Wem hilft die Kinder- und Jugendhilfe? II - Heimerziehung und Heimerfahrung

Editorial

Erst kürzlich haben wir ein Schwerpunktheft zur Heimerziehung herausgebracht. Das Heft 129 trägt den Titel: "Wem hilft die Kinder- und Jugendhilfe? Gegebene Antworten und aktuelle Kontroversen". Dabei zielte unser Interesse darauf, die hegemonialen Akteure in der BRD und in der ehemaligen DDR sowie die Absichten an der Einbindung der Kinder- und Jugendhilfe in spezifische Macht- und Moraldiskurse (eher sicherheits- contra eher emanzipationsorientiert) zum Thema zu machen.

Nicht alle dafür vorgesehenen Beiträge ließen sich im Heft 129 unterbringen. Deshalb, aber auch angesichts der brennenden Aktualität des Themas sowie etlicher deshalb "liegen gebliebener" Aspekte haben wir ein weiteres Heft zu diesem Thema zusammengestellt. Die Beiträge fragen aus unterschiedlichen Perspektiven nach den komplizierten Ermöglichungsbedingungen einer nicht-repressiven Pädagogik in der Heimerziehung.

Wenn man auf deren lange Geschichte blickt, zeigen sich neben und in den hartnäckigen Kontinuitätslinien autoritärer und repressiver Heimpraxis Brüche, in denen die Möglichkeiten einer anderen, einer demokratischen und humanen Praxis hervor scheinen oder gar zum gelebten Projekt werden. Solche Brüche verdanken sich dem unermüdlichen Engagement einzelner, in der praktischen und wissenschaftlichen (Sozial-)Pädagogik und in der Politik involvierter Personen, aber auch dem Aufbegehren und den Protesten der "Zöglinge", schließlich liberalisierten rechtlichen Rahmenbedingungen, welche einem aufgeklärten Zeitgeist und/oder technokratisch begründetem Reformbedarf geschuldet waren. Wie weit solche Brüche eine "andere" Kontinuität befördert und den Kindern und Jugendlichen ein anderes (Er-)Leben ermöglicht haben oder eben doch nur als Projekte stecken blieben und bleiben, ist nicht abschließend beantwortet. Das gilt auch für die Frage, welche Rolle die Verfasstheit von Institutionen, (wissenschaftlich begründete) Erziehungskonzepte, die Qualifikation und Haltung der Pädagog_innen für den Erfolg und eine dauerhafte Durchsetzung von Brüchen spielte und spielt. Denn bis heute bleibt das historisch repressivste Grundmuster der Heimpraxis samt der sie begleitenden rechtlich, moralisch oder pädagogisch legitimierten Debatten aktuell: die geschlossene Unterbringung.

Der sozialpädagogische Optimismus in den siebziger und achtziger Jahren, den Reformjahrzehnten der Kinder-und Jugendhilfe, musste inzwischen der bitteren Erkenntnis weichen, dass einmal erreichte Änderungen in Theorie und Praxis der Sozialpädagogik, selbst wenn sie die Bedeutung eines Paradigmenwechsels haben, nicht für alle Zeiten gesichert sind. 1990/91 schien mit der ersatzlosen Streichung der geschlossenen Unterbringung, der Fürsorgeerziehung und der Freiwilligen Erziehungshilfe sowie des "unbestimmten Rechtsbegriffs Verwahrlosung" im neuen KJHG/SGB IIIV, der Ausdifferenzierung ambulanter Erziehungshilfen und des Partizipationsgebotes, die auf Zwang und Einschließung setzende repressive Praxis der Heimerziehung endgültig der Geschichte anzugehören. Heute, nach kaum fünfundzwanzig Jahren, wird diese Praxis von öffentlichen und freien Trägern wieder offen propagiert und praktiziert.

Zwar ist jüngst ein "Bruch" in dieser Linie zu vermelden: Die Jugendhilfeeinrichtungen der Haasenburg-GmbH in Brandenburg, die mit Kindern und Jugendlichen aus verschiedenen Bundesländern belegt worden waren, wurden bis zum Ende 2013 geschlossen. Dem Betreiber wurde im November 2013 die Betriebserlaubnis durch das Brandenburgische Jugendministerium entzogen. Dies geschah nach einer nahezu ein Jahr dauernden hartnäckigen Recherche und Aufdeckung der dortigen katastrophalen Heimpraxen und deren langjähriger stillschweigender Duldung durch Heimaufsicht und Landesjugendamt. Aber auch, wenn nun allerorten ein bashing solcher repressiven pädagogischen Praxen zu hören ist, sind deren Kontinuitätslinien keineswegs aus der Welt.

Zu den Beiträgen im Einzelnen

Einleitend zeichnen Manfred Kappeler und Hans Thiersch Kontinuitätslinien repressiver Heimerziehung seit den 50er Jahren bis in die heutige Zeit hinein nach. Im Rückgriff auf die Ergebnisse des 2006 durch die Initiative des Vereins ehemaliger Heimkinder eingerichteten Petitionsausschusses des Bundestages zu den Zuständen in deutschen Heimen seit den späten 40er bis in die 70er Jahre und unter Verwendung von Fragebogenerhebungen an ehemaligen Heimkindern und Erzieher_innen der Diakonischen Einrichtung Karlshöhe beschreibt Manfred Kappeler für beide Gruppen nach- und an dauernde Erfahrungen, die gleichermaßen, wenn auch höchst unterschiedlich begründet und konnotiert, von Scham, Schuld und Verdrängung geprägt sind. Das Sprechen darüber stellt für beide immer wieder ein Wagnis dar und wird nicht unbedingt "belohnt", wie Erfahrungen im öffentlichen/medialen Umgang mit der Debatte um die repressiven Traditionen der Heimerziehung zeigen, wo hingegen ein Verschweigen solche Traditionen eher stärkt.

Hans Thiersch befasst sich mit dem Zusammenspiel vom System der Heimerziehung und der Erziehungspraxis: Systeme bestimmen den Stil! Mit dem Verweis, dass Erziehung als Interaktionsgeschehen stets durch eine Macht-Asymmetrie gekennzeichnet ist ("Erziehung ist zur Macht veranlagt"), argumentiert er nicht nur gegen vergangene, sondern auch gegen aktuell lauernde oder gar existierende und künftige Gefährdungen ("Todsünden") der Pädagogik als einer Pädagogik der Miss-Achtung, der Nicht-Anerkennung, der Ausgrenzung von "Überflüssigen".

Wie zerstörerisch sich eine solche schwarze Pädagogik auf diejenigen auswirkte, die ihr ausgeliefert waren, darüber gibt Annelen Schünemann-Kroner Auskunft, die als Kind einige Jahre im Kinderheim der Diakonischen Einrichtung Karlshöhe gelebt hat. Annelen Schünemann Kroner beschreibt in ihrem ergreifenden Text das nicht lösbare Dilemma, einerseits die bösartigen und bedrückenden Erinnerungen an ihre Heimzeit vergessen zu wollen (und auch zu sollen!), andererseits aber genau dieses ein Leben lang nicht zu können.

Anhand einer historiografischen Auseinandersetzung mit der "Krise der Fürsorgeerziehung" seit den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts bis heute untersucht Johannes Richter die diskursive Doppelfigur der Jugendhilfe resp. der Heimerziehung: hier die schutzlosen schwachen Kinder, dort die unbändigen verwahrlosten Jugendlichen, die als roter Faden jugendpolitische Programme, pädagogische Konzepte und Arrangements sowie deren Legitimierung prägten und aktuell prägen. Die Wirkmächtigkeit dieser dichotomischen Setzung und das leichte Spiel, sie politisch dienstbar zu machen, sieht Richter unter anderem in einer Ausblendung der jeweiligen gesellschafts-, insbesondere der jugendpolitischen Kontexte begründet, und damit zusammenhängend in einer nahezu im Verschwinden begriffenen Tradition der fachgeschichtlich fundierten Rahmung von Fürsorgeerziehung.

Der Beitrag von Marcus Hußmann knüpft an den von Thiersch thematisierten Zusammenhang von "System" und "Stil" an. Er arbeitet anhand von (aktuellen) Erzählungen junger Menschen in teilgeschlossener, geschlossener und wohnortnaher Unterbringung den negativen Einfluss professionellen Handelns auf deren dramatische Fallverläufe heraus. Im Ergebnis stellt er Beispiele entwertender und exkludierender, dominant auf das Hilfesystem bezogene Muster professionellen Handelns vor ("Relationsmuster"), die sich unterscheiden lassen im Hinblick auf Charakteristika "serieller Selbstbezogenheit" (unsystematische und nicht abgestimmte Handlungsweisen und Interaktionsformen) bzw. auf solche "fortschreitender Schließung" (Eliminierung der vertrauten, selbstgewählten, gewachsenen Sozialität).

Dorothee Bittscheid und Timm Kunstreich diskutieren die Ermöglichung bzw. Verhinderung nicht-repressiver Praxen von Heimerziehung unter macht-strategischen Gesichtspunkten. Ihr Ausgangspunkt ist die Kampagne "Menschen statt Mauern" aus den 80er Jahren in Hamburg, die mit der ersatzlosen Streichung der geschlossenen Heime endete. In Rückbesinnung auf die Machtkämpfe der US-Bürgerrechtsbewegung in den 60er und 70er Jahre und ein von Bacharch und Barratz entwickeltes macht-strategisches Handlungsmodell zeichnen sie den Verlauf dieser erfolgreichen Kampagne als ein Zusammenspiel diverser reformwilliger Akteure und deren Prioritäten, Ressourcen, Strategien und Interaktionen nach. Dass dieser Erfolg letztlich nicht von Dauer war (s. die Wiedereinführung geschlossener Unterbringung 2002), lag nach Meinung der beiden Autor_innen nicht nur am Abbröckeln der Reformbefürworter und -unterstützer in Politik, Verwaltung und in der Zivilgesellschaft, am Aufwind der Hardliner und, damit verbunden, an einer diskursiven Verschiebung des Themas, sondern ebenso an der strukturellen und institutionellen Verfasstheit der Träger von Jugendhilfe (Versäulung statt Vernetzung, Konkurrenz statt Kooperation, Kampf um Deutungshoheit).

Den Heftschwerpunkt schließen zwei Beiträge ab, die Einblicke in die Arbeit der regionalen Anlauf- und Beratungsstellen Heimerziehung (ABH) geben. Diese wurden gewissermaßen als vorläufiger Schlusspunkt der öffentlich-politischen Bearbeitung des Unrechts an Kindern und Jugendlichen in Erziehungsheimen der 50er und 60er Jahre (BRD) bzw. der 50er bis 80er Jahre (DDR) gemeinsam mit einem Fonds Heimerziehung vom Runden Tisch Heimerziehung mit dem Auftrag der materiellen und psychologischen Unterstützung für ehemalige Heimkinder bei heute noch bestehenden Folgen/Beeinträchtigungen ins Leben gerufen (zum gesamten Prozess des Kampfes der ehemaligen Heimkinder um die Anerkennung des ihnen angetanen Unrechts vgl. auch die Beiträge von Manfred Kappeler in den Heften 111 und 123).

Als Vorsitzender des Fachbeirates zur Begleitung der Berliner Anlauf- und Beratungsstelle für ehemalige Heimkinder unterzieht Ingo Skoneczny das Zustandekommen, die Konstruktion und die Praxis der Fonds zur Rehabilitation und Entschädigung ehemaliger Heimkinder einer kritischen Analyse. Während noch die Fondsidee aus dem "Geist" des Runden Tisches Heimerziehung geboren zu sein schien, zeigten sich bereits im Vergleich der Konstruktion der beiden Fonds West und Ost gravierende Nachlässigkeiten, Versäumnisse und Engführungen, die einmal mehr zum Nachteil der Heimkinder Ost gingen. Hinsichtlich der Beschreibung der praktischen Umsetzung und deren miserabler (materieller und fachlicher) Rahmung stellt sich endgültig die Vermutung vom "ungeliebten Kind Fondslösung" ein.

Mit ihrem Forumsbeitrag greifen Manfred Kappeler und C.W. Müller die Kontroverse um den Beitrag von Eberhard Mannschatz im "Grundkurs Soziale Arbeit II" von Timm Kunstreich auf (vgl. auch das Forum der Widersprüche 127), indem sie aus ihrer heutigen Perspektive an ein erstes Treffen zwischen Mitarbeiter_innen der beiden Institute für Sozialpädagogik in West- und Ostberlin (TU und HU) erinnern. Dieses fand im Januar 1990 statt, also noch zu DDR-End-Zeiten, und ging auf eine Einladung der Ostberliner Kolleg_innen zurück. Der Beitrag verdeutlicht beispielhaft die damals verbreitete Haltung westdeutscher linker Intellektueller: "Empathie plus Unwissen bei zurück(ge)haltender Kritik", die im Effekt jedoch dazu beitrug, wichtige Fragen nicht zu stellen und statt einer offenen Kommunikation formalisierte Konversation zu betreiben.

Zudem machen wir im Forum mit dem Abdruck eines Beitrags auf das jüngst erschienene kritische Handbuch zu aktuellen Leitbegriffen der Sozialen Arbeit aufmerksam. Der Band versammelt Analysen zentraler Begriffe im Spannungsfeld von öffentlichem Diskurs und Fachdiskurs der Sozialen Arbeit. Der Beitrag von Tilman Lutz, "Widerspruch und Ordnung", thematisiert diese beiden "subkutane(n) Leitbegriffe, die als konstitutive und zugleich unbehagliche Bezugspunkte" wenig explizit bzw. prominent bearbeitet werden in ihrer Genese sowie in ihrer derzeitigen Relevanz im Kontext der aktivierenden und ordnungspolitischen Wende, aber auch mit Blick auf die kritischen Bewegungen in der Sozialen Arbeit.

Die Redaktion