Formen solidarischer Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung von Jugendlichen aus der Provinz

Abstract

Christian Reutlinger (vgl. 2003: Kap. 2) hat die These vertreten, dass der Sinn des Aneignungshandelns von Jugendlichen sich heute nicht mehr im Kampf um Raum artikuliere, sondern in der Lebensbewältigung und dem Erhalt der eigenen Handlungsfähigkeit. Hintergrund ist seine von Lothar Böhnisch entlehnte These, dass eine gesellschaftliche Integration Jugendlicher im ökonomischen Sinne im heutigen digitalen Kapitalismus nicht mehr nötig sei. Dies ist eine starke These, kommt doch auch ein digitaler Kapitalismus - was immer Böhnisch und Reutlinger darunter verstehen mögen - nicht ohne Arbeitskräfte aus. Damit sollen die Schwierigkeiten der Heranwachsenden, einen Einstieg in den kapitalistisch organisierten Lohnarbeitsbereich und die drohende dauerhafte Ausgrenzung eines bestimmten Teiles aus diesem keineswegs heruntergespielt werden. Eigentlich könnte diese Art der Überflüssigkeit eines Teiles der Jugendlichen auch Chancen eröffnen, Formen solidarischer Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung zu entwickeln, die quer zu hegemonialen Formierungen stehen. Reutlinger hingegen sieht bezüglich der Auseinandersetzung entsprechender Jugendlicher mit der umgebenden Gesellschaft einen Bedeutungsverlust ihres Aneignungshandelns einhergehen, das somit gesellschaftlich wie institutionell unsichtbar werde. Dieses Theorem wurde auch auf Jugendliche in der Provinz bezogen (vgl. Weidmann 2008). Dass - wie Weidmann an drei Fallstudien zeigt - die Jugendhilfe vielfach blind ist, sowohl für die Lebensbewältigung, wie auch für die Raumaneignungsansätze und Sozialraumkonstitution von Jugendlichen, war ein wesentlicher Anstoß für jene Lebenswelterkundungsprojekte, die im Rahmen eines Projektes partizipativer Bedarfsentwicklung in der Jugendhilfeplanung des Rheingau-Taunus-Kreises mit verschiedensten Cliquen, Gruppen und Netzwerken von Jugendlichen durchgeführt wurden (vgl. May 2011). Entgegen Reutlingers These (vgl. 2003: 63f.), dass physischen Raum zu erkämpfen (ebd.), nicht mehr unter den heutigen gesellschaftlichen [...] Bedingungen dazu beitrage, dass die Jugendlichen einen sozial- und systemintegrativen Raum in der Gesellschaft bekommen (ebd.; zur Kritik in Bezug auf die Frage von Jugendräumen vgl. May 2010: Kap. 2), haben in diesen Projekten die Jugendlichen massive Ansprüche im Hinblick auf die Nutzung öffentlicher Orte artikuliert. Allerdings war Sozial- und Systemintegration auch gar nicht Ziel besagter Lebenswelterkundungsprojekte. Vielmehr sollten die Jugendlichen darüber in der Organisation ihrer Erfahrung und der Herstellung von Öffentlichkeit für ihre Probleme und Interessen unterstützt werden. Ausgewählte Ergebnisse dieser Lebenswelterkundungen sollen in diesem Beitrag herangezogen werden, um in exemplarischer Weise unterschiedliche Formen solidarischer Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung von Jugendlichen in der Provinz zu analysieren. Dazu ist jedoch zunächst der theoretische Rahmen dieser Analyse zumindest grob zu skizzieren.