Euch werden wir helfen! - Kinderschutz zwischen Hilfe und Kontrolle
Editorial
Ausgangspunkt dieses Heftes ist die Reform des KJHG von 2005 (Kinder- und Jugendhilfeergänzungsgesetz, KICK, in Kraft getreten im November 2005). Hier wird der Kinderschutz durch substantielle Änderungen im SGB VIII ausgeweitet, die Eingriffsmöglichkeiten des Staates (konkret des Jugendamtes) zu lasten der Elternrechte verstärkt, und die hoheitlichen Aufgaben gegenüber den Hilfen stärker gewichtet. Die Reform sieht einmal die Einbeziehung der freien Träger der Jugendhilfe in den Schutzauftrag (vom Kindergarten bis zur Erziehungsberatungsstelle) vor, sie werden verpflichtet, bei Indizien auf eine Gefährdung des Kindeswohls ein bestimmtes Verfahren der fachlichen Bearbeitung durchzuführen. U. a. sieht dieses Verfahren die Hinzuziehung einer einschlägig fachlich qualifizierten Person, die Prüfung weiteren Klärungsbedarfe, und die Besprechung und Bewertung der Indikatoren im Team, Kontaktaufnahme und Einbeziehung der Eltern und der Kinder, Hilfeangebote in der Einrichtung oder von externen Fachdiensten vor, bevor das fachlich zuständige Jugendamt informiert wird, welches dann die Überprüfung und Klärung der gewichtigen Anhaltspunkte vornehmen muss. Inzwischen haben viele Kommunen bzw. Jugendämter Checklisten und Einschätzungsbögen entwickelt, freilich ist die Feststellung einer Kindeswohlgefährdung keine Tatsachenbeschreibung sondern bleibt eine fachliche Einschätzung auf der Grundlage einschlägiger Informationen. Die Inobhutnahme und die Herausnahme werden rechtlich zusammengeführt in einem neuen § 42. Der Datenschutz wurde insofern verändert, als in Fällen vermuteter Kindeswohlgefährdung der Vertrauensschutz der Beteiligten aufgehoben, die Befugnisse des Jugendamts auf Erhebung bei Dritten und die Verpflichtung zur Weitergabe relevanter Daten auf freie Träger ausgeweitet wurden.
Die Verpflichtung des Jugendamtes, Hinweisen in jedem Falle nachzugehen, wurde verschärft. Derzeit wird über einen verpflichtenden Hausbesuch im Falle eines auch unspezifischen Hinweises diskutiert. 2008 haben fast alle Bundesländer die kinderärztlichen Vorsorgeuntersuchungen auf verschiedene Weise verbindlicher oder zur Pflicht gemacht, in Hessen z. B. wird nach zweimaliger vergeblicher Aufforderung das Jugendamt mit einem unangemeldeten Hausbesuch tätig. Im Koalitionsvertrag haben die die Regierung tragenden Fraktionen vereinbart, mit einem Projekt zur frühen Förderung gefährdeter Kinder soziale Frühwarnsysteme zu entwickeln. Dafür sollen Leistungen des Gesundheitswesens, der Kinder- und Jugendhilfe sowie zivilgesellschaftliches Engagement besser miteinander verzahnt werden. Ein "Nationales Zentrum Frühe Hilfen" wurde gegründet und ist seit 2007 beim Deutschen Jugendinstitut in München angegliedert. Zu der Zielsetzung dieses Vorhabens wird gesagt: "Das in die Regelversorgung zu implementierende System muss auf die lückenlose Identifizierung von Kleinkindern in familialen Risikosituationen ausgerichtet sein, um deren Entwicklung durch Hilfen zu begleiten und zu unterstützen sowie gegebenenfalls - wenn zum Schutz des Kindes erforderlich - auch gegen den Elternwillen zu intervenieren. Im Mittelpunkt sollen Familien mit Kindern vom vorgeburtlichen Alter bis zum Alter von ca. drei Jahren stehen, deren Lebenssituationen durch hohe Belastungen und vielfältige und/oder schwerwiegende Risiken (zum Beispiel Armut, Gewalt oder Suchterkrankung im Elternhaus) gekennzeichnet sind." (Nationales Zentrum Frühe Hilfen/Zielsetzung.)
Dem steht aus gleichem Hause die Einschätzung der bisherigen Modellprojekte "Frühe Hilfen" gegenüber: "prinzipielles Problem bei der Erkennung von Risiken und Gefährdung in Bezug auf das Kindeswohl ist, dass bisher keinerlei einheitlichen, validen, und praxistauglichen Instrumente entwickelt wurden." (Helming u.a, DJI 2007, S. 41). Seit der Verabschiedung des Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetzes (KICK) mit seinem § 8a SGB VIII (Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung) im Jahr 2005 bricht die Diskussion um den Kinderschutz nicht mehr ab. Einmal sind durch die Häufung der Fälle zu Tode gekommener und gequälter Kinder - und deren medialer Dramatisierung - nun die Kinderschutzeinrichtungen selbst, die Professionellen in den Blick gekommen, denen Vernachlässigung im Amt, Fehler und fachliche Inkompetenz vorgeworfen wurde. Man kann an die Reform auch die zynische Anfrage stellen, dass damit jedenfalls die fachlichen Risiken kontrolliert werden. Ob angesichts der Ausweitung des Kontrollaspektes sozialpädagogischer Tätigkeit bis in die Kinderkrippe und die Spielgruppe von Familienbildungsstätten hinein, die Risiken in den Familien kontrollierbarer werden, steht in Frage. In der Vergangenheit war der Schutzaspekt bei einer lebensweltlichen und hilfeorientierten Dienstleistungshaltung in der Jugendhilfe eher in der Reserve. Derzeit schlägt das Pendel mit großer Kraft in die andere Richtung aus. Was mit dem § 8a vom Gesetzgeber als Klarstellung der rechtlichen Verantwortung des Jugendamtes und als breite Verankerung des Kinderschutzauftrages in der gesamten Jugendhilfe dargestellt wird, entwickelt sich eher zum Argument für eine repressive Aufrüstung der Jugendhilfe und verstärkt sozialstaatliche Überwachungs- und Eingriffstendenzen.
Zum Kontext dieser Diskussion.
1. auf die anscheinend zunehmende Zahl zu Tode gekommener Kinder reagiert der Staat unverzüglich durch die rechtliche Institutionalisierung des Kinderschutzes im neuen Gesetz und den Ausbau präventiver Maßnahmen zum Kinderschutz und durch frühe Hilfen. Diese Entwicklung geschieht vor dem Hintergrund einer zunehmenden Ökonomisierung der Jugendhilfe, die sich u. a. auch in einer steigenden Fallbelastung und Neu- oder Umorganisationen des ASD oder der Jugendämter auswirkt.
2. ein wichtiger Schwerpunkt liegt auf den institutionellen Veränderungen, nämlich dem Einbezug der freien Träger mit der Verpflichtung auf ein fachliches Verfahren der Abklärung und der Überprüfung von Indizien, zu denen einige Ämter inzwischen Regelwerke entwickelt haben.
3. vorausgingen vor allem in Nordrhein-Westfalen Modellprojekte zur Entwicklung früher Hilfen, mit einem Schwerpunkt der Zusammenarbeit mit Einrichtungen des Gesundheitswesens (Kinderärzten, Hebammen, Geburtskliniken usw.) und von Hilfenetzwerken für besonders belastete Gruppen, die das DJI evaluiert hat. Die Evaluation kommt zu dem Ergebnis einer sinnvollen regionalen Vielfalt und der Empfehlung einer regionalen Einbindung von Kinderschutz in die lokalen Jugendhilfestrukturen. (Helmig u. a. 2007, 76f)
4. Es gibt kein Geld für die neuen zusätzlichen Aufgaben der Jugendhilfe; jedenfalls haben die meisten Länder und Kommunen dafür bislang keine zusätzlichen Mittel bereitgestellt. Die derzeitige Konjunktur der Entwicklung von Frühwarnsystemen, Elternbildung, Elternkursen, Elternschulen usw. und die Praxis des Aufbaus von vernetzten Hilfesystemen, sowie die eilige Entwicklung von Diagnosebögen und anderen Erhebungsinstrumenten zur Kindeswohlgefährdung, findet zum Teil ohne finanzielle Absicherung statt.
5. Diese Entwicklung geschieht zum anderen vor dem Hintergrund einer anscheinend steigenden Zahl getöteter, zu Tode gekommener, kleiner Kinder, so dass sich nicht nur die Frage nach der Verantwortung des Staates für das Wohl des Kindes stellt, sondern auch nach den Veränderungen in den Lebenslagen der Adressaten sozialer Arbeit, die möglicherweise zunehmend zu Prozessen der Vergleichgültigung gegenüber Kindern führen.
Diesbezüglich vermisst man in Disziplin und Profession einschlägige Diskussionen um Veränderungen von Kindheit, Jugend, Elternschaft, Lebenslagen usw., also die fachstrategisch- fachpolitische Einbindung von Kinderschutzbemühungen in andere lebensweltbezogene oder auch sozialpolitische Strategien.
Zum Kinderschutz in der modernen Jugendhilfe
Es stellen sich viele Fragen: was bedeuten diese Entwicklungen für das Selbstverständnis und die gesellschaftliche Funktion einer dienstleistungsorientierten Jugendhilfe? - Ist die Neuregelung indifferent gegenüber einer lebensweltorientierten, auf niedrigschwellige Unterstützungsangebote orientierten Umsetzung vs. eines Ausbaus umfassender kontrollierender Vernetzungen, oder gibt sie eine Richtung vor? - Verstärkt die Reform die Täterfixierung und die punitive Ausrichtung des Kinderschutzes?
Seit dem 19. Jahrhundert war Kinderschutz ein hoch ideologisiertes Feld und zeichnete sich einerseits durch stark schichtspezifische Vorurteile und Neigungen und obrigkeitsstaatliche bzw. paternalistische Systemstrukturen aus, in Deutschland war er mit einer moralisierenden und individualisierenden Tradition besonders der familienzentrierten Einzelfallhilfe verbunden. Er stützte sich im wesentlichen auf zwei Instrumente: die Fremdunterbringung des misshandelten oder vernachlässigten Kindes in Erziehungsheimen und die Strafverfolgung der Misshandler (der Täter).
Im Rahmen des Ausbaus der Kinder- und Jugendhilfe nach den 1960er und 1970er Jahren kam es zu wichtigen Neuansätzen. In einer lebensweltorientierten Konzeptualisierung ist Kinderschutz von der Jugendhilfe insgesamt gar nicht zu trennen: In dieser Perspektive ist Kinderschutz kein Spezialproblem heutiger sozialen Arbeit, sondern stellt eine Hauptaufgabe in sozialpolitischer und sozialpädagogischer Hinsicht einer modernen Sozialarbeit dar. Gestaltung von Lebenslagen und Aufbau von sozialer Infrastruktur im sozialen Raum sind wichtige Instrumente. Hier geht es um ausreichende materielle Lebensbedingungen, ausreichende Pflege und Sorge, um Erziehung und Ausbildung, um Lebensperspektiven für die Eltern und damit für die Familien und die Kinder.
Immer gab es auch eine stark medizinisierte und psychologisierte Konzeptualisierung (z. B. Kindesmisshandlung als "Battered Child Syndrome"), mit dem ein Handlungskonzept von Melden, Ermitteln, Registrieren, Behandeln und Bestrafen einherging. Reinhart Wolff hat seinen kritischen Ansatz des "Neuen Kinderschutzes", der "Gewalt gegen Kinder" als Herrschafts-, Beziehungs- und Ressourcenkonflikt betrachtet, vor einigen Jahren im Rahmen eines Qualitätsentwicklungsvorhabens weiterentwickelt. Er sagt: "Moderner Kinderschutz versucht, die Lebensbedingungen von Kindern und Familien positiv zu verändern, indem er die eigenen Kräfte der Familien stärkt, soziale Konflikte und Notlagen erkennt und konkret Hilfe leistet. Eltern werden dabei bei der Erziehung und Förderung ihrer Kinder unterstützt. Kinderschutz ist partnerschaftliche Aktion im Gemeinwesen zur Schaffung einer Kinderfreundlichen Kultur des Aufwachsens. Kinderschutz ist Familienschutz und als solcher Garant des Kindeswohls. Kinderschutz hat eine doppelte Aufgabe: erstens Familien zu unterstützen, Kindern und Eltern zu helfen (Hilfefunktion). 2. für den Fall, dass Eltern nicht in der Lage oder bereit sind, ihr Kind vor einer Gefährdung zu schützen, sichern die Fachkräfte des Kinderschutzes stellvertretend das Wohl der Kinder. Greifen dann - im Konfliktfall aufgrund einer Entscheidung des Vormundschaftsgerichts oder Familiengerichts - ein und treten an die Stelle der Eltern (Nothilfefunktion)" (Reinhart Wolff im "Dormagener Qualitätskatalog der Jugendhilfe").
Dass die Reform wirkt, könnte der Anstieg der Inobhutnahmen (bisher sowohl Inobhutnahme wie Herausnahme) zu belegen: nach einer Meldung des statistischen Bundesamtes vom Juli diesen Jahres ist die Zahl der Inobhutnahmen nach einem klaren Rückgang in den vergangenen fünf Jahren im Jahr 2007 wieder angestiegen. Während es in den Jahren 1997 bis 2001 noch 31.000 pro Jahr gewesen waren, waren die Zahlen von 2004 bis 2006 auf 26.000 abgesunken. 2007 sind sie auf 28.000 gestiegen, dabei waren 435 von den genau 28.192 Herausnahmen, die Kinder sind hier also gegen den Willen der Eltern (genauer Sorgeberechtigten) aus ihrem Lebensort genommen worden (vgl. Statististisches Bundesamt 2008). Das entspricht fast einer Verdreifachung gegenüber dem Vorjahr.
Auch ist vor allem der Anstieg der Inobhutnahmen bei den unter dreijährigen Kindern bemerkenswert, ihre Zahl ist schon 2006 angewachsen und 2007 noch einmal sprunghaft.
Hier war zwischen 1995 und 2001 ein Anstieg um ca. 40% zu verzeichnen; während in den Folgejahren das Fallzahlvolumen vergleichsweise konstant bleibt, steigt die Zahl der Inobhutnahmen von 2005 auf 2006 um über 20% (Statistisches Bundesamt 2008). Je jünger die Kinder sind, desto häufiger folgt der Inobhutnahme die Unterbringung in einem Heim oder einer Pflegefamilie (etwa 40% der unter 6-Jährigen). Entsprechend ist die Zahl der Sorgerechtsentzüge bei Eltern mit Kindern bis zu 3 Jahren am höchsten.
Offen bleibt, was Grund der Entwicklung ist und was wirkt. Das DJI kommentiert: Diese Entwicklung scheint sehr stark auf die erhöhte Aufmerksamkeit nach den in den Medien stark diskutierten gravierenden Fällen von Kindeswohlverletzungen sowie auch auf die Neuregelung durch das KICK zum Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung (§8a SGB VIII) zurückzuführen sein.
Zu den Beiträgen im Einzelnen
Wie oben angerissen, ist moderner Kinderschutz eingebettet in die Geschichte des modernen Wohlfahrtsstaates und selbstverständlich dessen Strukturkonflikten unterworfen. In diesem Heft wollen wir einige kritische Anfragen an die Reform richten.
Joachim Merchel richtet seine Aufmerksamkeit auf den Kontext und die Nebenwirkungen der Debatten über Kinderschutz. Die Institutionalisierung stellt eine symbolische Politik der, mit der kurzfristig Handlungsfähigkeit demonstriert wird, ohne dass die Wirkungen bedacht oder reflektiert sind. Die oberflächliche Plausibilität solcher Prävention bedarf einer aufmerksamen Beobachtung und kritischen Debatte. Er macht vor allem auf drei Ebenen Probleme aus. Zum einen verschiebt die aktuelle Debatte über Kinderschutz die Balance zwischen dem Schutzauftrag und dem Hilfeauftrag der Jugendhilfe in Richtung einer intensiveren Beobachtung und Intervention. Damit sieht er die Gefahren verbunden eines auch politischen Rückschritts gegenüber dem bisher erreichten, nämlich von einer Lebensweltorientierten Ausgestaltung einer Hilfestruktur zurück in die alten Muster der Fürsorgetradition. Ferner geht in der derzeitigen aufgeregten und hektischen Umsetzung der neuen Kinderschutzregelungen das Bewusstsein über Spannungsfelder der Prävention möglicherweise verloren, denn einerseits bleibt Prävention kontingent, und es wird auch die Kontrolle näher an die Menschen gerückt. Das kann er drittens an der neuen Semantik der Frühwarnsysteme zeigen, in denen ein technisches System symbolisch übertragen wird auf soziale Probleme. Faszinierend ist die Perspektive der Handhabbarkeit und des Blicks auf überschaubare Reaktionsketten. Er weist daraufhin, dass der Begriff soziales Frühwarnsystem die unterschiedlichsten Ansätze zusammenfasst und daher diffus wird. In der Perspektive macht er auch darauf aufmerksam, dass insbesondere der Aspekt der Organisationsstruktur (etwa innerhalb des Jugendamtes) und der Zusammenarbeit zwischen Institutionen (etwa zwischen Gesundheitswesen und Jugendhilfe) nur pragmatisch oberflächlich, nicht aber kritisch reflexiv thematisiert wird. Genau diese fachlichen und wissenschaftlichen Aspekte wären aber notwendig, um über die oberflächliche Präventionsrhetorik in der öffentlichen Debatte hinaus zu kommen.
Johannes Münder und Angela Smessaert sehen ebenfalls eine schleichende Verschiebung in der Debatte zu Lasten der Kinder- und Jugendhilfe. Als aktuelle Schwerpunkte identifizieren sie neben dem Kinderschutz den Ausbau der Tagesbetreuung. Die Schwerpunkte der aktuellen rechtsschöpferischen oder Kinderschutz Diskussion, wie etwa die verpflichtende Meldesysteme bei den Gesundheitsuntersuchungen oder den verpflichtenden Hausbesuch durch den ASD oder den Einbezug der Schule neben den freien Trägern der Jugendhilfe laufen auf eine Verstärkung staatlicher Supervision des Aufwachsens von Kindern hinaus. Ein starkes Gewicht legt aber die Gesetzgebung derzeit auf den Ausbau der Kindertagesbetreuung für die unter dreijährigen Kinder, die ab 2013 gesetzlich gesichert werden soll. Nach Meinung der Autoren zeigen nicht nur die aktuellen Gesetzgebungsinitiativen, dass eine Verschiebung der Aufgabenschwerpunkte innerhalb der Jugendhilfe im Gange ist, sondern auch die im Juni 2008 von der Dortmunder Arbeitsstelle für Kinder und Jugendhilfestatistik veröffentlichten Zahlen für die Jahre 2002 bis 2006. Diese machen deutlich, dass in allen Einrichtungen der Jugendhilfe ein Personalabbau im letzten Vierjahres-Zeitraum stattgefunden hat, während der Bereich Kindertagesstätten einen Ausbau (knapp 2%) und zu verzeichnen hat. Absehbar ist zudem, dass der Ausbau für die unter dreijährigen circa 4 Milliarden Investitionen bis 2013 erfordert und ab dann jährlich zirka 2 Milliarden Betriebskosten, dito. Die Autoren interpretieren diese Entwicklung dahingehend, dass sich der Kinderschutz und die Förderung von Kindern als Schwerpunkte der derzeitigen Kinderpolitik herauskristallisieren, und vor allem die Jugendlichen sowie die Kinder in der mittleren Kindheit in den Hintergrund treten. Sie verweisen auf die Kinder- und Jugendarmut und fordern eine stärkere Resilienzförderung. Insgesamt drohe die Offenheit, die Vielfalt, und die Bereitschaft, sich auf die Betroffenen einzulassen in der Jugendhilfe bei der Form der gegenwärtigen Entwicklung verloren zu gehen.
Der Beitrag von Brid Featherstone über Kinderschutz im vereinigten Königreich geht auf dem Kinderschutz im Kontext der Politik des Dritten Weges ein. Ein sozialinvestiver Staat und die Stärkung der elterlichen Verantwortung sind die Säulen dieses politischen Programms. Dabei liegt der Schwerpunkt in der frühen Kindheit (Investitionen hier zahlen sich in niedrigeren Folgekosten, z.B. in der Schule aus) und entsprechend wurden die sozialen Dienste und Programme in diesem Lebensalter verstärkt und ausgebaut. Ein weiterer Schwerpunkt liegt in der Prävention abweichenden Verhaltens bei Kindern ab 10 Jahren, und hier wurde insbesondere die elterliche Verantwortung erweitert. Elterliche Lohnarbeit wird stark gefördert (als Strategie gegen Kinderarmut) und der Beitrag thematisiert genderspezifische Erwerbsmuster, auf die politisch noch nicht hinreichend reagiert wurde (immerhin wurde 1998 ein Recht auf flexible Arbeit für Frauen eingeführt). Generell ist in dem Diskursen um Kindeswohlgefährdung kennzeichnend, dass nur in universalen Kategorien vom Kind gesprochen wird, und vor allem nach Gender und Class kaum differenziert wird.
Im Unterschied zu diesen Diskussionen, die sich durchweg auf das Kindeswohl als rechtlichen und sozialpädagogischen Leitbegriff beziehen, schlagen Heinz Sünker und Moran-Ellis vor, sich gesellschaftstheoretisch und -politisch auf Kinderrechte zu beziehen. Dies wird bildungstheoretisch fundiert. Die Vorstellung, Kinder als gesellschaftliche Akteure Erwachsenen gleich zu betrachten, setzt die Radikalisierung der strukturellen Bedingungen von Kindheit als Möglichkeit zur Erfahrung von Partizipation als Gesellschaftsprinzip voraus - calso die "bedingungslose Ausweitung des Konzeptes von citizenship". Im einzelnen wird dieses Konzept von den beiden Autoren detailliert entfaltet, und mit Fragen nach der Verknüpfung der generationalen Ordnung mit Kinderrechten, Partizipation und Kinderpolitik verbunden. Diese Überlegungen schließen an die neue Perspektive der Kindheitssoziologie - Kinder als soziale Akteure mit eigenen Rechten - an, die theoretisch die Fremdbestimmung von Kindheit und Kinderleben zu beenden sucht. Die Autoren setzen sich ab von Expertokratischen und Familialistischen Vorstellungen und beziehen sich auf die UN Konvention (Kinderrechte), in der sie - trotz berechtigter Kritik - die Verbesserung von Lebensbedingungen und deren praktische Erfahrung als Bedingungen für die Verwirklichung von Partizipation sehen. Die Verbindung der drei (englischen) PS - Protektion, Provision, Partizipation - wird auf die Mischungsverhältnis zwischen Ideologie und realen Problemlagen untersucht und auf die Entwicklung eines Kindheitstheoretisch orientierten Schutzkonzept, das Machtungleichheiten angeht. Hervorgehoben wird der Infrastrukturgedanke vor allem hinsichtlich der sozialisationstheoretisch zentralen Phase der frühen Kindheit.
K. A. Chassé arbeitet die Veränderung der Lebenslagen der unteren Schichten seit den 1990ern heraus. Vor allem für die Handarbeitenden und die un- und angelernten, die im goldenen Zeitalter der Nachkriegszeit in Ost und West sichere Arbeit und damit Integration erreicht hatten, haben sich die ökonomischen Machtverhältnisse verschoben und werden prekäre, niedrig bezahlte Arbeitsplätze prägend und damit die Lebensverhältnisse unsicher. Am Beispiel der Diskussion um Armut, Exklusion, Prekarität und Unterschicht zeigt er die Verdüsterung der unteren Lebenslagen auf. Ein Bezug zum Kinderschutz wird über die Diskussion zur Kinderarmut hergestellt. Auf diese verschiedenen gesellschaftlichen "Baustellen" wird abschließend ein regulationstheoretischer Blick geworfen, der funktionale und hegemoniale Notwendigkeiten nebeneinander stellt. Er ordnet die Reform und die differenten Umsetzungsversuche in einen Rahmen unterschiedlicher und z. T. widersprüchlicher hegemonialer Strategien hinsichtlich der Zielgruppen sozialer Arbeit ein.
Die Redaktion
Literatur
Stadt Dormagen, Amt für Kinder, Familien und Senioren - in Kooperation mit den Kreisdekanaten der AWO, Diakonie und Caritas (Hg.) (2001): Dormagener Qualitätskatalog der Jugendhilfe. Ein Modell kooperativer Qualitätsentwicklung (http://www.dormagen.de/fileadmin/civserv/pdf-dateien/fachbereich_5/erzie...ätskatalog_-_Volltext.pdf)
Statistisches Bundesamt 2008: Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe. Vorläufige Schutzmassnahmen 2007. Wiesbaden.
Statistisches Bundesamt 2008: Pressemitteilung Nr. 254 vom 15. 7. 2008 zu den Vorläufigen Schutzmassnahmen 2007. Wiesbaden (www.destatis.de).
Kindler, H., Lillig, S., Blüml, H., Meysen, T., Werner, A. (Hrsg.) (2006): Handbuch Kindeswohlgefährdung nach § 1666 BGB und Allgemeiner Sozialer Dienst. München.
Elisabeth Helming, Gunda Sandmeir, Alexandra Sann, Michael Walter 2006 (Hrsg.: DJI): Kurzevaluation von Programmen zu Frühen Hilfen für Eltern und Kinder und sozialen Frühwarnsystemen in den Bundesländern. Abschlussbericht. München (www.fruehehilfen.de).