Politische Bildung? Bildung des Politischen?
Editorial
Corporate Power and the Decline of the Public Sphere ist eine großformatige Studie von Carl Boggs (2000) untertitelt, in der dieser klassische gesellschaftsanalytische Themen wie Kapitalismus, Politik, Demokratie, politisches Bewusstsein und politische Beteiligung - mit Bezug auf die US-amerikanische Realität heute - in ein historisch konkretes Verhältnis zueinander setzt und zu einem vernichtenden Urteil über Demokratisierungs(zu)stand und -perspektive gelangt, dass das Buch den Titel The End of Politics trägt. Insbesondere gegen diejenigen, die - immer noch - auf die 'Zähmung' oder 'Zivilisierung' des Kapitalismus, die Beförderung von Demokratie in der Gestalt der 'Zivilgesellschaft' setzen, hebt er hervor: "The reality is that civil society, with the end of the cold war, has come to embrace a turn toward privatization, toward a neoliberal emphasis on market capitalism that is fully compatible with the growth of corporate colonization and economic globalization" (Boggs 2000: 276f.). Verlängert wird damit eine Einsicht, die Bowles/Gintis (1987: 3) bereits früher zu der Einschätzung geführt hatte, dass keine kapitalistische Gesellschaft heute sinnvoll als demokratisch zu kennzeichnen sei, weil dies einhergehen müsse mit der Sicherung persönlicher Freiheit und einem gesellschaftlich verantwortungsvollen Umgang mit Macht. Diesem grundlegenden Mangel aber ist bei Betrachtung von 'Politik' und deren Konstitutionsbedingungen -in den USA und anderswo - nicht nur nicht abgeholfen worden, sondern er hat sich nach dem Zusammenbruch der staatskapitalistischen Systeme sogar noch verstärkt.
Der Verfall von 'Politik', der in den USA angesichts der Herrschaft des "Diebes im Präsidentenamt" (Kellner 2001) noch eine Verschärfung zu erfahren scheint, ist gleichwohl auch vorher schon vor dem Hintergrund politischer Strukturen und politischen Bewusstseins ein entscheidendes qualitatives Problem der Thematiken "Politische Bildung" wie "Bildung des Politischen" gewesen. Die Durchsetzung und Befestigung einer oligarchischen Herrschaft in klassenstrukturierten kapitalistischen Gesellschaften, die Kolonisierung des Alltagslebens von Erwachsenen wie Kindern durch Konsumismus, die Unterdrückung potentieller Alternativen (vgl. Berman 2001; Steinberg/Kincheloe 2001), die Kolonisierung des Bewusstseins der Beherrschten durch Indoktrination, Manipulation und Desinformation sowie den Mythos der klassenlosen Gesellschaft (vgl. Chomsky 2000: 35f.; 2001: 99ff.) gehörte immer schon zum bekannten Inventar in den hegemonialen Auseinandersetzungen. Gegen eine reduktionistische Beurteilung galt und gilt dabei: "Even with the necessary criticisms of the unequal power relations surrounding education and the larger society, we need to remember that schooling was never simply an imposition on supposedly culturally/politically inept people. Rather, educational policies and practices were and are the results of struggles and compromises over what should count as legitimate knowledge, pedagogy, goals, and criteria for determining effectiveness" (Carlson/Apple 1998: 11). Auf die damit verbundene Problematik der Meinungs- und Urteilsbildung als Basis von Politikfähigkeit verweisen auch Überlegungen von Bourdieu (2001: 89), welcher feststellt, es gelte den Widerspruch zu erkennen, der darin bestehe, dass zwar allen "ein gleiches Recht auf persönliche Meinung zuerkannt (werde), aber nicht allen die Mittel an die Hand gegeben (würden), dieses formal universelle Recht auch wahrzunehmen."
Gerade weil Bildung wie Politik zu den umkämpften Terrains der bürgerlichen Gesellschaft gehören, ist daran zu erinnern, dass - mit dem Marx der Grundrisse gesprochen - "die große geschichtliche Seite des Kapitals" bzw. "the great civilising influence of capital" (Marx o.J.: 231, 313; vgl. Berman 1988: 90ff.) sich wesentlich auch auf diesen Gebieten niedergeschlagen hat; wenngleich in systemischen Grenzen, die den Gegensatz von partieller, verwertbarer Begabung und der übergreifenden freiheitsorientierten Perspektive von Bildung deutlich hervortreten lassen.
Angesichts der verallgemeinerbaren Bildungsmöglichkeiten heute, die ihren Grund in gesellschaftlichen Entwicklung allgemein wie arbeitsprozesslichen Änderungen im besonderen haben (vgl. Heydorn 1980: 290f.; Sünker 1999), stellen sich zumindest Elemente der Debatte um das "Politische" und die "Bildung" neu dar. Dabei ist darauf zu achten, dass es sich um Möglichkeiten handelt, die angesichts der Realität, die die PISA-Ergebnisse für Deutschland beschreiben - welche ihr Zentrum im nochmaligen Nachweis der Reproduktionsfunktion des Bildungswesen für die Aufrechterhaltung der Klassenstruktur haben -, als immer noch prekär erscheinen. So heißt es mit Bezug auf unser Thema in der PISA-Studie: "Kulturelles Engagement und kulturelle Entfaltung, Wertorientierungen und politische Partizipation kovariieren über die gesamte Lebensspanne systematisch mit dem erreichten Bildungsniveau" (Deutsches PISA-Konsortium 2001: 32). Auf Vermittlungszusammenhänge zwischen politischer Bildung und der Bildung des Politischen, wie sie sich hier andeuten, hat Bourdieu (1984: 639) schon früher und schärfer aufmerksam gemacht, als er festhielt:
"Um den Zusammenhang von Bildungskapital und Geneigtheit, auf politische Fragen zu antworten, angemessen zu erklären, genügt nicht der Rückgriff auf die durch den Bildungstitel garantierte Fähigkeit zum Verstehen, zur Wiedergabe oder selbst noch zur Hervorbringung des politischen Diskurses; hinzu kommen muss vielmehr noch das - gesellschaftlich gebilligte oder geförderte - Gefühl, berechtigt zu sein, sich überhaupt mit Politik zu beschäftigen, ermächtigt zu sein, politisch zu argumentieren." (vgl. auch Bourdieu 1984: 686ff., 716ff.).
Ausgegangen werden kann gesellschaftstheoretisch wie -politisch u.E. von einem Befund zur gegenwärtigen gesellschaftlichen Lage und deren Verarbeitung, wie ihn Vester et al. (2001: 13; vgl. 45, 58, 103) in ihrer Studie Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel herausgestellt haben:
"Entgegen den Annahmen von Anthony Giddens und Ulrich Beck sind es nicht die Milieus, die heute zerfallen. Die Klassenkulturen des Alltags sind vielmehr, gerade wegen ihrer Umstellungs- und Differenzierungsfähigkeit, außerordentlich stabil. Was erodiert, sind die Hegemonien bestimmter Parteien (und Fraktionen der Intellektuellen) in den gesellschaftspolitischen Lagern. Daher haben wir auch heute keine Krise der Milieus (als Folge des Wertewandels), sondern eine Krise der politischen Repräsentation (als Folge einer zunehmenden Distanz zwischen Eliten und Milieus)."
Mit dieser Krise der Repräsentation, unter anderem kontinentaleuropäisch ausgedrückt in den sinkenden Quoten von Wahlbeteiligung, im 'Verdruss' über Parteien - nicht über Politik -, stellt sich erneuert die Frage nach den Möglichkeiten einer "Neuerfindung von Politik", wie Boggs (2000: 278) es nennt, als Basis für Hoffnungen auf "Repolitisierung": "Political renewal depends on recovery of precisely those concerns that a depoliticized society so thoroughly devalues, namely, collective consumption, social planning, citizen involvement, and the imposition of public controls over capital."
Ob dies die Stunde der politischen Bildung angesichts der Aufgabe "Bildung des Politischen" ist, wird sich zu zeigen haben; als Aufgabe im Interesse eines demokratischen Lebens wie Überlebens ist daran unabdingbar festzuhalten (vgl. Heydorn 1980: 297ff.). Einsichtig ist bislang immerhin, dass sich nur im Widerstand gegen herrschende Modelle von Politik und politischer Bildung eine Perspektive entwickeln und realisieren lassen wird, die von einer Demokratisierung aller Lebensbereiche und Institutionen ausgeht - eine partizipatorische Perspektive, gültig für alle, unabhängig von der Zugehörigkeit zu Generation und Ethnizität.
Die Redaktion
Literatur
- Berman, Marshal 1988: All That Is Solid Melts Into Air. The Experience of Modernity. Penguin, New York
- Berman, Morris 2001: Kultur vor dem Kollaps? Wegbreiter Amerika. Frankfurt/Main
- Boggs, Carl 2000: The End of Politics. Corporate Power And The Decline Of The Public Sphere. The Guilford Press, New York & London
- Bourdieu, Pierre 1984: Die feinen Unterschiede. 3. Aufl., Frankfurt/Main
- Bourdieu, Pierre 2001: Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft. Frankfurt/Main
- Bowles, Samuel; Gintis, Herbert 1987: Democracy & Capitalism. Basic Books, New York
- Carlson, Dennis; Apple, Michael 1998: Critical Educational Theory in Unsettling Times. In: dies.: Power/Knowledge/Pedagogy. Westview, Boulder/CO, p.1-38
- Chomsky, Noam 2000: Chomsky on Miseducation. Rowman & Littlefield, Lanham
- Chomsky, Noam 2001: War Against People. Menschenrechte und Schurkenstaaten.
- Hamburg Deutsches PISA-Konsortium (Hg.) 2001: PISA 2000. Opladen
- Heydorn, Heinz-Joachim 1980: Überleben durch Bildung. In: ders.: Ungleichheit für alle. Frankfurt/Main, S. 282-301
- Kellner, Douglas 2001: Grand Theft 2000. Media Spectacle and a Stolen Election. Rowman & Littlefield, Lanham
- Marx, Karl o.J.: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. Frankfurt/Main
- Steinberg, Shirley; Kincheloe, Joe 2001: Keine Geheimnisse mehr - Kinderkultur und die postmoderne Kindheit. In: Güthoff, Friedhelm; Sünker, Heinz: Handbuch Kinderrechte. Partizipation, Kinderpolitik, Kinderkultur. Münster, S. 12-26
- Sünker, Heinz 1999: Kritische Bildungstheorie und Gesellschaftsanalyse: Bildung, Arbeit und Emanzipation. In: ders.; Krüger, Heinz-Hermann: Kritische Erziehungswissenschaft am Neubeginn ?! Frankfurt/Main, S. 327-348
- Vester, Michael; von Oertzen, Peter; Geiling, Heiko; Hermann, Thomas; Müller, Dagmar 2001: Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel. Zwischen Integration und Ausgrenzung. Frankfurt/Main