Bewegungen und Aktivismen in, neben und gegen Soziale Arbeit
Editorial
Das vorliegende Heft schließt an Heft 161 der Widersprüche an, das Konflikte, Konkurrenzen und Kooperationen zwischen Sozialen Bewegungen und der Sozialen Arbeit thematisiert hat. In den Beiträgen wurde "die öfters behauptete Dichotomie" von Sozialer Arbeit und Sozialen Bewegungen reflektiert sowie "Schnittpunkte und Gemeinsamkeiten", aber auch "Unübersichtlichkeiten, Konkurrenzen, Grenzbearbeitungen oder verschobene Problemsetzungen" beleuchtet: Im Spannungsfeld zwischen den klassischen Selbsthilfebewegungen der 1970er und 80er Jahre, etwa Bewegungen um Wohnen, Erwerbslosigkeit, Stadtentwicklung, selbstorganisierter und nicht kommerzieller Gestaltung freier Zeit und der Sozialen Arbeit, ging es immer darum, wer die Definitionshoheit über Bedürfnisse der Menschen und die Beschreibung der Konflikte hat, wer über die Macht verfügt, Begründungen für Eingriffe Sozialer Arbeit zu liefern, wer wessen Interessen artikuliert und repräsentiert. Wichtig waren auch die Auseinandersetzung um Finanzierungsfragen und damit verbundene Einflussmöglichkeiten der Finanzierenden auf die Bearbeitung sozialer Konflikte und Probleme ("Staatsknete").
Aus der Diskussion dieses Heftes auf unserer Redaktionstagung im September 2021 haben sich Fragekomplexe ergeben, die im vorliegenden Heft vertieft werden:
Zum einen interessiert der genauere Blick auf die unterschiedlichen Akteur:innen und deren jeweilige Beziehungen in den sozialen Praxen. Zum anderen gilt es, die theoretische Reflexion von Bewegungsphänomenen zu vertiefen.
Als Akteur:innen sehen wir Soziale Bewegungen, Aktivist:innen, Professionelle (in sozialer Praxis und Lehre) und Träger Sozialer Arbeit, nicht zuletzt die Nutzer:innen/Adressat:innen, aber auch Selbstorganisationen von Menschen, die ihre Interessen an der Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse in die (sozial)politischen Auseinandersetzungen einfordern und einbringen.
Mit Blick auf die theoretische Reflexion interessiert uns insbesondere das Verhältnis von Bewegungen und Aktivismen zu politischen Institutionen der parlamentarischen Demokratie.
Vor allem interessiert uns die Frage, wie die Rolle des Staates als möglicher Garant von Anerkennung, Rechten, Beteiligung und Teilhabe von unterschiedlichen Bewegungen, etwa den "social justice-movements" und den Bewegungen für (globale) soziale Rechte, gesehen wird. Denn (sozial)staatliche Regulationen als Ergebnisse von Kämpfen unterschiedlicher sozialer Interessensgruppen markieren den Rahmen, in dem sich die von Bewegungen, Aktivismen in und neben der Sozialen Arbeit und z.T. auch gegen die Soziale Arbeit aufgemachten Konflikte und Widersprüche bewegen - und den sie eventuell auch zu verändern und/oder aufzubrechen trachten. Auf diese theoretisch wie politisch relevante Fragestellung folgen Texte, die einzelne Felder, in denen es Bewegungen in, neben und gegen Soziale Arbeit gab und gibt, genauer in den Blick nehmen und von den dort jeweiligen Interessen, Konflikten und Entwicklungen berichten. Dabei geht es um Positionen der Professionellen in Praxis und Wissenschaft, der Träger Sozialer Arbeit, der selbstorganisierten Gruppen und der so genannten "Subalternen" sowie um deren Verhältnisse und Bezugnahmen zueinander und aufeinander.
Entsprechend gliedert sich das vorliegende Heft in drei Themenkomplexe:
Der erste verhandelt das Verhältnis zentraler Begriffe wie Politik, Soziale Bewegungen, Aktivismus, (soziale) Gerechtigkeit. Dabei werden die in Heft 161 vor allem von Roland Roth (S. 11 - 23), Marc Diebäcker und Manuela Hofer (S. 25 - 39) vorgetragenen Verständnisse von Sozialen Bewegungen und ihrem Verhältnis zu Sozialer Arbeit sowie die Begriffe des Politischen diskutiert. Für die Tradition der Widersprüche ist dies insofern relevant, als wir nach einer Kritik an Sozialer Arbeit als Hilfe und Herrschaft und der kompensatorischen und herrschaftlichen Funktion des Sozialstaats in einem ersten Schritt eine "alternative Sozialpolitik" gefordert hatten - also letztlich eine antihegemoniale Reform im Rahmen eines klassischen Politikmusters eines Bündnisses, das aus Krisen-Verlierer:innen, durch das konkurrenzorientierte "Modell Deutschland" Bedrohten, sowie reformwilligen sozialen Gruppen in Parteien, Gewerkschaften und der Sozialen Arbeit besteht.
In einem zweiten Schritt der Analyse und Diskussion erarbeiteten wir in Ansätzen die Formulierung einer "Politik des Sozialen", welche der Alltagspraxis, den Bedürfnissen und Kämpfen der "einfachen Leute" mehr Gewicht gibt und bemüht ist, das Verhältnis von theoretischer Analyse und Kritik, politisch-normativer Formulierung von sozialstaatlichen, gesellschaftlichen Alternativen und den realen Bewegungen in Bewältigung wie Bekämpfung der beherrschten, unterworfenen Wirklichkeit neu und weniger etatistisch zu bestimmen (vgl. dazu Timm Kunstreich: Die soziale Frage am Ende des 20. Jahrhunderts - Von der Sozialpolitik zu einer Politik des Sozialen, in: Widersprüche 74, 1999, S. 135-156).
Da diese Neubestimmung aktuell herausgefordert ist von Kämpfen und Diskussionen, die die Idee der politischen Gleichheit handelnder individueller oder kollektiver Subjekte tendenziell in Frage stellen und die Anerkennung bisher unterdrückter, diskriminierter kollektiver Identitäten als emanzipatorischen Akt beanspruchen, stellt sich die Frage nach der Rolle des Staates als Ort des Konflikts, der Regulierung und Vermittlung von (rechtlicher) Anerkennung, Gleichstellung, (politischer) Gleichheit, sozialer Ungleichheit und Verteilung. Kann die Artikulation von intersektionalen Interessen/Perspektiven aus social justice-movements in politischer Gleichheit, in universellen Rechten aufgehoben werden?
Der zweite Themenkomplex beleuchtet Konflikte innerhalb der Sozialen Arbeit. Diese ist ja bekanntermaßen kein homogenes Terrain, weder in ihrer theoretischen Begründung noch in ihrer praktischen Umsetzung. Welche Bewegungen und Begründungen gibt es in der Bearbeitung des institutionalisierten Konflikts von Sozialer Arbeit als Hilfe und Herrschaft? Wir erfahren Aktivitäten von Lehrenden, von Professionellen in der Sozialen Praxis wie von Betroffenen z.B. im Widerstand gegen eine verstärkte repressive und punitive Ausrichtung in der Jugendhilfe, insbesondere im Hinblick auf Geschlossene Unterbringung von als gefährlich bezeichneten jungen Menschen. Wir hören neue Antworten auf die Frage, wie soziale und gesundheitliche Versorgung sozial ungleiche Möglichkeiten in lebenslagen- und stadtteilorientierten Angeboten berücksichtigen kann. Wir können im Blick auf die Geschichte des Arbeitsfeldes der Gemeinwesenarbeit betrachten, wie sich das Verhältnis von Professionellen, Bewohner:innen/ Adressat:innen entwickelt hat. Wir diskutieren, ob und wie die Nutzer:innenforschung und -beteiligung als ein Versuch und Beitrag verstanden werden kann, das Hilfe-Herrschafts-Dilemma, das Machtgefälle zwischen Expert:innen und Nutzer:innen/Leistungsberechtigten emanzipatorisch zu bearbeiten und Perspektiven "von unten" aufzunehmen. Schließlich thematisieren wir auch eine Frage, die für Bewegungen und kritische Praxis in der Sozialen Arbeit wesentlich ist: Welche Akteur:innen stehen derzeit miteinander im Konflikt? Welche Akteur:innen praktizieren Widerstand wogegen, und wer solidarisiert sich/kooperiert mit wem?
Ein dritter Themenkomplex fragt nach Bewegungen, Aktivismen, Konflikten und Kämpfen außerhalb Sozialer Arbeit. Es geht um die vielfach gesuchten Positionen und Aktivitäten der "Subalternen", die zwar von Sozialer Arbeit und sozialstaatlicher Regulation adressiert werden, aber eben auch Praktiken des Eigensinns, der Widerständigkeit und des Unterschleifs/Unterlebens widriger Lebenslagen und ihrer sozialarbeiterischen Bearbeitung verfolgen.
Zu den Beiträgen im Einzelnen
Thomas Wagner knüpft an Fragen an, die in den Heften 157 und 161 aufgeworfen wurden: Diebäcker und Hofer charakterisierten in Heft 161 die Soziale Arbeit als schwache Bündnispartnerin sozialer Bewegungen und betonten, dass diese in die institutionalisierte Praxis des aktivierenden Sozialstaates eingebunden sei. Fabian Kessl wies in Heft 157 auf die Notwendigkeit von Institutionalisierung hin, um Möglichkeiten von sozialer Absicherung auf Dauer zu stellen, wenngleich damit Kriterien festgelegt werden, wer, wann, in welcher Art und Weise welchen Zugang zu sozialen Absicherungen beanspruchen kann. Vor diesem Hintergrund diskutiert Wagner die Staatsbedürftigkeit sozialer Bewegungen und Aktivismen, die soziale Gerechtigkeit für Alle durchzusetzen trachten. Im Rückgriff auf Poulantzas Staatstheorie sowie auf Blochs Gedanken zu Naturrecht und menschlicher Würde formuliert er die These, dass Vorstellungen des Gerechten stets in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen hervorgebracht werden, in denen es immer auch darum geht, ob und wie über die Formulierung subjektiver Rechte hinaus dieselben allgemeingültig und für Alle institutionalisiert und durchgesetzt werden können.
In ihrem "Werkstattbericht" informieren die Hochschulprofessorinnen Ulrike Eichinger, Julia Franz, Barbara Schäuble und Sandra Skala (alle Alice Salomon Hochschule Berlin) über Recherche und erste Ergebnisse von Möglichkeiten politischer Selbstorganisation als Lehrende. Ausgehend von einem Lehralltag, der sich durch eine zunehmende Diskrepanz zwischen verantwortlicher Arbeit und Arbeitsverdichtung charakterisiert, deren Konsequenz Tendenzen von Deprofessionalisierung und Entsolidarisierung sind, durchforsten die Autorinnen das klassische Angebot der vorhandenen Interessensvertretungen, um sich sodann in einem Verständigungs- und Selbstbefragungsprozess ins Verhältnis zu größeren solidarischen Bewegungsthemen und -formen zu bringen. In diesem Prozess der "Bewegung in bewegten Feldern" verorten sie den Gegenstand ihres Engagements im care-politischen, gewerkschaftlichen Feld, nicht ohne die hier vermachten Interessensebenen und potenziellen Konfliktfelder zu negieren.
Maria Bitzan und Sabine Stövesand spüren den Entwicklungen in der Gemeinwesenarbeit nach und deren prominentem Verhältnis zu sozialen Bewegungen. Sie zeigen, dass nie von "der" GWA gesprochen werden konnte, da diese sich immer in den gesellschaftlichen und lokalen Konfliktfeldern mit ihren jeweiligen Macht- und Interessenskonstellationen entfaltet hat. Versuche ihrer Systematisierung zu sozialpädagogischen Handlungsprogrammen, aber auch der Existenz und Wirkmacht rechter sozialer Bewegungen haben die Vorstellung einer GWA mit eindeutig emanzipatorischer Zielsetzung in Frage gestellt. Eine Dichotomisierung von kritisch-emanzipativer und harmonisierend affirmativer GWA erscheint den Autorinnen nicht angebracht; ihre Engführung auf "doing community", im lokalen Kontext gilt es angesichts aktueller gesellschaftlicher Konflikte um Anerkennung und Umverteilung zu überwinden. Im Zentrum steht heute, so das Plädoyer des Beitrags, die Frage, was GWA benötigt, um sich konfliktorientiert in die gesellschaftlichen Verhältnisse einmischen zu können. Dazu gehören nicht nur kritische Gesellschaftsanalyse, finanzielle Ressourcen und kompetente Akteur:innen, sondern auch die Verbindung zu real existierenden emanzipatorischen Bewegungen und widerständigen Aktivitäten.
"Gemeinwesen"/"Community" ist auch ein zentrales Stichwort im Beitrag von Martina Benz, der die Praxis von Workers Center in den USA analysiert, welche mit Sozialer Arbeit erstmal nichts zu tun hat: Workers Center sind ein institutionalisiertes Moment in Organisationsprozessen prekärer Arbeiter:innen sowohl auf betrieblichen Ebenen als auch im sozialen und geografischen Kontext von neighborhood und community. Martina Benz beschreibt die mit den Workers Center verbundenen Hoffnungen auf eine Erneuerung gewerkschaftlicher Kämpfe, insbesondere durch die Selbstermächtigung von Arbeiter:innen als Subjekte in ihrem außerbetrieblichen Alltag. Sie stellt Beispiele solcher Organisierungen von Macht und Ressourcen vor und gewinnt aus den Konfliktgeschichten Kriterien zur Analyse der sozialen Kämpfe an solchen Orten der Alltagspraxis. Der Beitrag konzentriert sich auf Entwicklungen und Diskussionen in den USA, so dass die Frage, inwieweit diese Praxis aus einem anderen gesellschaftlichen und wohlfahrtsstaatlichen Rahmen Anregungen für (Selbst)Organisationsprozesse in Feldern Sozialer Arbeit hierzulande geben kann, zu diskutieren bleibt.
Die Frage der Selbstorganisation behandelt auch Stephan Nagel in seinem Text zu Selbsthilfe und Selbstorganisation von Wohnungslosen. Er beschreibt die Schwierigkeiten der Selbstorganisation in einer Lebenslage, die kaum Ressourcen dafür bereitstellt, sondern vielmehr geprägt ist vom alltäglichen Kampf ums Überleben und einer Vielfalt sozialer Biografien. Nagel zeigt, dass sich in den alltäglichen Bewältigungsversuchen durchaus Formen der Selbsthilfe und Selbstorganisation entdecken lassen. Es werden Beispiele politischer Mobilisierung von Wohnungslosen vorgestellt, die sowohl als eigenständige Proteste wie auch als Aktionen im Bündnis mit Organisationen der Zivilgesellschaft und kritischen Professionellen aus dem Wohnungslosenhilfesystem stattfinden. Eine durchgängige Frage des Beitrags ist die nach dem Zusammenhang und Zusammenwirken von Wohnungslosen, kritischen Professionellen, Trägern Sozialer Arbeit und politischen Aktivist:innen, sowie die nach der Resonanz solcher Aktivitäten in der politischen und medialen Öffentlichkeit - nicht zuletzt bei denen, die politische Entscheidungsmacht haben.
Dass es - nicht zuletzt auch als Reaktion auf herrschaftliche Funktionalität und expertokratischen Paternalismus - innerhalb der wissenschaftlichen Befassung mit Sozialer Arbeit Versuche gibt, der Perspektive von Nutzer:innen und Adressat:innen eine Stimme zu geben, zeigen Kathrin Aghamini und Kristina Enders. Sie berichten von ihren Motivationen und denen anderer Beteiligter, in der AG Nutzerforschung der DGSA mitzumachen. Sie erzählen die Geschichte der AG, die als Bewegung in der Sozialarbeitswissenschaft markiert werden kann, auch wenn sie selbst von einer "sozialen Idee" sprechen. Deren Genese und Gebrauchswert - insbesondere für die Forschenden - reflektieren sie zwischen eigener wissenschaftlicher und aktivistischer Praxis und dem Befremden gegenüber Programmen, in denen Nutzer:innen/Adressat:innen wollen sollen, was ihnen von den Entwickler:innen der Konzepte als Wille zugeschrieben wird. Damit geben sie zugleich einen Ausblick auf das Schwerpunktthema des nächsten Heftes.
In der Fortschreibung der "Miniaturen" in vergangenen Ausgaben beinhaltet dieses Heft Interviews mit Repräsentant:innen von Akteur:innen und Aktivitäten innerhalb und außerhalb von Sozialer Arbeit, mit und gegen diese. Für Konflikte innerhalb der Sozialen Arbeit stehen die Interviews mit Michael Lindenberg vom Aktionsbündnis gegen Geschlossene Unterbringung sowie mit Tina Röthig und Madeleine Does von der Poliklinik Veddel in Hamburg. Für Konflikte außerhalb und gegen Soziale Arbeit stehen die Interviews mit Hannah Wachter zum Verhältnis von Wissenschaftspraxis und Aktivismus im queeren Spektrum sowie mit Wilhelmsburg Solidarisch zur Organisation von Solidarität im Alltag eines Stadtteils.
Im Forum breitet Dominik Novkovic die sich zuspitzende Bildungsungerechtigkeit detailliert aus und charakterisiert die neoliberale Bildungsreform als eine autoritäre Sozialreform. Vor solchem Hintergrund sieht er die sich als kritisch verstehende Soziale Arbeit zur Frage nach ihrem politischen Mandat herausgefordert und schlägt ihr eine Allianz mit der kritischen Bildungstheorie vor.
In der Rubrik "Eingriffe und Positionen" erinnert Barbara Rose an Thea Kimmich, Gründungsmitglied der Widersprüche, die im März dieses Jahres gestorben ist.
Die Redaktion