Kampf ums Herz

Neoliberale Reformversuche und Machtverhältnisse in der 'Gesundheits-Industrie'
Editorial

"Kampf ums Herz" ist ein Artikel der Süddeutschen Zeitung vom 16. November überschrieben, der die ökonomischen Interessen der Pharmakonzerne offen benennt. Es geht um einen so genannten 'Cholesterinsenker', der binnen eines Jahres den ersten Platz in seiner Arzneimittelklasse errungen hat. 1,5 Millionen Kassenpatienten (wahrscheinlich sind darunter auch einige Patientinnen), so heißt es, müssen sich ab Januar 2005 auf Zuzahlungen in Höhe von 200 Euro jährlich einstellen. Pfitzer, der Hersteller, ist nicht bereit, den vom Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen festgelegten Festbetrag für diese Arzneimittelklasse - Statine genannt - zu akzeptieren. Ähnlich wie zuvor Gynäkologen, Zahn- und Augenärzte mit dem Angebot 'individueller Gesundheitsleistungen' - IGeL genannt -, bietet nun ein pharmazeutisches Unternehmen - und hierin liegt das Novum - ein angeblich exklusives Produkt - der Porsche unter den Statinen, wie der Hersteller glauben machen möchte - zum Festpreis plus aus eigener Tasche zu zahlenden Aufpreis an. Die Symbolkraft der Herzmetapher weckt unser verdrängtes Wissen um die Fragilität des Lebens, die Vulnerabilität unserer Körperlichkeit und den Kampf ums Leben. Wer möchte da 'nein‘ sagen?

Bei den Reformversuchen für das Gesundheitssystem, das wohl zutreffender als medizinisch-industrieller Komplex oder euphemistisch als Gesundheits-Industrie zu bezeichnen ist, geht es im Moment vor allem um eines: um die Festlegung der Regeln, nach denen das Geld verteilt wird, das die gesetzliche Krankenversicherung einnimmt und das aufgrund der seit mehreren Jahren sinkenden Grundlohnsumme und steigenden Arbeitslosenquote weniger statt mehr wird. Von immer mehr Interessengruppen wird daher mit immer härteren Bandagen immer öffentlicher an immer mehr Grenzlinien, die z.T. innerhalb eigener Standesorganisation verlaufen, gekämpft: Die Pharmaindustrie gegen den Bundesausschuss, die Kassenärztlichen Vereinigungen gegen die Krankenkassen, die Allgemeinmediziner gegen die Fachärzte, die gesetzlichen Krankenkassen gegeneinander und gegen die Privaten, das stationäre Behandlungssystem gegen das ambulante.

Etwas außerhalb der derzeitigen Kreuzfeuer, aber nicht weniger bedeutsam, sind die Interessenauseinandersetzungen zwischen den Professionen (Mediziner, Psychotherapeuten, Gesundheitsfachberufe), sowie den PatientInnenvertretern; quer zu den sektoralen Kämpfen verlaufen die Auseinandersetzungen um Ausbildungs- und Studienreformen, Fortbildungen, Rezertifizierungen, Leitlinien und Qualitätssicherung, sowie um die grundsätzliche Frage, wie überhaupt von evidenzbasierter Medizin gesprochen werden kann, wenn weder Arzneimittel noch Behandlungen darauf geprüft werden, ob sie für Frauen und Männer gleichermaßen heilsam sind. Der Nutzen der formulierten Reformziele Qualitätsverbesserung, Effizienzsteigerung und Bedarfsgerechtigkeit wird bisher 'ohne Ansehen des Geschlechts' (Kuhlmann 2004) diskutiert.

Um wie viel Geld es eigentlich geht, ist nur annähernd zu bestimmen. Im Deutschen Ärzteblatt wird ausgewiesen, dass sich die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung im Jahr 2002 auf insgesamt rund 144 Milliarden Euro beliefen, die Ausgaben im Gesundheitswesen insgesamt auf rund 235 Milliarden Euro (Beske 2004). Hinzuzurechnen sind die Ausgaben des Bundesgesundheitsministeriums, das für das Jahr 2003 einen Etat von 363,8 Millionen Euro auswies, sowie alle privat getätigten Zuzahlungen (für Arzneimittel, Krankenhausaufenthalte, so genannte IGeL-Leistungen) und Ausgaben für nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel, Vitamine, Mineralstoffe, Rückenschulung, Massagen, Kuren, Wellness-Angebote etc. - die Grenzen zum Fitness-Bereich sind fließend. Nicht enthalten sind zudem die nicht unbeträchtlichen Ausgaben für Ausbildung und Forschung. Legt man 'nur' die ausgewiesenen 235 Milliarden Euro zugrunde, macht diese Summe bereits ca. 10 % des BIP aus und stellt einen bedeutenden wirtschaftspolitischen Faktor dar. Schenkt man den aktuellen Pressenotizen um die Eröffnung der jährlich stattfindenden Messe für Medizinprodukte (Medica) glauben, so kann "die Gesundheitsbranche" kontinuierlich Wachstumsraten vorweisen, und dies trotz sinkender GKV-Ausgaben.

Zu den Beiträgen im Einzelnen

Mit dem Themenschwerpunkt der vorliegenden Ausgabe möchten wir Licht in den Dschungel der Reformen und Debatten bringen, die nicht immer so offen liegen wie bei den Strategien der Pharmazeutischen Industrie. Drei Brennweiten werden eingestellt, um den tief greifenden Veränderungen, politischen Rahmenbedingungen, Strategien und grundlegenden Mechanismen auf die Spur zu kommen.

Die 50 mm-Normal-Perspektive Deutschland: Die Mythen der Debatte um die Gesundheitsreform aufzudecken ist das Ziel des Beitrags von Nadja Rakowitz. Es geht ihr vor allem um den Mythos der Explosion der Kosten und des demographischen Problems sowie um die Beleuchtung der Hintergründe der Einführung von DMP und DRG (Disease-Management-Programme und Diagnosis Related Groups). Nadja Rakowitz kommt dabei zu der überraschenden These, dass es der Bundesregierung nicht um die Senkung der Ausgaben geht und sie dies eher zu verhindern sucht, da davon ein negativer Einfluss auf Konjunktur, Arbeitsmarkt und BIP ausgehen könnte. Stattdessen opfere sie das Solidarsystem zwischen Arbeitgeberinnen und ArbeitnehmerInnen und implementiert über steigende Selbstbeteiligungen einen Selektionsmechanismus, der, wie nicht erst die Einführung der Praxisgebühren deutlich zeigt, zu Lasten der ökonomisch schwachen Schichten geht.

Die 35 mm-Weitwinkel- Perspektive Europa: Nationale Gesundheitspolitiken, so wird in dem Beitrag von Rolf Schmucker deutlich, werden nicht mehr nur von nationalstaatlichen Rechten, sondern auch durch die Umsetzung von EU-Gesetzen beeinflusst. Schmuckers These ist, dass weniger die europäische Sozial- und Gesundheitspolitik, als vielmehr die drohende Umsetzung einer Dienstleistungsrichtlinie zu einem Deregulierungs- und Privatisierungsprojekt für die Gesundheits- und Pflegedienste werden könnte. Entwicklungen der nationalen Gesundheitssysteme werden bereits jetzt spürbar - und künftig womöglich noch zunehmend - durch das Gemeinschaftsrecht und dessen Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH) beeinflusst. Eine Privatisierung und Kommerzialisierung z.B. der Krankenversicherung könnte die Folge sein.

Die 135 mm-Tele-Perspektive der Mechanismen innerhalb des deutschen Systems. Drei Beiträge versuchen, exemplarisch, z.T. reformunabhängig und aus einer Mikroperspektive Auswirkungen der Strukturen und Mechanismen des Gesundheitssystems aufzuzeigen. Der Beitrag von Winfried Beck beschäftigt sich mit dem bereits erwähnten Angebot 'Individueller Gesundheitsleistungen', in der Branche verniedlichend 'IGeLn' genannt, mit der Medikalisierung der Wechseljahre von Frauen und mit etwas, das treffend als 'Grenzwert-Politik' bezeichnet werden kann (Abholz 2002). Dabei kommt Winfried Beck zu der Einschätzung, dass individuelle Gesundheitsleistungen nicht nur teuer sind für die, die sie in Anspruch nehmen, sondern potenziell gefährlich. Früherkennungsleistungen werden, so die These von Beck, nach wie vor in vernünftigem und notwendigem Maß von der GKV übernommen. Am Beispiel der Herabsetzung der Normwerte für die Knochendichte verdeutlicht er, wie die Festlegung neuer Grenzwerte den Bedarf verschreibungspflichtiger Medikamente - in diesem Fall von Hormonen als so genannte Hormonersatztherapie während und nach den Wechseljahren - mit begründet. Die Hormontherapie, weltweit ca. 100 Millionen Frauen verordnet und von ihnen genutzt, ist massiv in die Schlagzeilen geraten und stellt eines der Musterbeispiele für die Prozesse der Medikalisierung von Lebensphasen dar, an der Ärzteschaft und Pharmazeutische Industrie gleichermaßen verdienen.

Tief in die Mechanismen und Funktionen von Körperpolitiken, Normalisierungspraktiken und Belohnungssystemen dringt Walburga Freitag mit ihrem Beitrag über die Praktiken der Orthopädie nach der Geburt der contergangeschädigten Kinder ein. Die orthopädischen (und wie an anderer Stelle gezeigt auch die sonderpädagogischen) Disziplinen haben ihr Angebot, weniger nach dem Bedarf der Kinder, als vielmehr nach den jeweiligen Professionsinteressen ausgerichtet und mit den Wünschen der Eltern legitimiert. Normalisierungspraktiken und Dispositive zur Regulierung abweichender Körper müssen aber, so zeigt die Studie auch, nicht notwendiger Weise von denen, für die sie geschaffen wurden, anerkannt werden. Im Falle der Gruppe contergangeschädigter Frauen und Männer lässt sich zeigen, dass sie die Normalisierungsangebote der Disziplinen weitgehend ablehnten, Widerstand entwickelten und biographisch 'wahres' Wissen entwickelten.

Die am Beispiel von Contergan sich zeigenden Regeln und Strategien der medizinischen Disziplinen lassen die Hypothese zu, dass sie - nicht zuletzt auf dem Hintergrund der geltenden Vergütungssysteme des medizinischen Systems - zur zunehmenden Medikalisierung und Pathologisierung aller Lebens- und Körperbereiche führen, die die genetische Struktur der Ei-, Samen- und Embryonalzelle längst erreicht hat. Charakteristikum der Bestimmung von Abweichungen und Pathologisierungen ist die parallel mit ihr einhergehende Formulierung eines Normalisierungsangebots. Auch hierüber versuchen die Professionen, ihr Terrain auszuweiten. Aber: die Entwicklung von Dispositiven wird zum Motor der Professionalisierung nicht nur der Medizinischen, sondern fast aller Disziplinen des Wohlfahrts-, Erziehungs- und Gesundheitssystems. An der Schnittstelle von medizinischem und schul- und sonderpädagogischem System setzt der Beitrag von Nicola Raschendorfer an. Immer mehr Kinder, und davon fast 70 % Jungen (Fegert, Glaeske u.a. 2002) werden - vorwiegend im Schulalter - mit der Diagnose des Aufmerksamkeits-Defizit-Syndroms (ADS) konfrontiert. In ihrem Beitrag zeigt Nicola Raschendorfer die Prozesse der Medikalisierung der Kindheit und die Verquickung von medizinischen und pädagogischen Interessen auf. Lässt sich mit dem Verweis auf das Phänomen 'Legasthenie' der 1970er Jahre argumentieren, dass Medikalisierungsprozesse nicht neu sind, sondern seit mehr als 50 Jahren das Leben aller Bevölkerungsschichten tangiert, so kann man dem nur zustimmen. Neu ist jedoch die mediale Wucht, die gegenwärtig spürbar ist, mit der Kinder mit Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom, sog. 'dicke' Kinder oder diabetische Kinder in Form einer konzertierten Aktion benannt und stigmatisiert werden, der Begriff der Volksseuche wieder hoffähig und an der Individualisierung der Ursachen und Therapie gearbeitet wird. Selbsttechnologien als Therapeutikum haben die frühe Kindheit erreicht.

Walburga Freitag für die Redaktion der Widersprüche

Literatur

Abholz, Heinz-Harald 2002: Grenzwerte bei Früherkennungs-Untersuchungen; in: Jahrbuch für Kritische Medizin 36: 149-169.

Beske, Fritz 2004: Gesundheitskosten: Vorsicht mit Versprechungen; in: Deutsches Ärzteblatt 101 (27): A-1935 / B-1621 / C-1555.

Fegert, Jörg; Gerd Glaeske; Katrin Janhsen u. a. 2002: Untersuchung zur Arzneimittelversorgung von Kindern mit hyperkinetischen Störungen anhand von Leistungsdaten der GKV. Projektbericht. Bremen und Ulm. Universität Bremen

Kuhlmann, Ellen 2004: Gesundheitsreformen - Ziele, Chancen und Konflikte aus der Geschlechterperspektive. Vortrag auf der Tagung des 'Arbeitskreis Frauengesundheit in Medizin, Psychotherapie und Gesellschaft e.V.'. Berlin, November 2004