Schöner Wohnen II - Wohnung, Wohnen und soziale Arbeit

Editorial

Die vorliegende Ausgabe der Widersprüche versteht sich als Fortsetzung von Heft 121 vom September 2011mit dem Titel "Schöner Wohnen? Wohnungspolitik zwischen Markt und sozialer Daseinsvorsorge". Dort ist mit unterschiedlichen Akzenten das Wohnen als gesellschaftliches und politisches Konfliktfeld umrissen worden. Im Zentrum des Konflikts steht dabei immer mehr oder weniger offen das Problem, dass die waren- und marktförmige Befriedigung des Grundbedürfnisses "Wohnen" soziale Ungleichheiten nicht nur reproduziert, sondern auch verschärft. Heft 121 wirft einen Blick auf Ursachen und Empirie dieser Ungleichheiten und auf Versuche, letztere zu regulieren, auszugleichen, zu bekämpfen.

Die gesellschaftliche Diskussion über Wohnungspolitik ist nach wie vor aktuell. Trotz regional sehr unterschiedlicher Wohnungsmärkte werden z.B. die Mietentwicklung, die sozialen Folgen energetischer Sanierung, die Folgen des Rückgangs des sozialen Wohnungsbaus zu einem explizit politischen Thema, sind doch die berühmten breiten Wählerschichten von diesen Entwicklungen existenziell berührt.

Wohnungsfragen waren auch schon im Heft 117 "Eigensinnige Alte" zur Sprache gebracht worden, dort vor allem unter Aspekten der Formen des Zusammenlebens im Alter.

In diesem Heft 127 liegt der Fokus darauf, wie "Wohnen" in der Praxis sozialer Arbeit vorkommt. Einen unmittelbaren Zusammenhang zu sozialer Arbeit gibt es bereits in Heft 121 vor allem im Beitrag von Volker Busch-Geertsema zu "Housing First", setzt er sich doch mit einem klassischen Feld sozialer Arbeit, nämlich der Wohnungslosigkeit auseinander. Dabei ist das Besondere des Housing-First-Ansatzes, dass er der Sozialpädagogisierung der Unmöglichkeit, eine Wohung zu bekommen, eine Absage erteilt. Die Versorgung mit normalem Wohnraum wird in diesem Ansatz systematisch getrennt von eventuell vorhandenen sozialen Unterstützungsbedarfen. Dies erfordert einen grundlegenden Paradigmenwechsel der in die Verwaltung der Wohnungslosigkeit eingebundenen sozialen Arbeit. Auf diesen Text wird hier deswegen explizit verwiesen, stellt er doch einen Vorschlag vor, der den tatsächlichen Abschied von paternalistischer und trägerorientierter Reaktion auf Wohnungslosigkeit ermöglichen könnte. Wir verweisen auch deshalb auf den Text, weil wir im vorliegenden Heft darauf verzichtet haben, Wohnungslosigkeit oder Obdachlosenarbeit als Feld sozialer Arbeit zu thematisieren. Denn das Zusammentreffen von sozialer Arbeit und Wohnen findet auch unabhängig von Fragen der Versorgung mit Wohnraum statt. Wir konzentrieren uns auf zwei Ebenen dieses Zusammentreffens:

Zum Ersten geht es um das Zusammenspiel von Marktfunktionen, politischen und sozialgesetzlichen Regelungen, Stadtentwicklungspolitiken, öffentlichen Diskursen und institutionellen Praktiken, die dazu führen, dass es Bevölkerungsgruppen mit schlechten Chancen auf dem Wohnungsmarkt oder gar keinem Zugang zu ihm gibt oder dass Bevölkerungsgruppen aus Wohngebieten verdrängt werden.

Zum Zweiten geht es um die Wohnung als Lebensort und damit auch als Interventionsfeld sozialer Arbeit in ihrer Doppeltheit von Hilfe und Herrschaft. Wohnung als grundgesetzlich geschützte Privatsphäre trifft hier auf öffentliche Interessen, normative Vorstellungen der richtigen Lebensführung, Unterstützungswünsche und Schutzbedürfnisse von Personen in ihrer Wohnung.

In beiden Ebenen werden auch Fragen nach (emanzipatorischen) Handlungsmöglichkeiten von professionellen wie nichtprofessionellen, staatlichen wie nichtstaatlichen Akteuren aufgeworfen.

In diesem Heft fehlt zweifellos die Erinnerung an die Geschichte der Anstalt als Form des Wohnens für Adressaten sozialer Arbeit - vor allem in den Feldern der Jugendhilfe, Behindertenhilfe und Wohnungslosenhilfe -, Psychiatrie und Strafjustiz und die Betrachtung ihrer Gegenwart: In welchem Varianten lösen sich Anstalten auf oder in welchen kehren sie wieder? Wir bieten deshalb unser Forum in künftigen Heften als Ort an, diese Geschichten zum Thema zu machen.

Zu den Beiträgen im einzelnen

Stephan Nagel klärt in seinem Beitrag auf, wie Ausgrenzung und Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt funktionieren. Er zeigt, welche Bevölkerungsgruppen diesen Prozessen unterworfen sind, und er diskutiert die Grenzen einer Politik, die die Wohnungsnot dieser Menschen allein durch den Neubau von Wohnungen bekämpfen will. Der Vollzug von Ausgrenzung und Diskriminierung wird von ihm auf verschiedenen Ebenen veranschaulicht. Dazu gehören die gesetzlichen Regelungen der "Kosten der Unterkunft" im Sozialgetzbuch II ebenso wie öffentlichkeitswirksame Diskurse über "Sozialmieter" oder politische Programmatiken der "sozialen Mischung" von Stadtteilen, die auffälligerweise immer auf Stadtteile zielen, in denen mehrheitlich arbeitende und nicht lohnarbeitende arme Menschen oder Menschen im "prekären Wohlstand" leben. Politisch sehr bedeutsam ist auch sein Blick auf die konkrete Praxis der Anbieterseite des Wohnungsmarktes, wenn er Praktiken der Wohnungszuteilung und -verweigerung von Wohnungsgesellschaften darstellt. Abschließend schlägt der Autor Handlungsmöglichkeiten der sozialen Arbeit als Akteurin in der kommunalen Politik vor.

Die Thematisierung der sozialen Spaltung wird in dem Text von Florian Hohenstatt und Moritz Rinn aufgegriffen. Am Beispiel aktueller Entwicklungen anlässlich der Internationalen Bauaustellung (IBA) 2013 in Hamburg beschreiben sie eine stadtpolitische Strategie der Aufwertung und des Bevölkerungsaustauschs für die Stadtteile, die zum Aufführungsort der IBA werden. Die sich hier vollziehende Stadtentwicklungsstrategie wird von den Autoren unterschieden von und in Beziehung gesetzt zu den klassischen Politiken der sozialen Stadt. Dabei gelangen sie zur Erkenntnis, dass die vorgestellte Strategie sich genau von den Anteilen an sozialer Arbeit befreit, denen Kritiker der sozialen Stadt-Programme noch eine sozial- und stadtpolitisch ambivalente Wirkung zugeschrieben hatten.Der Text erzählt von den Veränderungen in den Wohn- und Lebensverhältnissen, benennt Akteure und berichtet von sozialen Konflikten, die sich im Rahmen einer Stadtentwicklung als Standortvermarktung artikulieren.

Matthias Schmidt und Bernd Kasparek thematisieren die Sonderbehandlung von Flüchtlingen. Ihre Bewegungsfreiheit ist durch die Residenzpflicht genauso beschränkt wie die ihre Möglichkeit, in Wohnungen zu wohnen. Lager sind nach wie vor der vorherrschende Ort für sie. Aus Wohnen wird so Unterbringung. Die Autoren beschreiben die weitgehenden Möglichkeiten der Freiheitseinschränkung durch die Behörden und berichten vom Widerstand von Flüchtlingen gegen diese aufgeherrschte Art des Wohnens und Lebens. Ergänzend zu diesem Artikel dokumentieren wir die Erklärung der Geflüchteten vom Protestzug 2012 nach Berlin.

Die Wohnung bzw. die Nachbarschaft als Ort von Konflikten und sozialer Arbeit wird in den Beiträgen von Susanne Gerull und Sabine Stoevesand zum Thema. Susanne Gerull diskutiert Hausbesuche als traditionellen Ansatz der sozialen Arbeit. Auf Basis einer arbeitsfeldübergreifenden Befragung von SozialarbeiterInnen und AdressatInnen sozialer Arbeit zu Hausbesuchen zeigt sie die unterschiedlichen Perspektiven auf den "Besuch vom Amt" und kommt zu der begründeten These, dass das Instrument des Hausbesuchs "die Ambivalenzen und Paradoxien der sozialen Arbeit wie in einem Brennglas" bündeln. Das Forschungsprojekt liefert gute Argumente dafür, sich der Entwicklung von Standards für Hausbesuche und der verstärkten Evaluation des Instruments anzunehmen. Neben dieser Perspektive gibt der Text auch einen Überblick über gesetzliche Grundlagen für Hausbesuche.

Sabine Stoevesand setzt sich in ihrem Beitrag mit der Frage auseinander, wie die soziale Arbeit zivilgesellschaftliche Netzwerke stärken kann, um öffentliche Eingriffe in privatisierte Gewaltverhältnisse, vor allem in Form von Gewalt gegen Frauen, zu ermöglichen. Dieser Ansatz begibt sich in das komplizierte Handgemenge von unterschiedlichen Strategien sozialer Kontrolle und beansprucht eine emanzipatorische Bearbeitung der vorfindbaren Ambivalenzen zwischen Blockwartmentalität, Kriminalprävention, Opferschutz und nachbarschaftlicher Delegitimierung männlicher Gewaltausübung. Die Autorin beschreibt die Geschichte der gesellschaftlichen Konstitution der Wohnung als privatem Ort von Unterordnungsverhältnissen und diskutiert Handlungsmöglichkeiten gegen häusliche Gewalt vor dem Hintergrund der Verwobenheit von Hilfe und Kontrolle in nachbarschaftlichen Netzwerken. Vorgestellt werden schließlich handlungsleitende Prinzipien, die eine sich emanzipatorisch verstehende Praxis in diesem Feld reflektieren muss.

Im Forum veröffentlichen wir drei Beiträge zum öffentlichen Umgang mit einem Lehrbuch Sozialer Arbeit und der politischen Position seines Autors. Der "Grundkurs sozialer Arbeit", den unser Redaktionsmitglied Timm Kunstreich 1997 veröffentlicht hatte und der seither in etlichen Hochschulen für soziale Berufe, u.a. auch in der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit und Diakonie mit vielen Studierenden diskutiert worden war, ist im Frühjahr 2012 Anlass zu einer besonderen Debatte über Jugendhilfe in der DDR geworden. Die Besonderheit liegt u.a. darin, dass die Debatte alte Argumentationsschemata wiederbelebte, die sowohl Timm Kunstreich als auch unserer Zeitschrift quasi Kumpanei mit dem Herrschaftssystem der DDR und repressiver Jugendhilfe unterstellt. Ihren Ausgang hatte diese Geschichte in der Entscheidung einer Studentin, nicht mehr an einem Studiengang der Ev. Hochschule in Hamburg teilnehmen zu wollen, in dem ein Text des Erziehungswissenschaftlers Eberhard Mannschatz verhandelt wird, der an leitender Stelle im entsprechenden Ministerium der DDR für Programm und Praxis der Jugendhilfe mitverantwortlich war. Dieses Ereignis wurde von verschiedenen Seiten politisch prominent aufgegriffen, und in der Folge erschienen nicht nur die bekannten Zeitungsartikel, sondern es wurden auch verschiedene Fachtagungen zur Jugendhilfe in der DDR und den daraus zu ziehenden Lehren durchgeführt. Die Texte im Forum betrachten die Ereignisse mit spezifischen Blickwinkeln. Der Arbeitskreis Kritische Sozialarbeit Hamburg benennt in seiner Stellungnahme die Stationen und Positionen der Debatte, interpretiert sie als Konflikt um Deutungshoheiten und fordert dazu auf, sich gegen jegliche Form repressiver Jugendhilfe zu wenden. Helga Cremer- Schäfer erinnert an die Sympathisantendebatte der 1970er Jahre und stellt bei aller Unvergleichbarkeit der Vorgänge vom Inhalt her eine Gleichheit von Mustern im Verhalten der beteiligten Akteure fest. Barbara Rose thematisiert, wie Erfahrungen und Perspektiven der Opfer solcher autoritären Formen der Jugendhilfe hierarchisierenden Bewertungen unterliegen und politisch und medial instrumentalisiert werden.

Die Redaktion