Politik des Erinnerns
Editorial
Nicht nur die jüngsten Ereignisse im politischen Umgang mit dem Unwort des Jahres 2023 "Remigration" - der Kern des Vorhabens, die "Umvolkung" sowie damit einhergehende Deportationsideen werden bewusst verschleiert - wecken Assoziationen an Vergangenes, an Geschichte schlechthin. Die Anschlussfähigkeit an bekannte Diskurse aus den 1920er Jahren lässt sich derart mobilisieren, zugleich Polarisierung befeuern sowie soziale Ordnung und Praxen diskreditieren. Politik des Erinnerns bearbeitet Weltbilder, zielt auf Zusammenhänge, auf Verdrängtes, Vergessenes, bewusst Manipuliertes. Kollektive sind somit ebenso adressiert wie Individuen in einer Region, einem Nationalstaat - weltweit.
Erinnern an WAS und WOZU? Hierbei geht es immer um Ereignisse und Inhalte, zugleich um individuelles Erinnerungsvermögen, Bewusstsein und Politische Bildung. Erinnern heißt auch, sich der "Barbarei", mithin der "Welt des Zwanges", bewusst zu werden, sich der historischen 'Mitgift' zu stellen, mit der die Menschheit auf allen Kontinenten konfrontiert ist (Adorno 1942/2003: 381 ff; ebd.: 393; 388).
Warum nicht an das "Afrikanische Jahr" 1960 erinnern als 18 bisherige Kolonien in Afrika ihre Unabhängigkeit erlangten, oder an die '21 Bedingungen' der Bolschewiki, beschlossen auf dem zweiten Kongress der Moskauer Internationale (Komintern) 1920, um die Mitgliedsparteien in Europa zu kontrollieren und zu disziplinieren, oder an den 9. September 1919 als das Berliner Tageblatt Käthe Kollwitz zur Berufung auf eine Professur durch den preußischen Kulturminister gratulierte, oder an die Gründung des Nationalkomitees Freies Deutschland am 12./13. Juli 1943 in Krasnogorsk bei Moskau, oder an den Allon-Plan von 1967/1968, der eine Aufteilung der Regionen Judäa und Samaria und eine Lösung für Ostjerusalem vorsah (Achcar 2023: 6f.), oder an die Verabschiedung des ersten Jugendwohlfahrtsgesetzes (JWG) in der Bundesrepublik 19611, oder an den Soundtrack "Time" von Pink Floyd auf der LP Dark Side of the Moon von 1973?2
Welche Erinnerungen führen Menschen zueinander, befördern einen Austausch zwischen Generationen und Kulturen - münden in Kooperation und Intervention? Welche Tatsachen prägen das 'soziale Gedächtnis' nachhaltig, verleihen der Freiheit der Gedanken politischen Ausdruck? Mit diesen Fragen ist der thematische Horizont des Heftschwerpunkts bestimmt. Was fokussiert das 'kulturelle' Gedächtnis eines Gemeinwesens bzw. einer Nation, einer Kommune, von Individuen? Was distribuiert das 'soziale' Gedächtnis, bestimmt die Ausrichtung der bundesrepublikanischen Erinnerungskultur und dessen notorische Vergesslichkeit?
Erinnern heißt Innehalten - sich vergewissern, eine Position beziehen im Trubel des Alltags, des Weltgeschehens. Wer sich erinnern kann, hat ungefragt etwas mitzuteilen - Ungewöhnliches, Vergessenes, Banales. Der Austausch von Erinnerungen stiftet Sozialität, benötigt eine Form, einen Sozialraum, der Vergangenes, Verdrängtes, Unbewältigtes, Glücksmomente etc. zum Sprechen bringt. Primärerfahrung trifft hierbei auf sekundäres Erinnern medial distribuiert im "institutionalisierten Erinnerungsraum" (Koselleck 2023: 374). Sie konstituiert den sozialen Alltag und Gesellschaft (Gemeinschaft) im Allgemeinen sowie Subjektivität mit individuellen Identitätsangeboten im Besonderen.
Warum und Wozu erinnern? Erinnern ermöglicht Kontexte herzustellen, und zwar historische gleichwie systematische. Individuelles, soziales und kollektives Erinnern und die Erinnerung an ein Ereignis zielen unmittelbar auf Erkenntnis, arbeiten der Aufklärung zu, oder deren Abwehr in den Formen des Vergessens und Verdrängens. Alle Politik(en) des Erinnerns gründet auf die Indienstnahme vornehmlich sozialer und/oder kollektiver Erinnerungen. Denkmäler, Jahrestage und nationale Symbole (Loreley etc.) rekurrieren in der Regel auf nationale Groß-Ereignisse, auf 'Sieg oder Niederlage'. Individuelle Erinnerung, getragen von Primärerfahrung (Demütigung, Flucht, Tod, Krieg etc.) hingegen sind eingebettet in Lebensgeschichte (Milieu, Straße, Herkunft, Klasse etc.), mittelbar verbunden mit sozialen und kollektiven Ritualen des Erinnerns. Primärerfahrung grundiert, so die These, Erinnerungskultur, geht in diese jedoch nicht auf!
Im medialen Zeitalter von Fake News und Postfaktizität, von Rassismus und Postkolonialismus ist Erinnern eine wesentliche Ressource. Um den Zusammenhang von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu reflektieren, bedarf es eines persönlichen, sozialen und kulturellen Gedächtnisses, einer individuellen Verortung in Zeit und Raum. Erinnerungsarbeit ist insofern zentral sowohl für die Identitätsfindung als auch für die Auseinandersetzung mit dem sozialen und kulturellen Gedächtnis einer Nation, eines staatlichen Gemeinwesens. Die Vergangenheit ist nicht vergangen, sie lebt in den symbolischen Reservaten des Alltags, entäußert sich in individueller Erinnerung, in der Rückschau auf lebensgeschichtliche Wendepunkte, historische Ereignisse (Frieden, Kriege, Katastrophen, Niederlagen etc.) - auf individuelle Glücksmomente.
Die bewusste Wahrnehmung des Vergangenen sowie der Gegangenen (Köpfe, Vorbilder, Zeitzeug:innen) liefert der Jetztzeit den ideellen Rohstoff für politische Intervention, soziale und kulturelle Teilhabe, Empowerment und Selbst-Bewusstsein. Die 'Kategorie des Zusammenhangs' (Oskar Negt) verbindet erkenntnistheoretisch die Einsicht, dass Privatheit und Öffentlichkeit, individuelle Freiheit und kollektive Interessen eines Gemeinwesens (Nation) zum einen nicht identisch sind, zum anderen eines öffentlichen Diskurses bedürfen. Jahrestage, Naturkatastrophen, Kriege, Pandemien, Cyber- und Terrorattacken sowie neuerliche Vertreibungsphantasien und unüberprüfbare Kriegsberichterstattungen bedürfen einer diskursiv-politischen Arena, um Erinnerungsarbeit in einen sozialen sowie kulturellen Kontext einzubinden. Politik des Erinnerns zielt insofern immer (auch) auf den Sinn des Lebens, mithin auf Gegenwart zum einen, auf Zukunft zum anderen.
Die Malaise des zurückliegenden Jahrzehnts mit Finanzkrise, Klimakatastrophe, extremen Nationalismus (Neo-Faschismus), Flüchtlingsbewegungen und der Rückkehr von Krieg in Europa hat durch den Einzug der digitalen Maschinerie in Form des Internet of Things (IOT) in das private und öffentliche Leben - neuerdings befeuert durch Artificial Intelligenz (AI) - eine neue Qualität erlangt. Die klassische bürgerliche Öffentlichkeit mit ihrer vermeintlichen 'Normalität' ist in den Kernländern Europas (im alten Westen!) perdu. Nationale Erinnerungskulturen werden medial geflutet, das individuelle Gedächtnis mit Fake News einem Stresstest unterzogen. Sowohl die strikte Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit erodiert als auch das Selbst-Bewusstsein ('feste Ich'), (an-)getrieben von der Suche nach Identität. Der globale Vergesellschaftungsmodus konterkariert die "universalen Beziehungen", allseitige(r) Bedürfnisse und universale(r) Vermögen" (Marx).
Die 'Zeichen der Zeit' resp. die kulturellen Symbole deuten auf eine 'verwaltete Welt' (Horkheimer/Adorno), die sich durch soziales Dickicht, disparate Anforderungen an ein 'modernes' Leben und Individualisierungsszenarien qualifiziert. Weder entkommt der 'moderne' Mensch der digitalen Maschinerie mit seinen Apparaten der Überwachung, der Beschleunigung von Zeit, der Relativierung alles Vergangenen - degradiert zum Medienspektakel (Royals in GB; "Sisi" bei Netflix usf.!) - noch kann er der Klimakatastrophe mit gravierenden Konsequenzen für Natur und Mensch entkommen. Die mediale Distribution von Fakten und Phänomenen durch soziale Medien (Landflucht, Dürre, Migration, Hunger, Vertreibung etc.), begleitet von einer systematischen Zerstörung der natürlichen Grundlagen allen Lebens, hintertreibt individuelles, zugleich soziales Erinnern.
Vor diesem Horizont kommt dem Erinnern, m.a.W. dem Gedächtnis, eine besondere Bedeutung zu. Gedächtnis und die Politik des Erinnerns brauchen "Felder der Interaktion" (Assmann 2006: 32).3 "Auf der Ebene des Sozialen verschränkt sich [...] das individuelle Gedächtnis mit den Erinnerungen anderer" (ebd.: 33). Erinnerungsarbeit rekurriert mithin auf unterschiedliche Ebenen des Gedächtnisses. Angesprochen sind die neuronale, soziale und kulturelle Ebene. Erst im Zusammenspiel dieser drei Dimensionen, sie sind miteinander vernetzt und nur analytisch zu trennen, kann Erinnern eine neue Qualität gewinnen sowie Politische Bildung initiieren. Der Austausch von Erfahrungen kann in sozialer Hinsicht sowie in erkenntnis- und handlungstheoretischer Absicht nur erfolgreich sein, wenn er alle Ebenen integriert. Erst durch die unmittelbare Kommunikation erfährt das individuelle Gedächtnis eine Erweiterung seiner selbst, "wächst es über sich hinaus und integriert Fremdes, das zum Eigenen wird". Fake News, Populismus und Postfaktizität torpedieren diesen Konnex medial, blockieren das individuelle Gedächtnis, trennen es systematisch vom sozialen Gedächtnis politischer Bewegungen und nationaler Erinnerungskultur. Erinnerungskultur ist insofern nicht nur eine umkämpfte Arena, sie hat sich stets des intergenerativen Dialogs zu stellen, um der Wahrheit näher zu kommen.
Individuelles Erinnern kennt resp. stößt folglich an Grenzen. Woran warum erinnern? Welches Ereignis verdient es, erinnert zu werden? Das kulturelle Gedächtnis bedient andere Chiffren (Symbole) der Erinnerung als das individuelle, gerahmt vom Familien- und Generationengedächtnis.4 Während sich das soziale Gedächtnis via Kooperation, Assoziation konstituiert und weiterentwickelt, u.a. manifestiert in 'Bewegungen', Gruppen, Vereinen, Milieus (Klassen), wird das kulturelle Gedächtnis einer Nation (Region) von symbolischen Medien in Form von Texten, Bildern (Fotos), Denkmälern sowie von symbolischen Praktiken konstruiert, repräsentiert durch Feste, Festivals und Riten - während das soziale Gedächtnis einen begrenzten Zeithorizont besitzt, zeichnet sich das kulturelle Gedächtnis via kultureller Symbole und Zeichen (Jahrestage, Fahnen etc.) durch ein transgeneratives Zeitbewusstsein aus. Geschichte und Erinnerungsarbeit bewegen sich insofern in langen Wellen. Erinnerungskulturen leben von Redundanzen, verfestigen Weltbilder auf Basis vermeintlicher oder echter Tradition. Kulturelle Symbole bieten dem Erinnern einer Gruppe, einem Milieu, einer Region oder Profession einen dauerhaften politischen Anker an.
Das kulturelle Gedächtnis bedient sich "symbolische[r] Stütze[n], die die kollektive Erinnerung in die Zukunft hinein befestigen, indem sie spätere Generationen auf eine gemeinsame Erinnerung verpflichten" (Assmann 2006: 35). Dieser sozial grundierte Erinnerungsprozess greift individuelle Erfahrungen auf, bespielt Lebensgeschichte mit kulturellen Symbolen (Symbolpolitik), die medial aufbereitet und/oder unterdrückt die Vergangenheit mit der Zukunft verbinden.
Das vorliegende Schwerpunktheft arbeitet mit Reduktion. Wir werfen zunächst einen theoretisch grundierten Blick auf die bundesdeutsche Erinnerungskultur, mithin auf einen historischen wie aktuellen Diskurs (Lindner), der kollektives Erinnern an Shoah sowie Holocaust mobilisiert, zugleich Orientierung bietet und der Politischen Bildung eine Perspektive aufzeigt. Ferner wird zum einen das systematische Vergessen bestimmter Opfergruppen des Nationalsozialismus (Spengler) und unliebsamer sozialpolitischer Themen aus den braunen Nachkriegsjahren der Bundesrepublik aufgerufen (Kappler), zum anderen exemplarisch Obdachlosigkeit und deren staatliche 'Steuerung' im kommunalen Sozialraum beleuchtet (Wagner). Individuelles Erinnern im Kontext politischer Sozialisation und biographischer Orientierung wird mit einzelnen Beiträgen zum (politischen) Widerstand (Schütte) sowie mit einer Reminiszenz an die DDR und deren Deutungen im Rückspiegel (Affolderbach) bedient.
Zwei Themen haben den Weg nicht ins vorliegende Heft gefunden: Gewalt, verursacht durch und kultiviert in gewaltbereiten, ultra-rechten Milieus, sowie die 'deutsche' Nachkriegs-Erinnerungskultur mit ihren unterschiedlichen Zeithorizonten im Osten und Westen - Stalinismus / 'Antifaschismus' hier, Auschwitz / 'Unfähigkeit zu trauern' dort. Kollektives und soziales Erinnern, unmittelbar mit dem 8. Mai 1945 in den beiden deutschen Staaten verbunden, sind nach fortgeschrittener Planung durch unglückliche Umstände nicht, dem Stand der Dinge und der öffentlichen Debatte angemessen, abschließend bearbeitet worden. Gleichwohl - die Themen sind nicht beiseitegelegt.5
Wir erinnern und verneigen uns vor einem bedeutenden Denker der Bundesrepublik. Die Redaktion der WIDERSPRÜCHE war und ist auf ganz unterschiedliche Weise mit Oskar Negt (1934-2024) verbunden, persönlich, politisch und theoretisch. Die Glocksee-Schule war ein Leuchtturm, seiner Zeit weit voraus, sein Engagement für sowie seine dezidierte Kritik an den Gewerkschaften beispielhaft und mutig, sein theoretischer Impuls über Jahrzehnte nachhaltig. Orientierungswissen, Erfahrung und die Kategorie des Zusammenhangs waren grundlegend sowohl für seine Marx-Rezeption (Negt 1996) als auch für die Auseinandersetzung mit Kant (Negt/Kluge 2023) und der Kritischen Theorie von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno (ebd. 1981).
Zum 50. Jahrestages der Gründung des Instituts für Sozialforschung gab Negt am 5. Juli 1974 in einer Rede in der Universität Frankfurt/M., an unterschiedliche Kritikaster der Kritischen Theorie gerichtet, zu Protokoll:
"Zum einen ist es die Unfähigkeit, die eigenen Kategorien zur Analyse der eigenen geschichtlichen Situation, der Gegenwart als eines geschichtlichen Prozesses zu verwenden, damit aber auch die individuellen, für organisatorisch vorgegebenen parteilichen Erkenntnisinteressen zu bestimmen. Dazu kommt die Unfähigkeit, sich von der doppelthistorischen und rein auf den Wahrheitsgehalt von Betrachtungsweisen von Theorien zu befreien und Theorien als Organisationsformen gesellschaftlicher Erfahrung zu begreifen. [...] Deshalb meine ich, daß diese Theorien zunächst betrachtet werden müssen dort, in dem Zusammenhang, in dem sie geschichtlich entstehen und deren geschichtliche Situation sie auch ausdrücken. [...] Die Wiederaneignung der Kritischen Theorie setzt eine grundlegende Veränderung und eine grundlegende intellektuelle Veränderung der Beziehung durch Marxens Theorie selber voraus." (Negt/Kluge 1974: 116f.; 118; 123)
Es sind die Widersprüche, denen wir uns individuell, politisch und theoretisch zu stellen haben.
Oskar Negt ist am Freitag, den 2. Februar 2024 von uns gegangen.
Zu den Beiträgen im Einzelnen
Der öffentliche Diskurs über die "Singularität der Shoah" ist Gegenstand des Beitrags von Urs Lindner. Er interveniert damit in die aktuelle Erinnerungskultur mit ihren wissenschaftlichen Verkürzungen und politischen Verzerrungen. Die "Einzigartigkeit, Präzedenzlosigkeit, Beispiellosigkeit etc." nationalsozialistisch-rassistischer Ausrottungspolitik wird vom Autor in den Mittelpunkt des Artikels gestellt und mit der Frage verbunden, ob die vielbemühte Singularitätsthese möglicherweise die Praxis einer "inklusiven Erinnerungskultur" verbaut und zudem niemals in Frage gestellt werden dürfe. Ein komplexes Thema im unübersichtlichen wissenschaftlichen Diskurs wird damit angegangen, zugleich ein Beitrag zur politischen Horizonterweiterung vorgelegt. Die These von der Singularität der Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden im Namen des 'deutschen Volkes' zielt somit im Horizont des Kolonialismus-Diskurses (u.a. deutscher Verbrechen im heutigen Namibia) und "postmigrantischer Gesellschaft" auf die diskursive Differenz von "Begründung und Konsequenz" und dessen spezifischen Sichtweisen. Wer sich der Auseinandersetzung widersetze, sich der Kritik verweigere, so der Autor, versiegele die Erinnerungskultur gegen den wissenschaftlich notwendigen Diskurs. Deshalb differenziert Lindner im Lichte der aktuellen Holocaustforschung und "Imperiengeschichte", in drei Etappen, den 'Gegensatz zwischen universalistischem und partikularistischen Shoah-Gedenken'. In den Blick genommen werden somit die "Urteilsstruktur" der "Singularitätsthese", diverse Versionen dieser These sowie das universalistisch argumentierende Narrativ "Nie wieder!". Normative Konsequenzen lassen sich damit ebenso diskutieren wie eine Öffnung des Diskurses im Kontext bundesdeutscher Erinnerungskultur und der Verantwortung des Gemeinwesens für die gesamte 'deutsche' Geschichte einschließlich des historischen Vergleichs mit anderen Katastrophen in der Historie der Menschheit.
Im weiten Horizont des Opferdiskurs der Bundesrepublik Deutschland nach 1945 widmet sich Jördis Spengler einer sozialen Gruppe von ausgeblendeten Opfern des Nationalsozialismus. Mit dem "Gedenken an die queeren Opfer des Holocaust" adressiert sie zum einen die Praxis des Verschweigens, des kollektiven Ausblendens nationalsozialistischer Verfolgung und staatlichen Terrors gegen 'Asoziale', 'Minderwertige', 'Lesben' und 'Schwule' in Konzentrationslagern und anderen Gewalträumen des Regimes, zum anderen ein immer noch vernachlässigtes Thema Politischer Bildung. Den "Kreislauf des Schweigens" thematisieren heißt für Spengler sowohl eine rechtspolitische Verbindung zwischen Sexualität und Holocaust herzustellen als auch das "Etikett queer" im Lichte von "Praktiken und Geschlechtsidentitäten" exemplarisch zu diskutieren. Unter Rückgriff auf drei Biografien ("Einzelschicksalen") wird eine "multiperspektivische Erinnerungspolitik" eingeklagt, die Tabus überwindet und Gesellschaft und Sexualität zum Objektbereich einer anspruchsvollen Erinnerungskultur erklärt.
Die politische Geschichte der Wohlfahrtsverbände nach 1945 sowie deren Verstrickungen in den Nationalsozialismus stehen im Zentrum des Beitrags von Manfred Kappler. In einem quellengesättigten Rückblick, namentlich auf den Deutschen Caritasverband und die Innere Mission/Diakonie wird deren politische Strategie sowohl vor als auch nach 1945 auf Basis einer Sekundäranalyse unter Rückgriff auf zeitgenössische Quellen beleuchtet. In den Fokus der Rekonstruktion geraten somit die strategischen Manöver von Anpassung und Mitläufertum bzw. willfährige Zuarbeit für das NS-Regime unter dem Dach der "Reichsgemeinschaft der freien Wohlfahrtpflege Deutschlands" an der Seite der "Nationalsozialistischen VolksUwohlfahrt" - die jüdischen Verbände wurden 1933 sofort rausgeschmissen - einerseits, die fadenscheinigen Distanzierungen vom 'Dritten Reich' und ihre "Komplizenschaft" andererseits. Der von Kappler vorgelegte Erinnerungsdiskurs zielt in kritischer Absicht zunächst auf die "Auslöschung der Erinnerung", mithin an die systemische Involviertheit ("Maßnahmen") der Verbände in die "sozialrassistische Bevölkerungspolitik" des Regimes auf Grundlage erbbiologischer und rassehygienischer "Klassifizierung der Bevölkerung". Zugleich rückt der Beitrag die Nachkriegs-Rhetorik der nunmehr westdeutschen Wohlfahrtsverbände in den Mittelpunkt. Mit dem Slogan "Not und Hilfe" sollte sowohl dem Vergessen der eigenen Geschichte während des 'Tausendjährigen Reiches' zugearbeitet als auch die sozialpolitischen Ambitionen der Verbände für das NS-gebeutelte "deutsche Volk" unter Ausschluss von "Ausländern" und anderen unliebsamen Person unterstrichen werden.
Der Beitrag von Thomas Wagner, "Alle Bürger sollen eine Dusche bekommen", schließt zwar nicht unmittelbar, jedoch zeitversetzt an wohlfahrtsstaatliche Aktivitäten der Bundesrepublik seit den 1970er Jahren an, im dem er 'Asoziale', 'Flüchtlinge' und im weitesten Sinne Displaced Person in den forschenden Blick am Beispiel der Kommune Ludwigshafen am Rhein nimmt. Wagners Perspektive ist eine doppelte. Zum einen geht es darum im Anschluss an Maurice Halbwachs - Schüler der französischen Annales-Schule - ein "kollektives Gedächtnis" methodisch zu bemühen und insofern das historische Vergessen einer Stadtgesellschaft unter Rückgriff auf eine feministische Konflikttheorie zu rekonstruieren, zum anderen den historischen Diskurs der "Ausschließung" von 'asozial' klassifizierter Klientel in drei Etappen einzuholen. Stadtbekannte "Elendsquartiere" u.a. ehemaliger "Fremdarbeiter" prägen somit den Objektbereich des Beitrags zwischen 1970 und der ersten Dekade nach der Jahrhundertwende. Das "Programm Soziale Stadt" wird hierbei ebenso diskutiert wie sozialpolitische Konzepte "im Modus der Kooperation und Dialogbereitschaft" aus den 1990er Jahren, hinterlegt in "Obdachlosenberichte". Der Wandel des kommunalen Diskurses korrespondiert, so die Analyse, mit der Krise des Sozialstaats, zugleich offenbart er die Relevanz des Vergessens und die Vernachlässigung des sozialen Erinnerns im Umgang mit wohnungslosen Menschen. Wagners Beitrag will zwei Aspekte theoretisch und systematisch miteinander verbinden: Spurensuche betreiben, zugleich "Rekuperation" befördern, mithin geistige wie physische Orte dem Vergessen entreißen, um diese für eine belastbare städtische Erinnerungskultur im Sinne Politischer Bildung fruchtbar zu machen.
Die Konfrontation von eigenen "Erinnerungen an die DDR" mit Redebeiträgen prominenter Politikerinnen und Politiker in einer ARD-Talkrunde, die ebenfalls auf lebensgeschichtliche Wurzeln in der DDR verweisen können, nimmt Friedemann Affolderbach zum Anlass, in kritischer und selbstreflexiver Absicht "Patriotismus und Heimatliebe", "Anspruch auf Nörgelei" sowie "autoritäre Einstellungen" ins Zentrum seines Beitrags zu stellen. Erfahrungen mit der Wende und dessen Bearbeitung werden somit ebenso thematisiert wie beispielsweise "Vorurteile West und Dauerfrust Ost" einer Überprüfung und politischen Würdigung unterzogen. Ausgewählte Sentenzen von Katrin Göhring-Eckardt und Tino Chrupalla liefern den literarischen Ausgangspunkt, die Politik des Erinnerns mit Ideologien, Nebenschauplätzen und Realitätsausblendungen - im vorliegenden Fall reduziert auf Kindheitserinnerungen - zu durchleuchten resp. in Frage zu stellen. Die eigenen Erfahrungen werden derart von Affolderbach mit neuen und alten Realitäten konfrontiert. Die Diskrepanz zwischen "sozialen Zusammenhängen" auf der einen Seite und "Siegererzählungen" auf der anderen verweisen sowohl auf eine "hegemoniale Erinnerungspolitik" als auch auf "Konflikte und [individuelle] Schicksale".
Friedhelm Schütte gibt mit seinem Beitrag einen nachdenklichen Einblick in seinen politischen Sozialisationsprozess. Die individuelle Erinnerung an und die Auseinandersetzung mit drei Autor:innen, allesamt Opfer von Faschismus, Nationalsozialismus, Franquismus (Falange) und Stalinismus, gerät zum Anlass, "biografische Fährten des Politischen" aufzuspüren und "Widerstand als Haltung" (Praxis) zum Thema eines intergenerativen Erfahrungsaustausch resp. Erinnerungsdiskurs zu erklären. Die Rezeption von literarisch aufbereiteter Primärerfahrung, durchlebt in den Gewalträumen des 20. Jahrhunderts (Gefängnisse, Konzentrationslager, Gulag), spiegelt ein persönliches Szenario politischer Bildung, das Formen "individuellen Widerstandes in lebensgeschichtlichen Grenzsituationen" der so genannten Zwischenkriegszeit nachgeht. Todeserfahrung, der Wille zur Freiheit und politische Irrationalität liefern der Poltischen Bildung nicht nur einen Objektbereich zur historischen Einordnung bzw. zum Verständnis der "europäischen Katastrophe", sondern auch einen tiefen Einblick in die subjektive Be- und Verarbeitung von erfahrener Demütigung, organisierter Willkür und individuellem Widerstand. Das zentrale Anliegen des Beitrags besteht insoweit darin, "Erinnerung [als] Rohstoff der Geschichte" (Jacques Le Goff) zu begreifen und diesen fortwährend, immer aufs Neue sozialer und kollektiver Bearbeitung zu unterziehen.
Die Redaktion
Literatur
Adorno, Theodor W. 1942/2003: Klassentheorie. In: Ders: Soziologische Schriften I, Frankfurt/M. 1942/2003
Achcar, Gilbert 2023: Die israelische Rechte und ihre Pläne für Gaza, Le Monde diplomatique, Dez. 2023
Assmann, Aleida 2006: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München
Koselleck, Reinhart 2023: Geronnene Lava. Texte zu politischem Totenkult und Erinnerung. Frankfurt/M
Negt, Oskar 1996: Marx. Ausgewählt und vorgestellt von Oskar Negt. München
Negt, Oskar/Kluge, Alexander 2023: Kant Kommentare. Leipzig
- 1981: Geschichte und Eigensinn. Frankfurt/M.
- 1974: kritische theorie und marxismus. radikalität ist keine sache des willens sondern der erfahrung. s'Gravenhage
1. Auf juristischer Grundlage des RJWG von 1922 (Joh. Münder).
2. "Ticking away the moments that make you a dull day | You fritter and waste the hours in an offhand way | Kicking around on a piece of ground in your home town | Waiting for someone to show you the way | [...] The sun is the same in a relative way, but you're older | Shorter of breath and one day closer to death | ...”
3. Siehe auch: Peter Reichelt: Politik mit der Erinnerung. Gedächtnisorte im Streit um die nationalsozialistische Vergangenheit. Frankfurt/M 1999. Neuerdings: Wolfgang Benz (Hrsg.): Erinnerungsverbot? Die Ausstellung "Al Nakba" im Visier der Gegenaufklärung. Berlin, S. 7ff.
4. Wie kein anderer Autor und keine andere lebende Autorin rekurriert Alexander Kluge auf das Familien- und Generationengedächtnis (Chronik der Gefühle. Bd. I u. II. Frankfurt/M. 2000. Siehe auch: Ders.: 30. April 1945. Der Tag an dem Hitler sich erschoß und die Westbildung der Deutschen begann. Frankfurt/M. 2015, passim.
5. Zur Frage der Gewalt in ihren unterschiedlichen Formen: WIDERSPRÜCHE Hefte 98, 111, 141, 147, 167, 169.