Grenzen des Zwangs? Soziale Arbeit im Wandel
Editorial
Öffentliche (Heim-)Erziehung ist Zwang - so hat Timm Kunstreich das Verhältnis bis Anfang der 1980er in Heft 106 (2007: 11) charakterisiert, in dem kontroverse Positionen zu der zunehmend positiven Konnotierung bzw. 'Normalisierung' von Zwang als sozialarbeiterische "Hilfe" diskutiert wurden. Im Fokus standen die Hilfen zur Erziehung sowie die zunehmend auch in der Disziplin vertretene These, Zwang stelle eine legitime sozialpädagogische Option dar.
In diesem Heft schließen wir an die fruchtbare und kontroverse Debatte an. Sie ist nicht nur in den kritischen Diskursen um die Rolle und Funktion der Sozialen Arbeit virulent, sondern beschäftigt vor dem Hintergrund des Wandels der wohlfahrtsstaatlichen Arrangements Profession wie Disziplin. Markante Kennzeichen der Diskurse auf den unterschiedlichen Ebenen - von der sozialpolitischen Analyse über den hegemonialen öffentlichen und politischen Diskurs bis zu den veränderten administrativen Rahmenbedingungen - sind die begriffliche Unübersichtlichkeit und die Gleichzeitigkeit von Strömungen, die auf unterschiedliche Entwicklungen zu verweisen scheinen.
So wurde einerseits vor gerade neun Jahren das Recht auf gewaltfreie Erziehung normiert - "Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig" (§ 1631 (2) BGB) - und auch die Aufarbeitung der schwarzen Pädagogik der langen 1950er Jahre in der bundesrepublikanischen Heimerziehung verweist öffentlichkeitswirksam auf einen expliziten Gegensatz von 'alter' Zwangserziehung und aktueller, partizipativer, humaner Erziehungsvorstellungen. Andererseits werden Formen der strafenden Pädagogik, etwa das Boxcamp Kannenberg medial gepusht und der Erfinder für seine Leistung mit dem Bundesverdienstkreuz bedacht. So wird die Ausschließung bzw. Abschiebung der vermeintlich gefährlichen Jugend politisch und fachlich wieder hoffähig: die Frage "Ab nach Sibirien?" (Brumlik 2008) ist mit Blick auf aktuellen Entwicklungen keineswegs rhetorisch zu verstehen.
Auch die Frage, was 'Zwang' in der Erziehung ist, bzw. wo Zwang in der Erziehung beginnt, zeichnet sich zunächst durch Uneindeutigkeit aus: Zählen verpflichtende Elternkurse, wie sie Hurrelmann (bspw. in der ZEIT 43/2006: 18) fordert, bereits als Zwang in der Erziehung? Oder reservieren wir diesen Begriff für Zwangsmittel mit Körpereinsatz und freiheitsentziehende Maßnahmen? In der Praxis, der Profession, stellt sich diese Frage aufgrund der gesetzlichen Veränderungen wieder anders und die Frage der Legitimität von Sanktionen scheint in einigen Feldern bereits beantwortet: etwa im Rahmen des SGB II, in dem Hilfe besonders sichtbar an Wohlverhalten und Pflichten gebunden ist - und bei unkooperativem Verhalten entzogen werden kann. Neben dem Kapitel 1 "Fördern und Fordern" (§§ 1-6c SGB II) und der darin enthaltenen expliziten Knüpfung von Leistungen des Staates an Gegenleistungen durch die Bürger bzw. AdressatInnen findet sich dort ein eigener Unterabschnitt "Anreize und Sanktionen" (§§ 29 bis 32 SGB II), in dem Strafen für Regelverstöße verbindlich festgelegt sind.
Vor diesem Hintergrund stellen sich mit Blick auf Profession und Disziplin sowie ihr Verhältnis zu Zwang in der Erziehung zwei zentrale Fragen:
- Die Frage der Enttabuisierung von Kontrolle und Zwang innerhalb der Profession, die mit den sozialen, politischen und administrativen Veränderungen einhergeht. Lösen sich die identitätsstiftenden Tabus von Kontrolle und Zwang als und in der Hilfe auf? Werden sie mit der aktivierungspolitischen Neujustierung der Funktionen und Aufgaben Sozialer Arbeit überflüssig oder gewinnen sie eine neue Qualität? Hat die "Straflust" (Hassemer 2001) auch die SozialarbeiterInnen und die konkreten Hilfen erreicht?
- Die Frage nach dem Begriff: Worüber reden wir eigentlich, wenn wir von Zwang im Rahmen professioneller Hilfe sprechen und schreiben? Um es mit Blick auf die Debatte bewusst zuzuspitzen: Geht es um Strafe, Unterwerfung und Züchtigung also direkte oder institutionell vermittelte psychische oder physische Gewalt (vgl. Cremer-Schäfer 2007: 67) oder um jegliche von Menschen hergestellte Einschränkung von Freiheiten und Handlungsoptionen (vgl. Wolf 2008: 93)?
Beide Fragenkomplexe kreisen um den gesellschaftlichen und politischen Transformationsprozess vom Wohlfahrtsstaat zum aktivierenden Staat, in dem der Sozialen Arbeit neue Funktionen und Rollen zugewiesen werden, die mit einem Mehr an Zwang, Druck, Sanktion und Kontrolle verbunden werden. Das "...neue, auf breiten gesellschaftlichen Konsens aufbauende Grundprinzip des aktivierenden Staates: Fordern, Fördern und bei Zielverfehlung fallen lassen, ist ohne 'soziale Kontrolle' und einen 'punitiven Paternalismus' nicht funktionsfähig" (Dahme et. al. 2003: 10). Damit werden - so eine Sichtweise - alte Selbstverständnisse und Tabus in Frage gestellt. In der etwa von Ronald Lutz (2008) prominent publizierten Variante einer "Zwei-Klassensozialarbeit" (ebd.:8) löst sich damit - mindestens analytisch - auch das doppelte Mandat auf: "Die 'Dichotomie' von Hilfe und Kontrolle ist ein bis heute die Debatten prägender Begriff, dem allerdings immer mehr die empirische Basis schwindet" (ebd.: 5), andere beschreiben die Normalisierung dieses Spannungsfeldes als Professionalisierungsgewinn für die Soziale Arbeit. Die so genannten "Zwangskontexte" (exemplarisch Kähler 2005) in der Sozialen Arbeit - der Zwang zur Hilfe - und zum Teil auch der Zwang in der Hilfe werden enttabuisiert und der vormals identitätstiftende Widerstand gegen die system- und herrschaftstabilisierende Funktion Sozialer Arbeit gerinnt zu einem Pflichtbekenntnis, das im Zuge der Professionalisierung überwunden werden muss.
Gleichzeitig wird aber auch gefordert, die Hilfe selbst, "<...> das Fördern, das muss von Zwangselementen frei bleiben" (ebd.: 129) und Strafe wird in der Sozialen Arbeit und Sozialarbeitsforschung ganz selbstverständlich zu einem "heiklen Thema" erklärt. Der Begriff der "Hilfe" ist und bleibt offenbar der zentrale Bezugspunkt und Gegenstand Sozialer Arbeit. Damit ist jedoch wenig geklärt und es bleibt die Frage an Profession und Disziplin, ob sich mit dem Wandel die Grenzen des Unbehagens verschieben: Wird der Konflikt um Kontrolle in der bzw. als Hilfe abgelöst durch den Konflikt um das Ziel der Hilfe - Integration oder Ausschluss - bzw. durch den Konflikt um die Legitimität der Mittel - also die Frage, wie viel Zwang in der Hilfe sein darf?
An dieser Stelle wird deutlich, wie eng die beiden Themen miteinander verknüpft sind, denn die Hypothese einer neuen Qualität des konstitutiven Spannungsfeldes der Sozialen Arbeit, in dem sich die Grenzen der ethisch legitimen und administrativ geforderten Kontrolle und ihrer Formen verschieben, lässt sich nur auf Basis klar konturierter Positionen führen. Dies erfordert eine Reflexion der kulturellen, politischen und administrativen Veränderungen einerseits und der Veränderungen des Klientenbildes, der Professionsethik und der konkreten Praxis andererseits.
Zu den Beiträgen im Einzelnen
Den Rahmen für diese Debatte stellt die leicht gekürzte Übersetzung von Dario Melossis auf den Umgang mit Kriminalität bezogene Analyse, der wandelnden Repräsentationen des Kriminellen dar. In dieser arbeitet er die wechselseitige Bedingtheit und das Zusammenspiel ökonomischer und politischer Entwicklungen sowie von öffentlichen, wissenschaftlichen Diskursen und der Moralproduktion in der Kunst heraus.
Diese grundlegende Analyse greift Holger Ziegler in einer einführenden Kommentierung von drei folgenden Beiträgen auf und entwickelt daran seine These eines Kulturkampfs in Profession und Disziplin.
Die Beiträge, die Ziegler anhand von Melossis Analyse einordnet und reflektiert, sind die sozialpolitische Analyse des Formwandels der Sozialen Arbeit von Norbert Wohlfahrt und Heinz-Jürgen Dahme, die betonen, dass im Zuge der Durchsetzung aktivierender Sozialpolitik auch der direkte Zwang zunimmt, was sie primär auf strukturelle und systematische Ursachen zurückführen. Anhand der Felder Erwerbsarbeit, Dezentralisierung und bürgerschaftliche Sozialarbeit sowie einer Lebensführungspolitik als Strategie präventiv-kontrollierender Inklusion arbeiten sie heraus, wie der aktivierende Sozialstaat Kontrolle, Sanktion und Strafe systematisch verankert und die Grundlagen des Sozialsystems ebenso umbaut wie die sozialen Dienstleistungsorganisationen.
Mathias Schwabes Beitrag, "Gewalt", "Zwang" und "Disziplin": dunkle Gestalten an der Wiege sozialer Entwicklungen, stellt heraus, dass Gewalt und Zwang immanente Bestandteile jeglicher Entwicklungsprozesse - staatlicher, menschlicher und erzieherischer - sind. Daher plädiert er für das "schmerzliche" Aufgaben der "Illusionen des 'guten Anfangs' und der 'reinen Entwicklungs-Prozesse'", da die negativen Prozesse, u.a. der Zwang, auch produktiv seien. In Melossis Perspektive steht diese Analyse, wie Ziegler hervorhebt, für die Agenda der Enttabuisierung und Akzeptanz von Zwang in Disziplin und Profession.
In der Redaktion der WIDERSPRÜCHE gab es deutliche Einwände gegen die Veröffentlichung dieses Beitrags - nicht aufgrund von Schwabes Position, die für die vorliegende Debatte eminent wichtig ist, sondern aufgrund der Modi der Rezeption von Theorien und der Argumentationsführung.
Der dritte Beitrag, der in der Kommentierung ausführlicher eingeordnet wird, ist Ulrike Urban-Stahls Auseinandersetzung mit den Begriffen Kontrolle, Macht und Zwang in der Sozialen Arbeit und für das Handeln der Professionellen. Diese Begrifflichkeiten und die Diskussion der Legitimität von Kontrolle und Zwang seien in der Soziale Arbeit gewissermaßen eingeschrieben. Gerade mit Blick auf die unterrepräsentierten Betroffenenrechte erfordere dies eine kritische Auseinandersetzung um legitime und illegitime Begründungen für Reichweite und Formen von Kontrolle und Zwang.
Der letzte Schwerpunktsbeitrag, Zwangselemente in der Heimerziehung und ihre Bewertung durch die Kinder und Jugendlichen von Carsten Höhler systematisiert in einer Sekundäranalyse unterschiedliche Zwangsformen in der aktuellen Heimerziehung und die Reaktionen und Bewertungen der Betroffenen. Diese auf seiner Diplomarbeit gründende Ordnung und Einordnung von Zwangsformen ermöglicht insbesondere ein zielgerichteteres Reden über Zwang und stellt damit ein strukturierendes Vademecum für die Auseinandersetzung in Theorie und Praxis, in Profession und Disziplin dar.
Die Redaktion
Literatur
Brumlik, M. (Hg.) (2008): Ab nach Sibirien? Wie gefährlich ist unsere Jugend? Weinheim
Cremer- Schäfer, Helga (2007): Populistische Pädagogik und das 'Unbehagen in der punitiven Kultur'. In: Widersprüche 106, S. 59-75
Dahme, Heinz-Jürgen / Otto, Hans-Uwe / Trube, Achim / Wohlfahrt, Norbert (Hg.) (2003): Soziale Arbeit für den aktivierenden Staat. Opladen
Hassemer, Winfried (2001): "Gründe und Grenzen des Strafens". In: Vormbaum, Thomas (Hg.): Jahrbuch der juristischen Zeitgeschichte Bd. 2. Baden-Baden, S. 458-484
Kähler, Haro (2005): Soziale Arbeit in Zwangskontexten. Wie unerwünschte Hilfe erfolgreich sein kann. München
Lutz, Ronald (2008): Perspektiven der Sozialen Arbeit. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 12/13 2008. Wandel der Sozialen Arbeit, S. 3-10
Widersprüche Heft 106 (2007): Wer nicht hören will, muss fühlen? - Zwang in öffentlicher Erziehung. Bielefeld
Wolf, Klaus (2008): Erziehung und Zwang. In: Widersprüche Heft 107, S. 93-108