Flucht - Provokationen und Regulationen
Editorial
1983 legten die WIDERSPRÜCHE ein Heft zum damals so genannten Ausländerthema auf (Heft 9), in dem es schwerpunktmäßig um Themen der Konstruktion und Nützlichkeit der "Anderen", der "Fremden" sowie auf Reaktionen gegenüber diesen ging. Der Titel: "Ausländer - Sündenböcke werden gemacht".
"Ausländer" stand als Synonym für "Gastarbeiter". Trotz einer bereits seit den 60er Jahren stetigen Zuwanderung waren Migration und deren Regulierungen zum Erscheinungszeitpunkt besagten Heftes kein wirklich umgreifend bedachtes und diskutiertes gesellschaftsrelevantes Thema und keines der offiziellen Politik (wenngleich bereits 1980 die NPD ihren Wahlkampf unter das Motto: "Ausländerstopp - Deutschland den Deutschen" stellte). Erst zum Ende der 80er und insbesondere seit Beginn der 90er Jahre, nach der förmlichen Beendigung der Ost-West-Spaltung und der als Folge von Kriegen und ethnischen Säuberungen aus dem zerfallenden Jugoslawien Flüchtenden, erlebte die Bundesrepublik die erste Hoch-Zeit ausländerfeindlicher, rassistischer Attacken (gewissermaßen als Vorspiel zum Asylkompromiss von 1993), mit deren harmloseren Varianten auch etablierte Parteien in ihre Wahlkämpfe zogen.
"Ausländerpolitik" der 70er und 80er war ausschließlich arbeitsmarktpolitisch konnotiert; folglich war die BRD kein Einwanderungsland, und der vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung anlässlich der ersten ernsthaften "Wirtschafskrise" verfügte Erlass eines Anwerbestopps (1973) blieb lange Jahre das politische Instrumentarium, die Menge der hier lebenden, um Anpassung ("Assimilierung") sich bemühen sollenden Gastarbeiter-Ausländer und ihre auf Nachzug hoffenden Familienangehörigen zu regulieren.
In diesem gesellschaftlichen Kontext (die ideologischen Auseinandersetzungen waren zwischen "Assimilierung" und "Multikulti" etabliert) also entstand das Heft Nr. 9 der WIDERSPRÜCHE, und im Editorial ist zu lesen: "Dieses Heft ist Resultat einer längeren heftigen Auseinandersetzung in der WIDERSPRÜCHE-Redaktion: Von der Thematisierung der "Ausländerfeindlichkeit in uns allen" bis zur völligen Ablehnung des Themas...Nicht über die Lage der Ausländer wollen wir schreiben, sondern über uns - die Deutschen- , die Ausländer nicht nur als Arbeitskräfte brauchen, sondern auch als "Sündenböcke". Unser Thema sind also nicht die "Opfer", sondern die "Täter" ". (S. 5) Und einige Absätze weiter heißt es: "Der Ausländer kommt in unserer Gesellschaft also doppelt vor: Einmal als konkretes Individuum, zum anderen als Kunstprodukt herrschaftlicher Definitionsmacht, das die Basis für die Projektionsfolie "Sündenbock" abgibt. Über das konkrete Individuum "Ausländer" wäre nicht mehr und nicht weniger zu sagen als über jeden von uns in der kapitalistischen Gesellschaft - über den herrschaftlichen Konstitutionsprozess jedoch eine ganze Menge. Die Produktionsweise dieses realen Phantoms "Ausländer" und unser Anteil daran...ist Gegenstand der folgenden Erörterungen" (S. 7).
Ersetzt man "Ausländer" durch "Flüchtlinge", so hat sich im Hinblick auf die aktuelle gesellschaftliche Debatte am Motto des 33 Jahre alten Heftes rein gar nichts geändert. Die Produktion des Phänomens "Flüchtling" geschieht zu einem wesentlichen Teil durch Bezeichnungen.
Erstens: Die in aller Munde geführte "Flüchtlingskrise" (statt: Krise in den Herkunftsländern der geflüchteten Menschen, Krise der europäischen Migrationspolitik und -praxis) suggeriert Geflüchtete als bedrohliche Masse, als potenzielle Täter, als solche, die Unruhe und Ärgernisse ins Land bringen und Schwierigkeiten machen, kurz und gut: "uns Einheimischen" gefährlich werden können: Sie kosten "unsere" Steuern, sie verändern "unsere" Nachbarschaft, sie stören in "unseren" Kitas und Schulen....
Zweitens: Im Zusammenhang mit "Krise" definiert das Wort "Flüchtlinge" (statt: geflüchtete Menschen/ Menschen auf der Flucht) eine Kategorie der Anderen, Fremden, der nicht Dazugehörigen; diese bieten sich als Objekte an, auf die individuelle Befindlichkeiten der Einheimischen (z.B. eigene Unsicherheiten und Zunkunftsängste) projiziert werden können, denen das wenige an staatlicher Unterstützung geneidet wird (anstatt Mängel und Versäumnisse infrastruktureller Politiken zu kritisieren), und deren vermeintliche Bedrohlichkeiten zur Legitimierung rassistischer und nationalistischer Aktionen und Programme herhält.
Solcherart Provokationen legitimieren staatliche Regulationen (wie z.B. das "Asylverfahrensgesetz", die Asylpakete I und II und das in Erster Lesung befindliche "Integrationsgesetz") die ihrerseits wiederum Provokationen verfestigen (dies trotz und neben - oder auch wegen? - eines beeindruckenden bürgerschaftlichen Engagements für geflüchtete Menschen, das es so in den 80ern nicht gab).
Nahezu 25 Jahre nach Erscheinen des "Ausländerheftes" griffen die WIDERSPRÜCHE die dort geführte Debatte wieder auf (Heft 104, 2007). Der Titel "Alles schön bunt hier!" - Zur Kritik kulturalistischer Praxen der Differenz- nahm seinen Ausgang an den im EU-Rat verabschiedeten Richtlinien zur Gleichstellung benachteiligter Gruppen mit der Verpflichtung der Mitgliedsstaaten, auf den nationalen Ebenen entsprechende Antidiskriminierungsgesetze zu erlassen und analysierte -in Kritik des erwartbaren und bereits praktizierten mainstreams von Diversity und Vielfalt-, "....wie durch Kulturalisierun/Ethnisierung ... eine ideologische Problemverschiebung geschieht, indem z.B. problemkonstituierende Faktoren auf der Ebene von Lebenslagen zu Fragen von Lebensstil...umdefiniert werden" (S. 6).
Schließlich: In kritischer Auseinandersetzung mit den aktuellen bundesrepublikanischen und europäischen Migrationspolitiken haben die WIDERSPRÜCHE 2015 das Heft mit dem Titel "Mobilitäten: Wider den Zwang sesshaft oder mobil sein zu müssen" veröffentlicht (Heft 138). Dort werden Flucht und Migration als Normalfall in der globalisierten Welt thematisiert; Flucht und Migration sind in dieser Perspektive soziale Handlungen, Migrant_innen und Flüchtende sind Akteur_innen, stets konfrontiert mit den Begrenzungen, Logiken und Regulationen nationalstaatlicher Bedingungen und Strukturen, die - bedenkt man die europäische Ebene mit - durch eine Vielzahl unterschiedlicher Interessenslagen und -konflikte durchzogen werden. Auf diesem Feld spielt auch die Soziale Arbeit mit.
Die Brisanz und Dynamik, die das "Fluchtthema" seit dem "Willkommens-Sommer und -Herbst" 2015 entfaltet, hat die Redaktion der WIDERSPRÜCHE - ähnlich wie andere kritische Denkzusammenhänge und abweichend von der für das Jahr 2016 vorgeplanten Themensetzung- zur Konzipierung dieses vorliegenden umfangreichen Heftes veranlasst, das in so fern den üblichen Rahmen sprengt, als es ausschließlich dem Thema Flucht gewidmet ist, eine breite Facette von damit vermachten Themen beinhaltet, die einen Bogen aufspannen von der Analyse der Konstruktion rechtlicher Rahmenbedingungen sowie von Migrationspolitiken über nationale sozialpolitische und -pädagogische Regulierungen hin zu konkreten Praxen und Positionierungen Sozialer Arbeit, um mit grundlegenden Reflexionen zum "Eigenen und Fremden" abzuschließen. Die Beiträge wurden im Frühjahr und Sommer 2016 verfasst, und auch wenn zum Zeitpunkt der Drucklegung angesichts der desolaten Verfassung des "Projektes Europa" überhaupt nicht ausgemacht ist, welche Zustände die Situationen von Menschen auf der Flucht und Geflüchteten bei Erscheinen dieses Heftes (im September 2016) bestimmen werden, so sind zumindest einige Parameter klar zu benennen:
- Flucht und Migration sind und bleiben Dauer-Praxen, auch wenn sich im Verhältnis zur Gesamtgröße nur geringe Mengen nach Europa bewegen, die durch verschärfte Grenzpolitiken, asylrechtliche Verengungen und immer neue (national)politische Regulierungen noch weiter minimiert werden sollen.
- Bei geteiltem Willen an der Begrenzung des Zuzugs Geflüchteter klaffen die politischen Strategien im Umgang mit ihnen in den europäischen Ländern weit auseinander; die BRD setzt dabei auf ein autoritäres Integrationskonzept, das der Logik des bekannten "Forderns und Förderns" folgt und die geflüchteten Menschen in erster Linie als Quell für die Zuführung von Humankapital definieren möchte.
- Politik, Medien, Wirtschaft und Zivilgesellschaft haben sich daran gewöhnt und stimmen überein, die komplexen Fluchtverhältnisse als (potenziell gefährliche) Flüchtlingskrise zu bezeichnen statt sich ernsthafter und verbindlicher mit den vielschichtigen Ursachen von Flucht auseinanderzusetzen.
- Die zivilgesellschaftlichen Reaktionen auf Flucht und Migration zeichnen sich durch eine scharfe Polarisierung aus: Hier beeindruckendeWillkommenskultur in Form vielfältiger Projekte, dort Ablehnung bis hin zu Mord und Totschlag: Refugees welcome contra: kein Boateng als Nachbar!
Zu den Beiträgen im Einzelnen
In seinem Beitrag "Ausnahme als Regel" analysiert Elias Steinhilper das Asylrecht als Norm und Praxis mit einem Doppelcharakter von In- und Exklusion. Er zeigt u.a. in Verweisen auf historische Entwicklungen, wie Asyl in der "Logik der Ausnahme" funktioniert. Dass die Bestimmung, wer unter die Ausnahme fällt und wem das Recht auf Asyl staatlicherseits gewährt wird, politischen Konjunkturen unterliegt, wird ebenfalls dargelegt. Dass, wie aktuell erlebbar, mit den Kategorisierungen "sichere Herkunftsstaaten", "hohe Bleibeperspektive", "nützlich für den Arbeitsmarkt" sortiert wird, ist keineswegs ein neues Phänomen, sondern belegt eher historische Kontinuitäten der herrschaftlichen Einteilung derjenigen, die Asyl begehren. Elis Steinhilper plädiert für eine menschenrechtliche Verteidigung der Asylnorm im Bewußtsein ihrer Unangemessenheit angesichts der vielfältigen Gründe für Zwangsmigration.
Ellen Bareis und Thomas Wagner reflektieren in ihrem Beitrag Konzepte und Praxen europäischer und nationaler Grenzregime, asylrechtlicher und sozialstaatlicher Regulierungen, die beanspruchen, die aktuelle Migration politisch zu kontrollieren. Flucht wird von Ellen Bareis und Thomas Wagner als soziale Praxis definiert, die gesellschaftliche Verhältnisse wie rechtliche Regelungen mit gestaltet. In diesem Prozess werden Ansprüche auf Rechte, Zugehörigkeiten und "citizenship" formuliert, die über bestehende Grenzziehungen hinaus weisen. Vor diesem Hintergrund befragen die AutorInnen auch die Rolle Sozialer Arbeit. Migration und Flucht sehen sie mit der Geschichte dieser Profession eng verbunden. In der aktuellen Situation zeigt sich Soziale Arbeit verwoben in die wohlfahrtsstaatlichen Regulierungen, was an Zielen, Interventionsformen und Finanzierungen Sozialer Arbeit in einzelnen Feldern verdeutlicht wird. Als Folgerung ihrer Betrachtung formulieren Ellen Bareis und Thomas Wagner eine Aufforderung an die Soziale Arbeit, emanzipatorisch-verändernd an den vielfältigen Grenzen zu arbeiten.
Dirk Hauer greift die Feststellung von Ellen Bareis und Thomas Wagner, dass sich in der aktuellen Situation politische Fehler und soziale Konflikte der jüngeren Geschichte aktualisieren, auf und präzisiert sie. Hauer zeigt Lücken und Widersprüche in der politischen Regulierung des Arbeitsmarktes, des Wohnungsmarktes, des Bildungswesens und der sozialen Hilfesysteme. Er analysiert die aktuellen dominanten politischen Eingriffe als Integrationssymbolik ohne Substanz. In seiner Argumentation belegt er auch, wie das hegemoniale Integrationsverständnis an eine autoritär-repressive Sozialstaatlichkeit anschließt und wie Verteilungsfragen mit der Anwesenheit von Flüchtlingen prominent auf die politische Tagesordnung gesetzt werden - nicht zuletzt auch in rechtspopulistischen Varianten.
Die Beiträge von Sebastian Muy, Laura Graf, Friedhelm Schütte, Sabine Jungk und Eva Hollmach gehen den Widersprüchen professioneller Sozialer Arbeit mit Flüchtlingen und freiwilligem und zivilgesellschaftlichem Engagement für hierher geflüchtete Menschen beispielhaft nach.
Sebastian Muy diskutiert und zeigt, dass und wie Soziale Arbeit in Sammelunterkünften durch eine Vielzahl von Interessenskonflikten durchzogen ist, die u.a. dem "heimlichen Lehrplan" einer Politik der Abschreckung geschuldet sind. Er thematisiert das sozialarbeiterische Dilemma, sich normativ-moralisch auf der "richtigen Seite" zu wähnen, faktisch jedoch durch die Einbindung in den nationalen Wohlfahrtsstaat aktiv an Kategorisierungs- und Ausschließungsprozessen beteiligt zu sein.
Friedhelm Schütte betrachtet ein im politischen und gesellschaftlichen Konsens (bis hin zum "Stammtisch") als zentral erachtetes Feld der Integration von Flüchtlingen: den Zugang und die Teilhabe an Ausbildung und Arbeit. Er analysiert die aktuell diskutierten Vorschläge zur Eingliederung von jungen Geflüchteten in Ausbildung und Beruf als in der Tradition klassischer Programme des Übergangssystems stehend und problematisiert, ob die der Programmatik zugrundeliegenden normativen Vorstellungen von Ausbildung, Berufsbildung, Erwerbsmuster denn überhaupt den Lebensrealitäten dieser jungen Menschen entsprechen. Er sieht junge Flüchtlinge den mit diesen traditionellen Konzepten verbundenen sozialen Risiken in verstärktem Maße ausgesetzt und plädiert für den Abschied von einer eng auf Berufsintegration und Arbeitsmarktintegration fokussierten Programmatik. Als Alternative begründet er die Notwendigkeit einer berufspädagogisch und jugendpolitisch kohärenten Inklusionsprogrammatik.
Dass auch das vielseitig bewunderte und gelobte Engagement von Bürgerinnen und Bürgern in der Flüchtlingshilfe nicht frei von Widersprüchen ist, zeigt der Beitrag von Laura Graf. Sie sieht dieses Engagement nicht nur als willkommene Hilfe für eine sich überfordert präsentierende staatliche Verwaltung, sondern analysiert das Ehrenamt im größeren Zusammenhang der Entwicklung der Arbeitsteilung zwischen Staat und Bürgerengagement. Dabei betrachtet sie sowohl den aktuellen medialen Diskurs über das Ehrenamt wie auch die reale Praxis. Als Tendenz erkennt sie eine (geplante) Verschiebung von Verantwortung: von qualifizierter professioneller Arbeit zu nicht qualifizierter Ehrenamtlichkeit; von (höher) bezahlter zu geringer bzw. unbezahlter Arbeit; von individuellen Rechtsansprüchen hin zu in privater Wohltätigkeit hergestellten "Extras".
Sabine Jungk erinnert in ihrem Essay sowohl an den Doppelcharakter Sozialer Arbeit als Hilfe und Herrschaft wie auch an 50 Jahre Erfahrung von Migrationssozialarbeit und humanitärer Hilfe. In dieser Erinnerung stellt sie die Reflexion über Paternalisierung, Klientilisierung, Asymmetrie zwischen Helfenden und Adressat_innen und soziale Ungleichheit ins Zentrum ihrer Überlegungen. Ohne interkulturelle, strukturelle und rechtliche Veränderungen besteht die Gefahr einer Individualisierung im Sinne des "Es liegt an Dir, ob Du es schaffst!" und einer Aufteilung der Flüchtlinge in "good refugees" und "bad refugees". Dabei bleibt dann die politische Beteiligung von Flüchtlingen prekär, weil sie eben keine "citizens" sind. Ebenso prekär bleiben die quantitativen und qualitativen Ressourcen in professioneller wie freiwilliger Flüchtlingshilfe. Zusammenfassend besteht Sabine Jungk mit guten Gründen auf einer Politisierung der Unterstützungsarbeit.
Die in den Beiträgen von Laura Graf und Sabine Jungk problematisierten Aspekte, aber auch Chancen freiwilligen Enagements veranschaulicht der Beitrag von Eva Hollmach exemplarisch. Sie ermöglicht einen eindrucksvollen Blick in die "Mühen der Ebene", auf Hintergründe, Motive, Kooperationen, Können und Fallstricke freiwilligen Engagements.
Albert Scherr und Karin Scherschel begründen eine professionspolitische Positionierung Sozialer Arbeit im Fluchtkontext, die gut als zusammenfassende Reflexion der in den vorangegangenen Beiträgen angesprochenen Konflikten und Widersprüchen im praktischen Handeln gelesen werden kann. Sie thematisieren Soziale Arbeit mit Flüchtlingen zwischen dem Anspruch auf bedarfsgerechte Hilfe und systemstabilisierender rechtlicher und politischer Aufgabenzuweisung. Ähnlich wie Ellen Bareis und Thomas Wagner sehen sie Soziale Arbeit eingebunden und begrenzt in nationale Politiken und supranationale EU-Bestimmungen. Auf der Folie einer Skizzierung des Spannungsfeldes von Inklusionsermöglichung, Exklusionsvermeidung und Exklusionsverwaltung formulieren und fordern sie Standards Sozialer Arbeit im Flüchtlingskontext. Die aktuell "personell, zeitlich, konzeptionell und infrastrukturell" eher unzulänglichen und unzureichenden Hilfeangebote interpretieren Albert Scherr und Karin Scherschel als Versagung und Vorenthaltung passender Unterstützung und grundlegender Rechte. Gegen diese Begrenzungen sollte sich Soziale Arbeit mit begründeten professionellen Kriterien einmischen.
Passend zu diesem Plädoyer dokumentieren wir das "Denkpapier" des Arbeitskreises Kritische Soziale Arbeit Dresden, welches eine Standortbestimmung kritischer Sozialer Arbeit zu den Themen Flucht und Migration vornimmt und von Leserinnen und Lesern durchaus und gerne als Aufforderung zur Diskussion verstanden werden möchte.
Den Abschluss des Heftes bilden zwei Beiträge, die sich mit dem hegemonialen Diskurs über "Andere" und "Fremde" auseinandersetzen.
Paul Mecheril und Astrid Messerschmidt nehmen die politischen Reaktionen und Diskursverschiebungen über Flüchtlinge "nach Köln" zum Anlass, an Migration und Flucht als Schlüsselthemen Sozialer Arbeit und Bildung zu erinnern. Sie zeigen exemplarisch, wie Bildung dominante Diskurse, die ein "Wir" und "Andere" voraussetzen und formen, dekonstruieren kann. Zu dieser Dekonstruktion gehören sowohl Hinweise auf die Orte sexualisierter Gewalt wie auf die Relativierung des vorgeblich erreichten Standes der Emanzipiertheit unserer Gesellschaft, "des Westens" oder "Europas". Auch die in jüngster Zeit in Reaktion auf terroristische Anschläge immer wieder aufgerufene europäische Aufgeklärtheit wird hinterfragt, neigt doch dieser Diskurs dazu, ein wesentliches Moment der Aufklärung, nämlich die kontinuierliche Selbstreflexion und Selbstkritik, zu vernachlässigen. Der Text benennt Konsequenzen für eine solidarische Bildung, nämlich das Sprechen über Gewaltverhältnisse, über ökonomische Verhältnisse und über Solidarität, die nationale Beschränkungen verlässt.
Christina Thürmer-Rohr thematisiert die Idee des Kosmopolitismus als eine alte "Menschheitssehnsucht" nach Überwindung trennender Kategorien wie Rasse, Religion, Herkunft, Nation. In ihrer Argumentation spielt die Diskussion über Rechte, die Menschen als Menschen besitzen, eine wesentliche Rolle - ebenso wie das Nachdenken darüber, was Beschwörungen von Einheit, Vielfalt und Differenz denn eigentlich meinen. Christina Thürmer-Rohr bezieht sich auf reflektiertes psychoanalytisches Denken über "Ich", "Nicht-Ich", "Eigenes" und "Fremdes". Sie zeigt, dass die Definition des Fremden als Feind schlechthin rassistisch ist und fragt danach, wie politisch mit der "Fremdheit" umzugehen ist. Sie schließt mit der These, dass erst durch einen "Blick von anderswo" die Gemeinsamkeit der Welt als eine erkennbar wird, "die uns von Anderen trennt und die wir mit Anderen teilen". Sie setzt darauf, dass die Idee des Kosmopolitismus viele politische Fragen provozieren kann und vielleicht vor Hass schützt.
Die Redaktion