.), realisiert. Die moralische Verurteilung ist in diesen Verfahren sogar massiver als im herkömmlichen Strafprozess, da sie von Personen, die dem Täter nahe stehen (etwa seiner Familie) ausgesprochen wird und so ein Negieren der Schuld und andere Neutralisationstechniken erschwert (vgl. Braithwaite/Mugford 1994: 144).

Konträr zur Risikologik bezieht sich Restorative Justice explizit auf das Individuum und sein soziales Umfeld und nicht auf Risikomerkmale; die Sanktion orientiert sich ebenfalls nicht an der potentiellen Gefahr, sondern am entstandenen Schaden - und in der Praxis auch an der Schwere der Schuld. Darüber hinaus werden die zum Teil bereits beerdigten (vgl. Garland 2001: 54) wohlfahrtsstaatlichen Ziele Resozialisierung, Besserung und Integration des Täters angestrebt, die im Rahmen der Risikologik keinen Platz haben. Es geht nicht um den Ausschluss oder das Managen von gefährlichen Gruppen, sondern um die Integration der Individuen, die einen (moralisch zu verurteilenden) ‚Fehler' gemacht haben.

Restorative Justice als Integration von Risiko und Moral?

Die Integration von Risikologik und Moral erscheint bei genauerem Hinsehen ähnlich schwammig wie die neue Logik des Risikos in der Kriminalitätskontrolle insgesamt. Zwar führt Restorative Justice in der Praxis zu deutlich mehr Sanktionen (in ca. 90% der Fälle) (2) als traditionelle Gerichtsverhandlungen (ca. 60%), die freiheitsentziehenden Sanktionen gehen jedoch zurück (vgl. Maxwell/Morris 1996; Spier 2000), so dass der populistische, neokonservative Anspruch einer (gegenüber den wohlfahrtsstaatlichen Diversionskonzepten) konsequenteren Reaktion auf Normbrüche erfüllt wird - es wird etwas getan. Diese Reaktionen sind jedoch nicht geeignet, die Reaktion greifbar zu dramat(urg)isieren, d.h. Härte gegen die Täter zu demonstrieren und sie zu Monstern zu stilisieren und somit den vorgeblichen Bedürfnissen der Bevölkerung zu genügen, wie es der criminology of the other entsprechen würde. Aber auch die Subsumtion von Restorative Justice unter die Risikoorientierung ist nicht widerspruchsfrei: Zwar kann Restorative Justice als "Selektionsinstrument" (Bode/Lutz 2001: 212) gesehen werden, das die Spreu (die nicht aushandlungsbereiten und daher aus Sicherheitsgründen wegzusperrenden ‚wirklich' Kriminellen) vom Weizen (den aushandlungsfähigen und daher integrationsfähigen Normalbürgern) trennt, in dem die Ergebnisse der Aushandlungsprozesse von einer dritten übergeordneten Instanz auf ihre Angemessenheit hin kontrolliert werden, wie in der Praxis durchaus üblich (vgl. McElrea 1996: 71). Das beschriebene moralisch aufgeladene Procedere spricht jedoch gegen die Zuordnung von Restorative Justice zur Risikologik. Der Hybridcharakter dieser zunehmend populärer werdenden Sanktionsform zeigt u.E. auf, dass nicht nur althergebrachte Strafformen wie das Gefängnis als Vollzugsform von Risiko und Moral (re)definiert werden können (vgl. Scheerer 2000: 253), sondern dass gerade die neueren Kontrollformen - jeweils bezogen auf bestimmte Zielgruppen - beiden Ansprüchen genügen können, ja genügen müssen, um erfolgreich zu sein.

Alles Risiko - oder doch nicht?

Beide Beispiele zeigen, dass sich die Dichotomisierung von Risiko und Moral in der Kriminalitätskontrolle nur schwerlich durchhalten lässt und beide Logiken primär als unterschiedliche Begründungsstrategien und Legitimationen für die Verschärfung von Kontrolle und Repression dienen. Die Etikettierung "Kriminalität" kommt nicht ohne Moral aus, nicht umsonst wird das Strafrecht auch als "moralische Mindestanforderung" bezeichnet: "Wir verurteilen (die Tat) nicht, weil sie ein Verbrechen ist, sondern sie ist ein Verbrechen, weil wir sie verurteilen" (Durkheim 1992: 130). Die Hauptfunktion der Strafe liegt nach Durkheim in der Versicherung der sozial geteilten Normen und Werte - der kollektiven Moral - gegenüber den gesetzestreuen Bürgern, die als Zuschauer Hauptadressaten der Strafe bzw. Kontrolle sind. Nach dieser Kriminalitätskonzeption ist eine rein risikoorientierte, entmoralisierte Kontrolle unmöglich, da schon die Zurechnungsart "kriminell" auf bestimmte Verhaltensweisen moralisierend ist. Eine tatsächliche Durchsetzung der Risikologik setzt demnach eine neue Zurechnung voraus. Berücksichtigt man die Intentionalitäten der Individuen und die Frage nach Schuld und Verantwortung nicht mehr und stellt die Minimierung von Risiken und die entstehenden Schäden in den Vordergrund, so müsste der Zurechnungsmechanismus gänzlich verändert werden. Schmidt-Semisch (2002) hat die Risikologik in der Kriminalitätsbearbeitung konsequent zu Ende gedacht und eine insurationistische Zurechnung vorgeschlagen: Eine Pflichtversicherung gegen Kriminalität, die für die daraus entstehenden Schäden haftet und sich damit der Frage nach der expressiven Funktion der staatlichen Strafe entledigt.

Neben den Aspekten der Legitimation und Zurechnung gehört der Verzicht auf Besserung und Disziplinierung der Individuen zu den Postulaten der entmoralisierten Risikologik. Als Paradebeispiel hierfür stehen, neben der Rekonfiguration des Gefängnisses als Lagerhaus für das gesellschaftlich untragbare Risikomaterial, insbesondere die von uns beschriebenen Konsumräume oder die Schaffung anderer besonderer Räume für bestimmte Risikogruppen bzw. deren Ausschluss aus Konsumzonen, die ihn Lindenberg und Schmidt-Semisch (2000: 315) beschreiben, die von "komplementärer Konkurrenz" der Logiken "Risiko" und "Moral" sprechen. Die beschriebene Praxis mit ihren Synergieeffekten zeigt jedoch zum einen, dass diese Konkurrenz (zumindest auf der Begründungsebene) einer komplementären Nutzung weicht; zum anderen wird deutlich, dass diese Räume sehr wohl auch disziplinierend und reintegrierend wirken sollen, indem etwa ausstiegsorientierte Therapieangebote gemacht werden und die Unterscheidung zwischen ‚guten' Konsumraumnutzern und ‚bösen' Junkies, die sich nicht helfen lassen wollen, getroffen wird. Die Verbindung von Risiko und der moralischen Dimension der Besserung wird bei der restaurativen Bearbeitung von Kriminalität noch deutlicher, die direkt auf die Reintegration der Individuen durch moralisch induzierte Scham und die Durchsetzung der Logik der Neuen Pönologie - die Fokussierung des Schadens und der Wiedergutmachung - zielt.

Risiko (bzw. die Herstellung von Sicherheit) und Moral (bzw. die Sühne der Schuld) waren schon immer komplementäre Bestandteile der Kriminalitätskontrolle, sei es das Abschlagen der Hand von Dieben oder das Schlitzen der Ohren von Betrügern, mit denen sowohl bestraft als auch stigmatisiert und damit präventiv gewirkt wurde; zudem diente das Gefängnis selbst neben der Resozialisierung immer auch der Sicherung der Allgemeinheit. Auch die Fokussierung und Ausgrenzung bestimmter (Rand-)Gruppen stellt kein Novum in der sozialen Kontrolle dar (vgl. bspw. Frehsee 1991), auch wenn diese nicht immer anhand von Risikomerkmalen identifiziert wurden. Die Bewertung der moralischen Verwerflichkeit und der Gefährlichkeit einer Handlung und der Personengruppen, die diese Handlungen mit höherer Wahrscheinlichkeit ausführen, gehen weitgehend Hand in Hand. So sind Gefährdungen im Straßenverkehr anscheinend keine so große Gefahr für die Sicherheit der Bürger wie DrogenkonsumentInnen, die möglicherweise im Rahmen der so genannten Beschaffungskriminalität ebenfalls anderen Menschen Schaden zufügen.

Die neue Qualität in der Kriminalitätskontrolle liegt nicht in der Etablierung einer Risikoorientierung und im Schwinden der Moral, sondern in der komplementären Nutzung der Begründungsstrategien Risiko und Moral, die gemeinsam zu einer Verschärfung der Repression und des sozialen Ausschlusses beitragen, indem Sicherheit und Vergeltung in den Vordergrund gestellt und zusätzlich mit Rehabilitation oder Integration legitimiert werden - oder vice versa.

Anmerkung

1. Restorative Justice-Verfahren sind v.a. in Neuseeland und Australien auf breiter Basis implementiert. Sie gewinnen jedoch auch in Europa und den USA zunehmend an Bedeutung: Im Sicherheitsbericht der Bundesregierung wird über den Import und Ausbau (BMI/BMJ 2001:31ff.) der Verfahren aus Down Under nachgedacht, der in anderen europäischen Ländern und Nordamerika bereits stattfindet (vgl. The European Forum for Victim Offender Mediation and Restorative Justice 2000), zudem prosperieren hierzulande die Täter-Opfer-Ausgleichsverfahren (vgl. Wandrey/Weitekamp 1998).

2. Diese und folgende Daten aus der Praxis von Restorative Justice beziehen sich auf das neuseeländische Jugendstrafrecht, in dem die Familienkonferenzen als Standardreaktion auf mittelschwere und schwere Delikte (außer Tötungsdelikte) angewendet werden. Aufgrund des Modellcharakters aller anderen Implementationen erscheinen die Daten aus diesem ‚Frontland' restaurativer Praxis die einzigen einigermaßen reliablen zu sein.

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