Einfach anders!? Ambivalente Alternativen der Vergesellschaftung
Editorial
Die Frage nach alternativen Vergesellschaftungsformen verweist zuerst auf das Moment von Gesellschaft selbst. Die Art und Weise, wie gesellschaftliche Zusammenhänge seit dem Übergang vom 18. ins 19. Jahrhundert in Europa zunehmend als national- und wohlfahrtsstaatliche manifestiert wurden, verweist auf den Sachverhalt, dass dieser Moment mehr meint als die bloße Summierung einzelne Akteur_innen, der Gesellschaftsmitglieder also. Gesellschaft verweist vielmehr auf den Regulierungs- und Gestaltungszusammenhang, der bestimmte Regelmäßigkeiten aufweist, die vom individuell-psychischen, leiblich-physischen wie vom physisch-dinglichen zu unterscheiden sind. Der Fokus auf alternative Vergesellschaftungsformen wirft zweitens die Frage nach dem "Anderen" auf - eben der Alternative zum bisher bestehenden Muster der Vergesellschaftung.
Gegenwartsanalytische Vergewisserungen sind sich aktuell relativ einig darüber, dass sich die bisherige nationalstaatliche und wohlfahrtsstaatliche Formation seit der Mitte der 1970er Jahre in einem grundlegenden Transformationsprozess befindet. Darauf machen regulations- wie staatstheoretische (vom Fordismus zum Post-Fordismus bzw. vom wohlfahrtsstaatlichen zum post-wohlfahrtsstaatlichen Arrangement), macht- und gouvernementalitätsanalytische (von der Normalisierungs- zur Präventions- und Kontrollgesellschaft) oder post-koloniale Analysen (von nationalen zu post-nationalen Konstellationen) aufmerksam.
Neben diesen sozialtheoretischen Bestimmungsversuchen zur Kategorisierung des Transformationsprozesses rücken in jüngster Zeit zwei weitere Auseinandersetzungen in den Fokus der Aufmerksamkeit:
Erstens ein neues Interesse an der Suche nach Alternativen oder zumindest der Opposition zu den vorherrschenden politischen Positionen. Das symbolisieren für die Jahrtausendwende die Weltsozialforen, die so genannte Anti-Globalisierungsbewegung insgesamt, die internet-basierten sozialen Bewegungen, wie Campact, der Aufbau von digitalen Netzwerken der Peer-Production oder seit 2011 die weltweite Occupy-Bewegung. Für den Bereich der Sozialen Arbeit sind hier vor allem die in den vergangenen Jahren entstandenen Bündnisse auf lokaler Ebene zu nennen. Stellvertretend seien an dieser Stelle für den deutschsprachigen Raum die lokalen Arbeitskreise Kritische Soziale Arbeit (AKS), u.a. in Dresden, Hamburg und Köln, die Linzer und die Soltauer Initiative, das Bremer Bündnis Soziale Arbeit, der Verein Kritische Soziale Arbeit in Wien (Kriso) und das gleichnamige Forum für kritische Soziale Arbeit in Zürich genannt. Neben diesen sozialen Bewegungsformen ist ein deutliches Bemühen um die Entwicklung angemessener konzeptioneller Bestimmungs- und wissenschaftlicher Deutungsmuster in Bezug auf alternative Positionierungen zu beobachten: Die Frage der Gestalt(ung) einer Theorie und Forschung der Kritik bzw. einer kritischen Wissenschaft hat wieder Konjunktur - in der Sozialophilosophie und der politischen Theorie, in den Kulturwissenschaften und der Soziologie, in der Bildungs- und Erziehungssoziologie und inzwischen auch wieder in der Erziehungswissenschaft - und nicht zuletzt in der Sozialen Arbeit. Die Fragen nach alternativen Vergesellschaftungsformen scheinen also wieder auf der Agenda zu stehen.
Zugleich ist mit den Erfahrungen der "Neuen Sozialen Bewegungen" seit den 1960er Jahren im Rücken (u.a. Kinderladenbewegung, Betroffenenbewegung im Feld der Psychiatrie, Frauen- und Schwulen-/Lesbenbewegung) die Auseinandersetzung um alternative Vergesellschaftungsformen ambivalent und auf Basis einer Einsicht in die konstitutive Notwendigkeit von Selbstkritik möglich. Denn im Rückblick zeigt sich, dass die Adaptionsfähigkeiten des neuen Kapitalismus (Boltanski/Chiapello) von den Akteur_innen im Feld der neuen sozialen Bewegungen ebenso unterschätzt wurden wie die konzeptionelle Koalitionsfähigkeit ihrer Freiheitsforderungen mit den neo-liberalen Programmsätzen der Wahlfreiheit von Konsument_innen. Außerdem erweist sich im Rückblick die grundlegende Staats- und Institutionenkritik der neuen sozialen Bewegungen insofern als Dilemma, als sie die Notwendigkeit der Institutionalisierungsbedürftigkeit ihres Engagements häufig unterschätzt, und damit die Etablierung ihrer Initiativen geschwächt haben.
Fragen nach alternativen Vergesellschaftungsformen sind daher nurmehr im Horizont und unter expliziter Berücksichtigung dieser Erfahrungen angemessen möglich. Doch nicht nur dieser Erfahrungshorizont, sondern auch die theorie-systematischen Vergewisserungen um die Geltung von kritischen Analyse(n), wie sie in den vergangenen Jahrzehnten verstärkt diskutiert werden (u.a. Boltanski; Celikates), bilden den unausweichlichen Ausgangspunkt, von dem aus alle kritisch-theoretischen Perspektiven heute entwickelt und diskutiert werden müssen.
Eine alternative Vergesellschaftung sollte demnach (1.) nicht auf Basis einer falschen Vereindeutigung der gegenwärtigen - zum Beispiel der post-nationalen - Entwicklungsdynamiken konzipiert werden, (2.) keine nostalgische Verklärung des Vorhergehenden, also zum Beispiel des wohlfahrtsstaatlichen Vergesellschaftungsmodells vornehmen und (3.) eine Dichotomisierung von Tätern und Opfern vermeiden, sondern stattdessen die Mit-TäterInnenschaft, zum Beispiel der kritischen Wissenschaftler_innen an der Neujustierung des Hochschulsystems ("Bologna") oder der sozialpädagogischen Fachkräfte an der Managerialisierung, Kommerzialisierung und Privatisierung der kommunalen sozialen Dienste selbstkritisch reflektieren.
Einer solchen selbstkritischen Analyse war vor einigen Jahren auch das ursprüngliche, 1983 von der neu gegründeten Redaktion der Widersprüche unter dem Titel "Verteidigen, Kritisieren und Überwinden zugleich! Alternative Sozialpolitik - Gegen Resignation und Wende" verfasste erste gemeinsame sozialpolitische Selbstverständnispapier (vgl. Widersprüche Heft 11 4/84: 121 ff.) zu unterziehen. Denn in der Rückschau stellte sich heraus, dass dieses in seinen Konkretisierungen noch zu sehr Sozialpolitik war und außerdem zu schnell eine Gesamtalternative sein wollte, wie Niko Diemer für die Redaktion in Heft 31 (6/89: 13 ff.) verdeutlichte.
In ihrem ersten Selbstverständnispapier setzte die Reaktion in ihrer weit ausholenden Zielperspektive einer "alternativen Hegemonie" neben der Idee einer "sozialen Garantie" auf eine "Produzentensozialpolitik". Die dabei verwendete männliche Formulierung der "Produzentensozialpolitik" hat nicht nur etwas damit zu tun, dass damals geschlechtsneutrale Sprachkonventionen - bzw. solche, die auch andere Geschlechter semantisch einbeziehen, - noch nicht üblich waren. Vielmehr spiegelt sich in dieser Formulierung auch, dass trotz kritischer Überlegungen zu "Ökonomismus" und "Etatismus" die Redaktion zum damaligen Zeitpunkt noch zu simpel Befreiungswirkungen von Mindesteinkommen unterstellte und dabei zu wenig über mögliche Ausgrenzungsfolgen und möglicherweise verfestigte Geschlechterarbeitsteilungen nachgedacht hat. Eine Vereindeutigung dieser Entwicklungsdynamiken und eine allzu einfache Dichotomisierung von Bestehendem und Alternativem waren auch in der Selbstkritik festzuhalten.
Wie Niko Diemer schon in Heft 31 für die Redaktion (selbst-)kritisch vermerkt, berücksichtigt das erste Selbstverständnispapier auch zu wenig die Aspekte einer "moralischen Ökonomie" der Subjekte sowie die subjektiven Bedeutungen von "gesichert sein", "für sich selbst sorgen" und von "arbeiten". Deshalb hat sich die Redaktion in ihren weiteren Diskussionen zu einer "ProduzentInnensozialpolitik" bzw. "Produzierendensozialpolitik" (vgl. Heft 66/1997 Teil III. "Politik des Sozialen") dann auch auf das bereits aus Gründungszeit des "Sozialistischen Büros" stammende Postulat von Oskar Negt rückbesonnen, "Politik als einen auf Lebensinteressen bezogenen Produktionsprozeß zu begreifen und im überschaubaren Umkreis der eigenen Erfahrung überprüfbar zu machen, worin der Befreiungsgehalt politischen Handelns und demokratischer Selbstorganisation besteht und was demgegenüber Ausdruck modernisierter Herrschaftspraktiken ist" (Negt 1995: 162).
"Politik des Sozialen" wird in dieser Weise von der Redaktion nun als eine zu denken versucht, die sich aus elementaren Situationen zusammensetzt, "in denen in einem Prozess miteinander verknüpfter Subjekt-Objekt-Beziehungen die unterdrückte und im Kapitalverhältnis verdrehte menschliche Sinnlichkeit als ‚ProduzentInnensozialpolitik‘ zu sich selbst kommt" (May 1997: 233). Insofern werden "Politik des Sozialen" und "Produzierendensozialpolitik" als emphatische Kategorien konzipiert. Ja, sie werden von der Redaktion als praktisches Programm begriffen, das die Analyse, welche sich so selbst als Teil jenes gesellschaftlich kollektiven Produktionsprozesses von Erfahrung versteht, der Praxis seiner Verwirklichung entgegenzuführen hat.
Zugleich zielen die Kategorie der "Produzierendensozialpolitik" wie der sie übergreifenden "Politik des Sozialen" jedoch durchaus auf Realität: Eine Realität freilich, die häufig aufgrund der "Zähigkeit des institutionellen Blicks" übersehen wird, welcher - wie Niko Diemer polemisch auch gegenüber dem ersten Selbstverständnispapier der Redaktion vermerkt hat - "den Subjekten Gutes tun will, präventiv und partizipatorisch, versteht sich" (ebd.). So existieren in jenen Subjekt-Objekt-Beziehungen, die vor allem in aktuellen politischen Kampfsituationen als dann bewusste Eigenschaften zu subjektiver Handlungsfähigkeit zusammengefasst werden und sich in dieser Weise als "Produzierendensozialpolitik" zu artikulieren beginnen, Momente, die auf neue Formen der Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung hindeuten. Gegenüber der hegemonialen Konstellation, die die Reproduktion einer je spezifischen historischen Gesellschaftsformation absichert, sind diese allerdings oft kaum wahrnehmbar.
Weitere "objektive Möglichkeit", die "im Unterschied zu bloß subjektiven Wunschvorstellungen <...> gleichzeitig den Umkreis von Mitteln (bezeichnet), die produziert werden und verfügbar sind, um emanzipatorische Ziele zu realisieren" (Negt 1995: 206), lassen sich in den historisch häufig nur zerstreut hergestellten, bzw. mehr oder weniger gewaltsam aufgetrennten und nur als entfremdete wieder zusammengefügten Lebenseigenschaften und Arbeitsvermögen der Subjekte entdecken, die niemals in ihrer Vollständigkeit verwirklicht wurden. Indem wir diese mit unserer Kategorie einer "Produzierendensozialpolitik" zu fokussieren versuchen, möchten wir sie zugleich im Rahmen einer "Politik des Sozialen" katalytisch ihrer Verwirklichung entgegenbringen. Damit behaupten wir eine Realität, die ausgelassen wird, wenn diese Eigenschaften und Vermögen nur unter dem Aspekt ihrer tatsächlichen Funktion in der Geschichte gesehen werden. Zugleich halten wir damit an der Möglichkeit einer anderen, nicht kapitalistischen Akkumulation fest. Und genau dies erfordert, solche Vermögen nicht nur als bloße Mittel zur Selbstentfremdung, sondern in der Perspektive ihrer Verwirklichung und Kooperationsfähigkeit in den Blick zu nehmen. Denn gerade die gegen das Verwertungsinteresse stehenden Anteile sind es, die auf der Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung den Beginn der Herausbildung dessen markieren, was wir als "Produzierendensozialpolitik" bezeichnen.
So sehr eine "Politik des Sozialen" solche konkreten Formen von "Produzierendensozialpolitik" auch anvisiert, kann sie diese jedoch nicht aus ihrer abstrakten Gesamtheit heraus erzeugen - auch nicht über noch so gewitzte Strategien von "Empowerment". Und ebenso wenig kann sie sich vorweg über die noch nicht entfalteten, durchaus unterschiedlich akzentuierten Sozialpolitiken der Produzierenden stellen (wenn es nicht ein solches Wortungeheuer wäre, müsste eigentlich präzise immer im Plural von "Produzierendensozialpolitiken" geredet werden).
Schon in der Gründungszeit des Sozialistischen Büros hatte Oskar Negt im Hinblick auf eine Wiederherstellung der Glaubwürdigkeit der sozialistischen Utopie als Leitmotiv des Kampfes für eine gerechtere Einrichtung der Gesellschaft gefordert, darin müsse die "Sorge und Aufmerksamkeit für die wirklichen Lebensverhältnisse <...> eine ebenso große Bedeutung wie die Einschätzung von Klassenverhältnissen und geschichtlichen Konstellationen" (1995: 213) haben. Deshalb hat eine "Politik des Sozialen", die gerade weil sie sich der sozialistischen Utopie verpflichtet weiß, zum Ferment einer - wie die Redaktion es in ihrem Utopieheft von 2001 formulierte - "Polyphonie" von "Sozialpolitiken der Produzierenden" werden will, keine andere Chance, als in den konkreten Arbeits-, Lebens- und politischen Ausdrucksvermögen der Produzierenden solche "objektive Möglichkeiten" auszumachen. Immerhin lassen sich diese, weil es sich dabei um geschichtliche Produkte handelt, auch präziser bestimmen als die Einschätzung aktueller Klassenverhältnisse angesichts turbulent sich verändernder Akkumulations- und Regulationsweisen.
In dieser Weise haben wir vor gut 10 Jahren im Heft 80 der Widersprüche zum Thema "Wir können auch anders - Soziale Utopie heute" Möglichkeiten einer utopiekritischen Utopie auszuloten versucht. Diese sollten sich nicht nur durch einen Realismus bezüglich der von ihr als faktische Zukunft antizipierten Lösungsvorschläge für ganz bestimmte ungelöste Probleme unserer gegenwärtigen Gesellschaftsformation auszeichnen. Vielmehr suchten wir im Anschluss an Richard Saage nach Formen reflexiver Utopie, in der "die individuelle Vernunft der Einzelnen ihr notwendiges Korrektiv in der kollektiven Vernunft einer solidarischen Gesellschaft und ihrer Institutionen hat und umgekehrt" (Saage 1990: 24).
In diesem Zusammenhang haben wir dann auch das in der Redaktion diskutierte Projekt einer "Politik des Sozialen" "nicht von den hegemonialen Gebirgen der Kapitalakkumulation ausgehend, auch nicht von den Bastionen und Kasematten des Staates oder von den Zitadellen der Zivilen Gesellschaft, sondern von alltagsweltlichen Zyklen und Praxen tagträumerisch handelnder Menschen" als "transversale Optionen" weiter zu denken versucht.
So lassen sich im Alltagsleben vieler Bevölkerungsgruppen Formen solidarischer Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung entdecken, die quer zu hegemonialen Formierungen stehen. Diese müssen nicht zwangsläufig die Gestalt spektakulärer Projekte annehmen, die sich dezidiert als Interventionen in die bestehende Politik präsentieren und auch als solche wahrgenommen werden. Derartige Praktiken sind aber als politische zu verstehen - insofern sie sich immer schon auf die Frage der Gestaltung sozialer Zusammenhänge beziehen. Das nun von der Redaktion vorgelegte Heft versucht erste Markierungen für eine Landkarte solcher Ansätze zu identifizieren und diskutiert die in deren Praxis auftretenden Widersprüche und Spannungsverhältnisse.
Zu den Beiträgen im Einzelnen
Eingeleitet wird der Schwerpunkt durch den Beitrag "Die zentrale Bedeutung von Erwerbarbeit als Hindernis für alternative Formen der Vergemeinschaftung" von Kathrin Englert, Natalie Grimm und Ariadne Sondermann. In diesem umreißen sie aufgrund eigener empirischer Befunde den durch den Zwang und die damit verbundene Orientierung auf Erwerbsarbeit selbst für prekär Beschäftigte und Erwerbslose eng gesteckten Rahmen, um als Alternative zur hegemonialen Vergesellschaftung über Erwerbsarbeit solidarische Formen der Vergemeinschaftung zu entwickeln.
Andere Produktionsweisen werden in der E-Mail-Diskussion "Widersprüche und Spannungsfelder in der Praxis aktueller Commons-Netzwerke - am Beispiel Freier Software" fokussiert, die die Widersprüche Redaktion mit Annette Schlemm und Christian Siefkes geführt hat. In dieser geht es nicht nur um die Abwehrkämpfen gegen die Privatisierung von natürlichen Ressourcen durch den Kapitalismus und den Aspekt der kollektiven (Selbst-)Organisierung des Umgangs mit den Ressourcen, Mitteln und Gütern, wie sie in der Commons-Debatte zum Thema werden. Vielmehr wird auch der Zusammenhang zur Peer-Produktion ausgelotet, welche eine Produktion unter sozial herrschaftsfreien Bedingungen zu verwirklichen sucht.
Einem weiteren existentiellen Thema menschlicher Reproduktion widmet sich im Anschluss Silvia Beck in ihrem Beitrag "gemeinschaftliches Wohnen". Dieses zu fördern, scheint ein verschiedenste politische Lager übergreifendes Ziel zu sein. Die Autorin analysiert vor diesem Hintergrund die Vielfältigkeit der Formen gemeinschaftlichen Wohnens in einem Spannungsfeld "zwischen gelebter Sozialutopie, pragmatischer alltäglicher Lebensführung und instrumentalisierter Vergemeinschaftung" und weist zudem abschließend auf Handlungschancen und -notwendigkeiten für die Soziale Arbeit hin.
Sehr viel kontroverser werden hingegen Formen der Selbsthilfe und Selbstorganisation von Zugewanderten diskutiert: und dies nicht nur in der politischen Öffentlichkeit, sondern auch in der Migrationsforschung und im wissenschaftlichen Diskurs um Integration. Vor diesem Hintergrund unterzieht Nausikaa Schirilla nicht nur die dabei jeweils angelegten Kategorien einer ideologiekritischen Analyse. Zugleich nimmt sie die bisher nicht allzu breit gestreuten empirischen Befunde über die Vielfalt migrantischer Organisationsformen unter der Frage der Herausbildung eigener Vergesellschaftungsformen in den Blick. In diesem Zusammenhang problematisiert sie die auf Ferdinand Tönnies zurückgehende Dichotomie "Gemeinschaft versus Gesellschaft" als eine Denkfigur, "die zur Abwertung des Denkens der Länder des Südens beigetragen" hat, und plädiert dafür, statt "eigenständige migrantische Formen der Vergesellschaftung zu ‚entdecken‘, <...> die Vielfalt von Vergesellschaftungsformen anzuerkennen - und zwar gezielt als Vergesellschaftungs- und nicht als Vergemeinschaftungsformen".
An diese begriffliche Debatte schließt Michael May mit seinem den Schwerpunkt abschließenden Beitrag nahtlos an. Er bezieht sich darin auf die gerade nicht dichotomisch angelegte Begriffsfüllung von Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung, wie sie von Max Weber vorgeschlagen wurde, und zeigt deren Vorteile gegenüber der ähnlich wie bei Tönnies antagonistisch gefassten idealtypischen Unterscheidung zwischen System- und Sozialintegration bzw. zwischen System und Lebenswelt. Vor dem Hintergrund von Henri Lefebvres Methodologie der "Alltagskritik" und der britischen Theorie der Reproduktionskodes untersucht May "Formen solidarischer Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung von Jugendlichen aus der Provinz" und verdeutlicht an ausgewählten Beispielen deren Vielfalt.
Auch der sozialphilosophische Forumsartikel, "Motive der Vergemeinschaftung" von Joachim Weber, nimmt diesen Diskussionsfaden auf, indem er die Bedeutung der von Tocqueville im Anschluss an seine Analyse unterschiedlicher Vergemeinschaftungsmotive von Europäern und Amerikanern anschließenden Begriffe von "aufgeklärter Selbstliebe" bzw. "wohlverstandenem Eigennutz" in ihrer Bedeutung für die heutige Soziale Arbeit auslotet.
Die Redaktion