Zur globalen Regulierung des Bildungssystems

Editorial

Die Art und Weise, wie gegenwärtig die öffentliche Diskussion um die PISA-Studie der OECD geführt wird, legt die begründete Vermutung nahe, dass die Funktion solcher internationalen Vergleichsstudien vornehmlich darin besteht, die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass "sich was ändern muss", und politischen Druck für entsprechende institutionelle Veränderungen zu erzeugen. Ob solche internationalen Vergleichsstudien Sinn machen, ob die angewandten Methoden valide empirische Ergebnisse erbracht oder wesentliche Sachverhalte gar nicht erst erhoben haben, oder was die komplexen Ursachen für das unterdurchschnittlich Abschneiden des oberen und unteren Fünftels der deutschen Schüler sind - solche Fragen geraten angesichts des 'Schocks' über die Ergebnisse aus dem Blickfeld. Die im Kontext internationaler Benchmarking-Verfahren zunehmend verbreitete Darstellung staatlicher Daseinsvorsorge als innovationsfeindlich lässt die Tendenz in Richtung Deregulierung, Privatisierung und Neue Verwaltungssteuerung des Bildungswesens bereits absehen. Allerdings ist das kein naturwüchsiger Prozess, wie die Sorge der OECD (1995: 77) um soziale Kohäsion und politischen Widerstand zeigt.

Der öffentliche Bildungsdiskurs hat in den letzten zwei Jahrzehnten weltweit starke Veränderungen erfahren: Die Bandbreite der dem Bildungswesen zugeschriebenen Funktionen rangiert vom Allheilmittel gesellschaftlicher Probleme in den sechziger und siebziger bis zum Sündenbock in den achtziger und neunziger Jahren. Die offiziösen Diskussionen über Bildungsreformen in Ländern wie etwa Kanada und Chile, England und Neuseeland muten schon fast gespenstisch an: Im Großen und Ganzen werden sowohl die gleichen Problembeschreibungen als auch die gleichen Lösungsvorschläge formuliert - geradezu wie von unsichtbarer Hand geleitet. Wenn man aber bedenkt, dass wir uns auf umkämpftem Gelände bewegen, d.h. in Gesellschaften, die zwar kapitalistisch strukturiert sind, aber auch über demokratisch verfasste und rechenschaftspflichtige Institutionen verfügen, deren politische Praxis in der Auseinandersetzung um neue Balancen und Hegemonie unterschiedlichen und widersprüchlichen Interessen unterworfen ist, dann muss dieser Eindruck vor der komplexen Aufgabe zurücktreten, den in seinen wesentlichen Grundzügen identischen globalen Restrukturierungsprozess von Bildungssystemen in seinem Bedingungsgefüge zu verstehen - und nicht zuletzt auch das Problem seiner doch weitgehenden Akzeptanz.

Was als Niedergang kontextbezogener politischer Analyse von Bildungssystemen und Aufstieg von Kategorien wie Markt, Konsument und Effizienz erscheint, hat seinen sichtbaren institutionellen Kern in supra-, internationalen und regionalen Agenturen der globalen Strukturanpassung. Mit der zunehmenden Internationalisierung der Ökonomie haben sich in den letzten zwanzig Jahren auch die bislang sehr unterschiedlichen, von den Nationalstaaten selber organisierten Mechanismen grenzübergreifender Kooperation und Entscheidungsfindung zunehmend internationalisiert (vgl. z.B. Dale 2000): Für diesen Vorgang stehen vor allem die Weltbank und der Internationale Währungsfonds (IWF), die Welthandelsorganisation (WTO), die Organisation for Economic Coordination and Development (OECD), aber auch regionale Zusammenschlüsse wie etwa die Europäische Union (EU), die North Atlantic Free Trade Association (NAFTA) oder die Asian Pacific Economic Cooperation (APEC). Sie sind Träger eines wirtschaftspolitischen Konsenses, der mit der Humankapital-Theorie auch die indikatorengesteuerte Produktion von 'Humanressourcen' als wesentliche Voraussetzung des wirtschaftlichen Wachstums und der Steigerung der Arbeitsproduktivität umfasst.

Die wesentlichen Bemühungen dieser Organisationen zielen darauf, die Regierungen gegen eine 'Überfrachtung' mit den Bedürfnissen der Leute abzuschirmen (vgl. Panitch 2000), und deshalb auf eine deutliche Reduktion staatlicher (Sozial )Ausgaben, um die jeweiligen Ökonomien für den Weltmarkt wettbewerbsfähiger zu machen (vgl. Panitch 1998). Für die Bildungssysteme als Teil staatlicher Daseinsvorsorge heißt die Devise nun Kostenreduzierung, und zwar durch effizienter arbeitende Bildungsinstitutionen sowie durch die Übernahme der Kosten für vormals staatlich finanzierte Leistungen durch die 'Konsumenten' ('cost sharing').

Das alte, staatlich organisierte Schulwesen gilt als strukturell defizitär: bürokratisch; unflexibel; regiert von einer Allianz von Professionellen und Bürokraten; unfähig, die Effizienz und Qualität zu erbringen, nach der Ökonomie und Konsumenten verlangen. Kosteneffizienz kann aber - so die Annahme - nur durch andere institutionelle Rahmenbedingungen erreicht werden. Deren Kriterien sind im wesentlichen: Wettbewerb (teil )autonomer Institutionen auf staatlich regulierten Quasi-Märkten; verschärfte Rechenschaftspflicht der in den Institutionen Arbeitenden; Privatisierung bzw. public-private partnership; und ergebnisorientierte Steuerung.

Die wesentlichen Grundzüge ihres seit den siebziger Jahren für die Bildungsinvestitionsprogramme in den 'Entwicklungsländern' und später auch in den 'Übergangsgesellschaften' der ehemaligen Sowjetrepubliken entwickelten neuen globalen Paradigmas der Steuerung von Bildungssystemen (vgl. OECD 1995; Klausenitzer 2000) benennt die Weltbank (1995) als "Dezentralisierung, zielorientiertes Management und cost sharing in den Institutionen der höheren Bildung". Humankapital-Theorie und rate-of-return-Rechnung, die Investitionen in Bildung unter dem Gesichtspunkt ihres Beitrags zur Steigerung von Produktivität und wirtschaftlichem Wachstum bewerten, bilden die theoretische Grundlage.

Von Krediten abhängige Länder sind gezwungen, die Bedingungen der vom IWF formulierten Strukturanpassungsprogramme für die Restrukturierung des Staates und seiner öffentlichen Aufgaben zu akzeptieren (vgl. Payer 1991). In diesem Sinne können die Entwicklungsländer als Experimentierfelder für neue politische Strategien angesehen werden. Dagegen wurde die Strukturanpassungspolitik in den Industrieländern mit den entsprechenden Umsetzungsstrategien von den jeweiligen Nationalstaaten selbst unter Mitwirkung von Institutionen wie der OECD organisiert (vgl. Dale 1999). Die neue Form staatlicher Politik und die veränderte Rolle des Staates stehen im Kontext einer globalen neoliberalen Wirtschaftspolitik (vgl. World Bank 1997; OECD 1987). Die Rolle der inter- und supranationalen Institutionen wird von Panitch (1998: 20) - die Weltbank (1997) zitierend - so beschrieben: "The role of the international agencies (...) is to provide 'a mechanism for countries to make external commitments, making it more difficult to back-track on reforms' (p. 15). Among these are international commercial or currency treaties through which the state commits to 'self-restricting rules, which precisely specify the content of policy and lock it into mechanisms that are costly to reverse' (p. 6)."

Dies beschreibt auch die Funktion und Zielrichtung des EU-Vertrags von Maastricht und seiner Regelungen für den öffentlichen Sektor: Deregulierung, Dezentralisierung und Privatisierung (vgl. Europäische Kommission 1997: 85f.). Ein weiterer Schritt in Richtung Handelsliberalisierung sollte das OECD-Projekt Multilateral Agreement on Investment (MAI) werden, das zwar vorläufig am internationalen Protest scheiterte, seine Fortsetzung aber in den gegenwärtigen Verhandlungen der WTO um ein General Agreement on Trade and Services (GATS) findet.

Der deutsche Restrukturierungsprozess der Steuerung öffentlicher Dienste muss in diesem Zusammenhang gesehen werden. Er wird von einem ganzen Bündel von Legenden und Mythen begleitet, die die alte Regulationsweise in einem spezifischen Krisenszenario delegitimieren und die neue legitimieren sollen: Die Unfähigkeit des alten staatsbürokratischen Systems wird dem Modell von Wettbewerb, Management und Empowerment von 'Konsumenten' als Mittel zur Problemlösung gegenübergestellt. Dem Begriff der Qualitätssicherung kommt in diesem Kontext eine besondere Bedeutung zu (vgl. Klausenitzer i.E.).

Der kritisch-analytische Diskurs zu Rolle, Aufgaben und Widersprüchen des Bildungssystems im Kontext der Reproduktion kapitalistischer Gesellschaften ist seit Ende der siebziger Jahre nahezu versiegt. Angesichts der gegenwärtig organisierten Restrukturierung der Bildungssysteme ist eine Bildungstheorie, die sich mit den aktuellen Entwicklungen auseinandersetzt, aber nur allzu geboten. Sie hätte sich vor allem zu beschäftigen mit der Analyse

  1. der ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Rahmenbedingungen der aktuellen Restrukturierung und des sie begleitenden Modernisierungsdiskurses;
  2. der sie begleitenden Diskurse, ihrer Mythen und Legenden; und
  3. der Wirkungsbedingungen der Akzeptanz dieser Mythen (vgl. Hall 1988).

Die Beiträge in diesem Heft unternehmen den Versuch, hierzu einen - bescheidenen - Beitrag zu leisten.

Zu den Beiträgen im Einzelnen

Es gibt wohl keinen Beitrag zur Reorganisation von Bildungssystemen, der zu ihrer Begründung nicht darauf hinweist, dass wir uns gegenwärtig im Umbruch zu einer 'Informationsgesellschaft' (EU), 'wissensbasierten Gesellschaft' (Weltbank, OECD) oder 'Wissensgesellschaft' (Bertelsmann) befänden. Dies sind autoritativ gesetzte Formulierungen, die scheinbar keines Nachweises bedürfen und deren Annahmen und Implikationen als nicht weiter hinterfragbar verstanden werden (um eine differenziertere Analyse bemüht sich OECD 2001). Das Verhältnis von Bildungsangebot und nachfrage, technologischem Wandel und Qualifikationsanforderungen wird nicht mehr im Zusammenhang der kapitalistischen Formbestimmung der Produktion diskutiert. Der Beitrag von Rainer Fischbach unterzieht einige der Legenden und Annahmen einer kritischen Überprüfung, die in der gegenwärtigen Bildungsdiskussion in legitimatorischer Absicht Verwendung finden.

Die Beiträge von Thomas Fritz und Christof Scherrer sowie von Nico Hirtt unternehmen den Versuch, einige Aspekte der Internationalisierung von Entscheidungsfindung und der Herausbildung eines globalen Paradigmas der Bildungsverwaltung zu beleuchten. Diese Analysen zum internationalen politischen und ökonomischen Kontext der Bildungsreform sind von wesentlicher Bedeutung angesichts eines "pensée unique" (Bourdieu), das bis auf wenige Ausnahmen auch von den Erziehungswissenschaften Besitz ergriffen hat.

Der Transfer des globalen politisch-pädagogischen Konsenses von Deregulierung und Privatisierung in die jeweiligen nationalen Bildungspolitiken ist ein ebenfalls unterbelichteter Bereich bildungssoziologischer Forschung. Die Beiträge von Jürgen Klausenitzer und von Torsten Bultmann skizzieren für den Schul- bzw. den Hochschulbereich die in Deutschland in einer spezifischen Weise sich vollziehenden Formen des Restrukturierungsprozesses und Aspekte des ihn begleitenden Diskurses.

Richard Hatcher beschreibt Entwicklungen in England unter New Labour, die deutlich machen, dass Erfahrungen mit der Privatisierung - auch in der Form der public-private partnership - zunehmend in öffentlichen Widerstand münden. Allerdings ist nicht zu übersehen, dass dieser Widerstand örtlich und zeitlich begrenzt ist und angesichts der vorherrschenden passiven Hinnahme und Akzeptanz offizieller Politik noch die Ausnahme darstellt. Die Analyse dieser Akzeptanz und der weitgehenden Integration neoliberaler Politik in sozialdemokratische und gewerkschaftliche Politik steht weitgehend noch aus.

Die WIDERSPRÜCHE werden die Analyse der globalen Restrukturierung von Bildungssystemen als Teil der Reproduktion kapitalistischer Gesellschaften in den nächsten drei Heften mit einer Reihe zu internationalen Aspekten dieses Prozesses fortsetzen. Geplant sind drei Beiträge: Roger Dale über den Zusammenhang von Bildung, Globalisierung und Migration; Bob Lingaard zur Bedeutung des Indikatoren-Projekts der OECD; und Stephen J. Ball zum "Terror der Performanz".

Jürgen Klausenitzer
in Zusammenarbeit mit der Redaktion

Literatur

  • Dale, Roger 2000: Globalisation - a new world for comparative education? In: Schriewer, Jürgen: Discourse Formation in Comparative Education. Frankfurt/Main, p.87 109
  • Dale, Roger 1999: Specifying globalization effects on national policy. In: Journal of Education Policy 1, p.1 17
  • Europäische Kommission 1997: Vertrag über die Europäische Union. Luxemburg (europa.eu.int/abc/treaties_de.htm)
  • Hall, Stuart 1988: The Toad in the Garden: Thatcherism among the Theorists. In: Cary, Nelson; Grossberg, Lawrence: Marxism and the Interpretation of Culture. Macmillan, London, p.35 57
  • Klausenitzer, Jürgen 2001: Die Bildungspolitik der Weltbank. In: Die Deutsche Schule 2, S. 242 245
  • Klausenitzer, Jürgen i:E.: Aspekte der Restrukturierung von Bildungssystemen in einigen ausgewählten OECD-Ländern. In: Sozialismus 4
  • OECD 1987: Structural Adjustment and Economic Performance. Paris
  • OECD 1995: Governance in Transition. Paris
  • OECD 2001: Bildungspolitische Analyse. Paris
  • Panitch, Leo 1998: The State in a Changing World. In: Monthly Review, October, p.11 22
  • Panitch, Leo 2000: The New Imperial State. In: New Left Review 2
  • Payer, Cheryl 1991: Lent and Lost. Foreign Credit and Third World Development. Zed Books, London, Atlantic Highlands/NJ
  • World Bank 1980: Education Sector Policy. Washington/DC
  • World Bank 1995: Priorities and Strategies for Education. Washington/DC
  • World Bank 1997: World Development Report. The State in a Changing World. Washington/DC