Was kommt danach? Gesellschaftliche Perspektiven jenseits des Neoliberalismus

Editorial

"Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren. Unveränderte Beibehaltung der alten Produktionsweise war dagegen die erste Existenzbedingung aller früheren industriellen Klassen. Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisepoche vor allen anderen aus. Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen."

(Marx/Engels 1848/1972: 465; vgl. Berman 1988; Stedman Jones 2002)

Nachdem gegenwärtig in vielen Feuilletons auf Marx verwiesen, von Konservativen wie Charles Moore bis Frank Schirrmacher der Linken ob ihrer Analysen Recht gegenüber den Rechten gegeben und von Warren Buffett "Stopp Coddling The Super-Rich" (New York Times v. 14.8.11) und Michael Naumann "Wir brauchen bürgerliche Kontrollen, die der Fuck-you-Politik der Finanzwelt etwas entgegensetzen" (FAS v. 28.8.11) gefordert wird, scheint es an der Zeit, sich Gedanken über gesellschaftliche Verhältnisse und Perspektiven, damit auch über gesellschaftspolitische Strategien und ihre Träger, für eine Zeit nach der Herrschaft des Neoliberalismus zu machen - nicht zuletzt auch um die vom Neoliberalismus und seinen Trägern verursachten gesellschaftlichen Probleme und Zerstörungen zu bearbeiten (vgl. dazu etwa die Widersprüche-Hefte 69, 85, 97, 98, 99, 102, 105, 119/120).

Dabei geht es zunächst einmal darum, sich zu vergegenwärtigen, was es mit Genesis und Geltung des Neoliberalismus auf sich hat(te), welche Klasseninteressen und Klassenstrategien hier maßgeblich waren, was zum "Aufleben" des Finanzkapitals warum beigetragen und zu welchen Folgen geführt hat, bevor nach Alternativen gefragt und gesucht werden kann.

"Die historische Dimension der gegenwärtigen Krise sprengt die tradierten Formen der Krisenbewältigung. Denn erstens sind Staaten und nicht mehr private Banken oder Unternehmen verschuldet, zweitens hat die Höhe der Verschuldung, gemessen am jeweiligen Sozialprodukt oder den Exporteinnahmen, fast absurde Dimensionen erreicht, und drittens sind die Gläubiger nicht einzelne Staaten oder Unternehmen, sondern das hochgradig verflochtene und sensible System der transnationalen Banken. Die Rückwirkungen von Bankenzusammenbrüchen wären global und für die gesamte Weltwirtschaft fatal. Dem Charakter dieser in den 'normalen' kapitalistischen Formen nicht mehr zu 'bereinigenden' Krise entsprechend können die Vorschläge zur Bewältigung der Krise nur radikal sein: Es ist unmöglich, aus den Schuldnerländern Jahr für Jahr einen Nettokapitalexport herauszupressen, der noch nicht einmal ausreicht, um die Schuldenlast zu verringern; im Gegenteil, die Schulden haben trotz heroischer Anstrengungen der verschuldeten Länder noch zugenommen. Das bislang praktizierte System der kurzfristigen Umschuldungen kann den Augenblick der Wahrheit hinausschieben, aber nicht vermeiden", schrieb Elmar Altvater einleitend 1985 in einem Interview mit Fidel Castro mit dem Titel "Die Verschuldungskrise der Weltwirtschaft und die aufhaltsame Zerstörung des Kapitalismus durch die Banken" (Castro 1985: 544) - und wir erfahren grade Mitte Oktober 2011, dass "man nun damit rechnet, Griechenland werde mindestens 250 Milliarden Euro in den nächsten Jahren benötigen <...>.

Folgt man der Analyse des Aufstiegs des Neoliberalismus von Keith Dixon (2000; vgl. Hirschman 1995; Saul 1997; Todd 1999; Bourdieu 2004), dann werden Vorgeschichte, Geschichte und Ende dieser Erscheinungsweise von Finanzkapitalismus zumindest etwas deutlicher: Es handelt sich nicht allein um Thatcher und Reagan (1), ihre Klassenpolitik nach der Krise des Keynesianismus, sondern immer auch um das ideologische Vorspiel von "Ökonomien" im Übergang von der Mont-Pèlerin-Gesellschaft zum Institute of Economic Affairs (Dixon 2000: 21-45). Zudem kommt für die "Vorgeschichte" das erste "Experiment" zur Realisierung des Phänomens "Neoliberalismus" zum Tragen, was mitentscheidend für die Einschätzung von dessen Charakter ist. In den Worten von Noam Chomsky: "Ich spreche natürlich von dem, was in Lateinamerika häufig das 'erste 9/11' genannt wird: dem 11. September 1973, als die intensiven Bemühungen der USA, die demokratische Regierung Salvador Allendes in Chile mit einem Militärcoup zu stürzen, aus dem General Pinochets brutales Regime hervorging, Erfolg hatten. Das Ziel war, in den Worten der Regierung Nixon, das 'Virus' zu töten, das all jene 'Ausländer, uns linken wollen', ermutigen könnte, ihre Mittel selbst in die Hand zu nehmen und eine nicht zu duldende Politik unabhängiger Entwicklung zu verfolgen. Dahinter stand die Schlussfolgerung des Nationalen Sicherheitsrats, dass die USA, wenn sie Lateinamerika nicht kontrollieren könnten, kaum erwarten dürften, 'anderswo auf der Welt eine erfolgreiche Ordnung herzustellen'. <...> In seiner History of the Cold War schreibt der Lateinamerikaforscher John Coatsworth, dass ab jener Zeit bis 'zum Zusammenbruch der Sowjetunion 1990 die Zahl der politischen Gefangenen, Folteropfer und Exekutionen gewaltfreier politischer Dissidenten in Lateinamerika diejenige der Sowjetunion und ihren osteuropäischen Satelliten bei weitem überstieg'; darunter waren auch zahlreiche religiöse Märtyrer und Massenexekutionen, die stets von Washington unterstützt oder dort initiiert wurden" (Chomsky 2011: 7). Wesentlich ist dabei eben, dass Chile das Erprobungsfeld für den Neoliberalismus der "Chicago-Boys" wurde.

Auch wenn der chilenische diktatorische Weg in Westeuropa nicht verallgemeinert wurde, bleibt doch festzuhalten, dass die Zerstörung von Gesellschaftlichkeit auf den Weg gebracht wurde, indem klassenspezifisch "Gier" als Ausdruck von "Egoismus" internalisiert und strukturell eine weitere Spaltung der Gesellschaft in "Reiche" und "Arme" betrieben wurde. (2) In den Feuilletons wurden allerdings die Folgen lange Zeit fast nur kulturkritisch und nicht gesellschaftsanalytisch (ab)gehandelt.

Angesichts der gegenwärtigen Krise scheint die Frage nach gesellschaftlichen und gesellschaftspolitischen Antworten zu den gegenwärtigen Verhältnissen nicht mehr so hypothetisch wie noch kurze Zeit zuvor. Auch wenn die Antwort "Sozialismus, warum denn nicht?", die Burkart Lutz als ausgewiesener empirischer Gesellschaftsanalytiker (vgl. Lutz 1984) in einem Interview zu der Problematik gesellschaftlicher Perspektiven heute gegeben hat (2009), immer noch verblüffen mag, gilt es doch, Befunde und Perspektiven miteinander zu vermitteln. Dem dienen die Beiträge in unterschiedlichen Akzentuierungen - von politischer Ökonomie bis Kriminalpolitik - im Thementeil dieser Ausgabe der Widersprüche, deren Titel "Nach dem Neoliberalismus?" und Konzept - und darauf ist diesmal gesondert hinzuweisen - im Januar diesen Jahres "erfunden" und entwickelt wurden.

Die Redaktion

Literatur

Berrman, M. 1988: All That IS Solid Melts Into Air. The Experience of Modernity. New York

Bourdieu, P. 2004: Interventionen 1961-2001. Bd. 3 + 4. Hamburg

Castro, F. 1985: Die Verschuldungskrise der Weltwirtschaft und die aufhaltsame Zerstörung des Kapitalismus durch die Banken - eingeleitet von E. Altvater, in: Leviathan 13, 537-557

Chomsky, N. 2011: Gab es eine Alternative? Terorismus und imperiale Mentalität, Universalität und zweierlei Maß, in: Lettre International H. 94, 7-9

Dixon, K. 2000: Die Evangelisten des Marktes. Konstanz

Hirschman, A. 1995: A Propensity to Self-Subversion. Cambridge/London

Lutz, B. 1984: Der kurze Traum immerwährender Prosperität. Eine Neuinterpretation der industriell-kapitalistischen Entwicklung im Europa des 20. Jahrhundert. Frankfurt/M.

Lutz, B. 2009: "Sozialismus, warum denn nicht?", in: Mitbestimmung H. 1+2, 48-51

Marx, K. 1969: Das Kapital. 1. Bd. Berlin

Marx, K./Engels, F. 1972: Manifest der Kommunistischen Partei, in: MEW Bd. 4, 491-493

Saul, J. R. 1997: Der Markt frißt seine Kinder. Wider die Ökonomisierung der Gesellschaft. Frankfurt/M.

Stern, F. 2007: Fünf Deutschland und ein Leben. Erinnerungen. München

Stedman Jones, G. 2002: Introduction, in: Marx/Engels, The Communist Manifesto. London, 3-187

Sünker, H. 2010: Der "kleptokratische Steuerstaat" und Philanthropie als "Gutmenschentum". Wie Sloterdijk mit der Gesellschaftsanalyse Schlitten fährt, in: Soziale Passagen 2, H. 1, 79-94

Todd, E. Die neoliberale Illusion. Über die Stagnation der entwickelten Gesellschaften. Zürich

Anmerkung

Auch wenn Marx bestimmt, "daß die ökonomischen Charaktermasken der Personen nur die Personifikationen der ökonomischen Verhältnisse sind, als deren Träger sie sich gegenübertreten" ((1969: 100, vgl. 16), ist festzuhalten, dass es gesellschaftlich mehr als nur den ökonomischen Handlungsbereich, also individuelle Verantwortung, gibt. Interessant ist in diesem Zusammenhang eine Beobachtung Fritz Sterns zu den Neocons: Wie diese sich in den USA "Wohlstand und Einfluss verschafft hatten, verdiente, von einem Balzac als Chronisten beschrieben zu werden; als Schlüsselfigur könnte er den umgänglichen Richard Perle benutzen, der Habgier mit einem scharfen moralistischen 'Realismus' verband" (Stern 2007: 535). Das gibt auch einen wesentlichen Grund für Sloterdijks Angriff auf den Sozialstaat mit seiner Ideologie der Ausbeutung der "Produktiven" durch die "Unproduktiven" ab (vgl. Sünker 2010).