Privatisierung von Früherkennungsleistungen am Beispiel der Osteoporose
Abstract
Die Erfindung von neuen chronischen Massenkrankheiten und die Bereitstellung von dagegen wirkenden Medikamenten ist ein neues und besonders lukratives Operationsgebiet des medizinisch-industriellen Komplexes. Am Beispiel der Osteoporose und der Hormonersatztherapie in der Menopause der Frauen wird gezeigt, wie und mit welchen Folgen für die Bevölkerung die Öffentlichkeit und die ÄrztInnen manipuliert werden. Bei der Durchsetzung der kommerziellen Interessen der medizinisch-technischen und der pharmazeutischen Industrie kann diese nicht auf die Ärzteschaft verzichten. Deren Korruption ist daher trotz aller Standesgesetze an der Tagesordnung.
Beim Arztbesuch erleben Patienten immer häufiger die Anpreisungen vorbeugender Diagnostik über Broschüren, Plakate, aber auch durch die direkte Ansprache seitens der Arzthelferinnen oder durch den Arzt selbst. Dabei handelt es sich fast ausschließlich um Leistungen, die nicht von der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) übernommen werden und deshalb individuell bezahlt werden müssen. Mit Recht empören sich die PatientInnen über diesen Sachverhalt, zahlen sie doch von Jahr zu Jahr höhere Prämien in ihre Krankenkasse. Gleichzeitig entsteht der Eindruck, der Versicherungsschutz sei unvollständig und gerade die so wichtigen vorbeugenden Maßnahmen würden nicht bezahlt. Beim genaueren Hinsehen zeigt sich allerdings, dass wissenschaftlich begründete Früherkennungsleistungen unverändert und in vernünftigem und notwendigem Maße nach wie vor von der GKV übernommen werden und dass es sich bei den angepriesenen Leistungen in der überwiegenden Zahl um fragwürdige Zusatzangebote handelt. Deren Sinn besteht in erster Linie darin, das Honorar der von Budgetierung gebeutelten ÄrztInnen mit Hilfe dieser sogenannten individuellen Gesundheitsleistungen (IGeL) aufzubessern.
Beispiele: Da bieten AugenärztInnen zusätzliche Untersuchungen des Augeninnendrucks an, obwohl diese Leistung von der GKV in ausreichender Häufigkeit und Dichte angeboten werden. Frauenärzte bieten zusätzliche Krebsfrüherkennungsuntersuchungen an, obwohl wissenschaftlich kein Zweifel daran besteht, dass die von der GKV übernommenen sinnvoll und ausreichend sind. Schwangeren werden zusätzliche Ultraschalluntersuchungen angeboten, obwohl auch hier eine anerkanntermaßen ausreichende Dichte an Untersuchungen übernommen wird. Gynäkologen und Orthopäden bieten Knochendichtemessungen an, weil von der GKV eine solche aufwändige Untersuchung nur noch dann übernommen wird, wenn bereits ein Knochenschwund mit Knochenbrüchen in der Wirbelsäule (osteoporotische Frakturen) eingetreten ist.
Die Zahl der Beispiele ließe sich beliebig vermehren. Gerade die Osteoporosefrüherkennung zeigt aber exemplarisch, wie die Ärzteschaft von der Industrie benutzt wird, welche Folgen eine solche Maßnahme hat und welche Interessen dahinter stecken.
Grundsätzlich sind in der Medizin nicht notwendige diagnostische und therapeutische Maßnahmen kein Luxus, sondern potenziell gefährlich. Das nicht notwendige Medikament, die nicht notwendige Röntgenaufnahmen, die nicht notwendige Operation sind mit Risiken verbunden. Aber auch eine nicht notwendige Diagnostik ist nicht risikofrei, da es keine Methode ohne falsch positive Befunde gibt. Darunter versteht man scheinbar krankhafte Veränderungen, die dann entsprechende weitere Maßnahmen erzwingen, scheinbar, weil de facto kein krankhafter Befund vorliegt. Die unter PatientInnen verbreitete Ansicht ist, dass man gar nicht genug Diagnostik betreiben kann, um umfassende Klarheit zu gewinnen, ist also falsch, weil mit diesem Vorgehen Risiken in Form von unnötigen und gefährlichen Eingriffe verbunden sind. Wo viel geröntgt wird, wird auch viel operiert, und zwar mehr als notwendig. Gerade hat eine Studie des Institutes of Medicine die Öffentlichkeit wachgerüttelt. Demnach gehen in den USA zwischen 44 000 und 98 000 Todesfälle pro Jahr auf "unerwünschte Ereignisse" zurück; das in Kliniken gebräuchliche Wort für Fehler. Nach Angaben der Kongressleitung handelten sich zwischen drei und fünf Prozent aller aufgenommenen Patienten im Krankenhaus Infektionen ein. Die "Sterblichkeit durch Arzneimittel bedingter unerwünschter Ereignisse" betrage zwischen 0,04 und 0,95 Prozent (Frankfurter Rundschau vom 17.10.2004).
Zurück zur Osteoporose. Noch vor wenigen Jahren war diese Diagnose ein Ausnahmefall. Heute ist daraus eine Volkskrankheit geworden, von der überwiegend Frauen in den Wechseljahren, aber auch Männer befallen werden. Wie ist es dazu gekommen. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat Anfang der 90er Jahre eine Konferenz zu den geltenden diagnostischen Kriterien der so genannten postmenopausalen Osteoporose = Knochenschwund in den Wechseljahren durchgeführt und beschlossen, dass die für die Osteoporose typischen Knochenbrüche nicht zur Diagnostik erforderlich sind und dass bereits eine Knochendichte von weniger als 2 ½ Standardabweichungen derjenigen junger Frauen als Osteoporose zu bezeichnen sind. Diese Konferenz wurde von den Pharmafirmen Rohrer, Sandoz und Smith Kline Beecham gefördert. Damit war der entscheidende Schritt für die Umwandlung der bisher seltenen Erkrankung zu einer Volkskrankheit gemacht. Parallel dazu waren Medikamente entwickelt worden, die weiblichen Geschlechtshormone Östrogene und Gestagene, seit einigen Jahren auch die so genannten Biphosphonate. Um die Notwendigkeit einer medikamentösen Behandlung sowohl in der Öffentlichkeit, aber vor allem in der Ärzteschaft zu verankern - schließlich handelt es sich um verschreibungspflichtige Arzneimittel - wurden zahlreiche, zum Teil neuartige Wege beschritten. Selbsthilfegruppen wurden gegründet und großzügig gesponsert, Artikel in die Laienpresse lanciert und die Ärzteschaft mit einer Flut von wissenschaftlichen Artikeln in der Standespresse, Fortbildungsveranstaltungen, Werbebriefen etc. überschwemmt. Die Folge war, dass kaum ein Besuch beim Frauenarzt ohne den Hinweis auf die gewissermaßen grundsätzlich in den Wechseljahren einzunehmenden Östrogene auch zur Vermeidung der Osteoporose erfolgte. Millionen von Frauen in den Wechseljahren wurde ein schlechtes Gewissen gemacht, wenn sie nicht auch zu den Östrogen einnehmenden Frauen gehörten, und damit leichtfertig das Risiko nicht nur von Knochenschwund, sondern auch eines frühzeitigen Herzinfarktes, einer Alzheimer Krankheit, eines gestörten Sexuallebens, eines hohen Cholesterinspiegels usw. usf. in Kauf nehmen wollten. Und da sich mit einer Tabelle Schwarz auf Weiß besser argumentieren lässt, wurden mehr und mehr diagnostische Geräte zur Messung der Knochendichte in den Praxen angeschafft und gegen privates Honorar eingesetzt. Dass es sich dabei um zum Teil äußerst unzuverlässige Methoden handelte wie etwa die Ultraschalluntersuchung des Fersenbeins, wurde in der Öffentlichkeit nicht beachtet. Weder ÄrztInnen noch Industrie waren an einer Kostenübernahme durch die GKV interessiert, fielen doch dann diese Leistungen unter die Budgetierung und könnten somit nicht mehr zusätzlich privat abgerechnet werden. Außerdem käme es dann zu lästigen Qualitätskontrollen mit möglicher Sanktionierung für ÄrztInnen und Hersteller. (Privat erbrachte Leistungen können im Gegensatz zu GKV-Leistungen ohne jede Qualitätskontrolle erbracht werden.)
Dass es sich bei diesem wahrscheinlich größten bekannten Menschenversuch, nämlich an der Hälfte der Frauen zur Hälfte ihrer Lebenszeit, zum Schaden ihrer Gesundheit gehandelt hat ist seit kurzem belegt. Eine der weltweit größten Studien zur so genannten Hormonersatztherapie für Frauen nach den Wechseljahren in den USA, die Women's Health Initiative, bei der 16.000 Frauen im Durchschnitt über fünf Jahre eine kombinierte Östrogen/Gestagen-Mischung einnahmen, wie sie auch bei uns üblich ist, wurde von den Aufsichtsgremien in den USA vorzeitig gestoppt, weil sich die Risiken als größer erwiesen als der Nutzen. Die Zunahme des Brustkrebses betrug 26%, eine bereits erwartete Größe. Überraschender war, dass auch das Herzinfarktrisiko nicht sank, sondern stieg. Von 10.000 Frauen müssen pro Jahr im Vergleich zu Placebo, also einem unwirksamen Scheinmedikament zusätzlich sieben mit einem Herzinfarkt, acht mit einem Schlaganfall und 18 mit Thrombosen rechnen. Die Vermeidung von sechs Darmcarcinomen und fünf Hüftgelenksfrakturen reichten nach Auffassung der Aufsichtsbehörde nicht aus, um die Risiken aufzuwiegen.
In den USA rät inzwischen jeder zweite Arzt von der Einnahme dieser Medikamente ab. Anwälte bereiten Sammelklagen von Frauen vor, die sich durch die Einnahme der Hormone geschädigt fühlen. Schließlich hatten die Studienleiter u.a. öffentlich erklärt: "Nutzen Sie keine Östrogen-Gestagen-Präparate um einer chronische Erkrankung vorzubeugen" und: "Das Herzinfarkt- und Thromboserisiko ist schon zu Beginn der Therapie erhöht". Hierzulande geschah allerdings eher das Gegenteil. Wer mit einem Paradigmenwechsel im Umgang mit Wechseljahrbeschwerden gerechnet hätte, sah sich zunächst getäuscht. Die Pharmaindustrie und die von deren Werbung abhängigen Fachzeitschriften eröffneten sofort nach Bekanntwerden ein publizistisches Feuerwerk, um an der Östrogen/Gestagen-Therapie zu retten, was zu retten war. Schließlich nahmen täglich 11 Millionen Frauen diese Medikamente ein, machte alleine das Unternehmen Wyeth mit diesen Präparaten Jahr für Jahr einen Umsatz von zwei Milliarden Dollar. Anerkannte Professoren lassen sich gegen ein natürlich nicht genanntes Honorar für diese Kampagnen einspannen. Im Gegensatz zu den USA fühlen sich Wissenschaftler bei uns nur in Ausnahmefällen verpflichtet, ihre finanziellen Verflechtungen zu veröffentlichen, ihre Auftraggeber und die Höhe des Honorars zu nennen. Allen voran ist der Vorsitzende des Arbeitskreises "Steroide in Kontrazeption und Substitution" des Berufsverbandes der Frauenärzte Prof. Dr. med. Alexander Teichmann zu nennen. In einem sog. Patienten-Informationsblatt, per fax an alle 11000 Mitglieder des Berufsverbandes versandt, wurden die Ergebnisse der Studie auf bizarre Weise verdreht, nicht einmal der Abbruch und die Begründung dazu erwähnt. "Weitere Exemplare dieses Patientenaufklärungsbogens können sie über die Unternehmen Schering beziehungsweise Jenapharma die freundlicherweise auch diese Faxaktion unterstützt haben unter folgender Faxnummer anfordern." Dass Teichmann selbst ein gefragter Referent bei Firmen wie Schering ist bleibt natürlich im Dunkeln. Auch die durch die Bundesrepublik tourende "Mobile Osteoporose-Forschungsstation", die eine eingehende Vorsorgeuntersuchung bietet und von der Patientenorganisation Kuratorium Knochengesundheit e.V. und dem Zentrum für Muskel- und Knochenforschung Berlin initiiert wurde, ist keineswegs über jeden Zweifel erhaben, wird diese Aktion doch durch 14 Pharma- und Medizinproduktehersteller und einer Stiftung gesponsert. In einem mir vorliegenden Bericht über eine bis dahin beschwerdefreie 78-jährige Frau wird nach Diagnose einer deutlich erniedrigten Knochendichte mit einem deutlich erhöhten Knochenbruchrisiko "im Sinne einer Osteoporose per Definition der WHO" die Einnahme von Medikamenten empfohlen. Erst danach heißt es: "Ein Muskulatur aufbauender Sport wirkt ebenfalls schützend gegen einen weiteren Knochenmassenverlust", während auf eine entsprechende Diät bzw. ein vernünftiges Ernährungsverhalten überhaupt nicht eingegangen wird. Genau umgekehrt wäre die Reihenfolge richtig, weil nämlich in erster Linie die um sich greifende Bewegungsarmut in den westlichen Zivilisationen, verbunden mit einer falschen Ernährung, gekennzeichnet durch Fast Food, zu viel Fleisch und Fett bei zu wenig Gemüse, Obst und Kräutern die wesentlichen Ursachen für die Entwicklung eines krankhaften Knochenschwundes im Alter sind.
Das Beispiel der Hormonersatztherapie in den Wechseljahren wird nicht das letzte sein. Die Pharmaindustrie setzt weltweit auf eine veränderte Wahrnehmung von Krankheit. Normale Lebensprozesse werden zunehmend zum medizinischen Problem erklärt, z.B. Glatze bei Männern, milde Symptome eines gutartigen Leidens werden zu Vorboten einer schweren Erkrankung, z.B. Reizdarmsyndrom, Krankheitshäufigkeiten werden überzeichnet, Beispiel Erektionsstörungen. In Großbritannien gar wurde spekuliert, ob es nicht sinnvoll sei, eine Megapille gegen die häufigsten Zivilisationskrankheiten auf den Markt zu bringen: Eine "Gegenallespille" zur medikamentösen Generalabsolution für ungesundes Essen, Trinken und überhaupt Leben (gedacht war an ASS, ein Betablocker, ein CSE Hemmer, Allopurinol...) Wie aber diese "Errungenschaften" an die Konsumenten und Verordner bringen? Die Ausgaben der Pharmaindustrie für Endverbraucherwerbung (die USA und Neuseeland sind die einzigen Länder, in denen Pharmakonzerne direkt beim Patienten in Fernseh- und Radiospots oder in Zeitschriften auch für verschreibungspflichtigen Arzneimittel werben dürfen!) stiegen nach Angaben der Marktforschungsgesellschaft TNS Media Intelligence allein im vergangen Jahr um 24 % auf 3,2 Milliarden US-Dollar (FAZ vom 14.10.2004). Für das Potenzmittel Viagra von Pfizer betrug das Werbebudget beispielsweise 112 Millionen US-Dollar. Klarer Spitzenreiter ist das Magen-Darm-Präparat Nexium des britisch-schwedischen Konzerns Astra-Zeneca mit Werbeausgaben von 257 Millionen US-Dollar bei einem Gesamtumsatz von 3,1 Milliarden US-Dollar, also von mehr als 8 %.
Und nicht immer kommen die Werbefeldzüge so plump daher wie bei der Anpreisung von Magnesium in Tablettenform gegen alle möglichen Alltagsbeschwerden, wenn es in der Werbeaussage in Apothekerzeitungen heißt: "Jetzt auch als leckere Lutschtablette, mehr Umsatz für Sie, mehr Geschmack für den Kunden" (Immerhin werden jährlich 50 Millionen Euro für diese Präparate ausgegeben, obwohl es nur ganz wenige Indikationen für die Verordnung, etwa bei einem ernährungsbedingten Magnesiummangel bei schwerwiegender Grundkrankheit gibt.
Die Ärztin Marcia Angell, ehemalige Chefredakteurin des bedeutenden Fachmagazins "New England Journal of Medicine" fasste die Problematik treffend zusammen: "Früher haben Pharmakonzerne Medikamente vermarktet, um Krankheiten zu behandeln. Heute vermarkten sie Krankheiten, die zu ihren Medikamenten passen."
Die ÄrztInnen seien daran erinnert, dass sie die vier Grundsätze einer professionellen ärztlichen Arbeit nicht durch die Beziehung zur Industrie gefährden dürfen.
- ÄrztInnen müssen im besten Interesse der PatientInnen handeln (benefiz)
- ÄrztInnen müssen PatientInnen vor Schaden bewahren (non malefiz)
- ÄrztInnen müssen PatientInnen und deren Willen respektieren und einen aufgeklärten Konsens anstreben (Autonomie)
- ÄrztInnen müssen die dem Gesundheitssystem zur Verfügung stehenden Mittel problembezogen auf alle PatientInnen verteilen (Gerechtigkeit)
(Aus: Positionspapier der Sektion Innere Medizin des American College of Physicians - Ann. Intern. Med. 2002, 136, 396)
Das große Geld wird also sowohl in der Industrie als auch innerhalb der Ärzteschaft zunehmend nicht mit der Heilung von Krankheiten, der Betreuung chronisch kranker und behinderter Menschen gesehen, sondern im Ausschlachten von Befindlichkeitsstörungen verdient. Aus dem Patienten wird ein Kunde, aus dem Solidarprinzip ein Kaufkraftprinzip und aus dem öffentlichen Gut Gesundheit ein privatwirtschaftliches. Die Gesundheit wird zur Ware. Angesichts der geradezu grenzenlosen finanziellen und logistischen Möglichkeiten der großen Konzerne aus dem medizinisch-industriellen Komplex ist eine Gegenöffentlichkeit nur sehr schwer herzustellen. Entscheidend wird sein, das kritische Bewusstsein der Menschen wach zu halten, Misstrauen gegenüber Anregungen in der Laienpresse oder beim Arztbesuch zu behalten und sich daran erinnern, dass in der Medizin fast immer weniger mehr ist und dass eine gesunde Lebensweise mit einer ausgewogenen Ernährung, viel Bewegung und der Vermeidung von Genussgiften die beste Vorbeugung für alle Krankheiten darstellt.