Digital Society - Binäre Codierung von Arbeit und Alltag

Editorial

Wann wenn nicht jetzt muss man über die Digitalisierung von Gesellschaft(en) reden. Wie unter einem soziologischen Brennglas offenbart die Sars2-Cov19-Pandemie die Abhängigkeit vom Internet, dessen basalen Vorteile sowie nachhaltigen Nachteile. Nicht nur alle Menschen sind weltweit betroffen, und das - wie nicht anders zu erwarten - sortiert nach arm und reich, sondern auch alle Sphären der Gesellschaft sind in die digitale Produktion von Weltgesell-schaft involviert. Die Privatsphäre ist davon gleichermaßen betroffen wie die (bürgerliche) Öffentlichkeit und die nachindustrielle(n) Arbeitsgesellschaft(en). Die 'invisibel hand' der globalen Fabrik etabliert eine neue Stufe kapitalistischer Produktionsweise, die einerseits die klassische Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit aufhebt, andererseits die Subjektivität von Individuen als das zentrale Produktionsmittel zur Voraussetzung hat. Nicht nur der Aufstieg resp. quantitative Anstieg immaterieller Arbeit und die Delegierung von Handarbeit an kooperative Roboter (Cobots) repräsentieren die neue Epoche warenproduzierender Gesellschaften, vielmehr sind die weltumspannenden Agenturen der Tech-Konzerne, deren techno-bürokratischen Systeme wirkungsvolle Repräsentanten der Digital Society. Ökonomische Macht und technokratische Herrschaft spiegeln sich im digitalen Zugriff auf die anachronistischen Formen von Produktion sowie Reproduktion mit Konsequenzen für Freiheit, soziale Teilhabe und ein selbstbestimmtes Leben.

Das Produktionsmittel Internet ist ein multifunktionales Tool, zur Steuerung der Güterproduktion (Industrie 4.0), der Sozialsysteme, juristischer und sozialpädagogischer Dienstleistung, des Gesundheitssystems sowie der (hoch-)schulischen Vermittlung von funktionalem Wissen. Die Kontrolle über das wirkliche Leben wird den Subjekten entzogen resp. an technische Artefakte delegiert mit dem Resultat, dass Entfremdung sich in neuen Formen äußert. Die Zerstörung individueller Erfahrung mittels technischer Artefakte produziert eine Diskontinuität des Bewusstseins, die die Jetztzeit zum Maßstab des Handels sowie das Vergangene als abgelegt, der Informationstechnologie und dessen Archiven überlassen, erklärt. Dieser subtile Trennungs- und Enteignungsprozess kennt keine Agenten, keine anmaßenden, autoritären Institutionen nur involvierte Subjekte in Interaktion mit dem wirklichen Leben.

Es war Edward Snowden der 2014 in Citizen Four zu Protokoll gab, dass "der Analyst alle Dokumente aus Deinem Leben durchsuchen kann", die Sicherheit mithin relativ ist. Seither hat die Digitalisierung ein fassbares Gesicht erhalten und es sprechen viele bzw. "zehn Gründe dafür, warum Du Deine Social Media Accounts sofort löschen musst", wie Jaron Lanier (2019) proklamiert. Die Corona-App ist fraglos ein technischer Erfolg mit vergleichsweise geringem Nutzen, aber ohne leistungsfähiges Netz ein gesundheitspolitischer Papier-Tiger. Der neue Mobilfunkstandard der fünften Generation (5G), der in Echtzeit arbeiten sowie alle relevanten Geschäftsfelder zukünftig revolutionieren wird, liegt heute noch an der kurzen Leine. Roboter, ausgestattet mit Künstlicher Intelligenz (KI) stehen in den Startlöchern, warten auf das Kommando, die Menschheit vom 'Alltag' und dessen Malaise zu befreien.

Aber nein, all diese zukunftsweisenden Szenarien des Internet of Things (IOT), die eine neue Welt und ein besseres Leben in einer Digital Society versprechen, sie all besitzen einen materiellen Kern - sind evidente Realitäten. Im Aufstieg von Amazon und dem Niedergang von Karstadt spiegelt sich eine neue Epoche, angetrieben einerseits von einer fertigungstechnischen Revolution sowie einer bürokratisch-digitalen, via Algorithmen gelenkten Transformation, andererseits durch die Expansion immaterieller Arbeit und exklusivem Konsumbewusstsein. Sowohl die Kontrolle über und das Einsammeln von Daten wird zum Geschäftsmodell der Digital Society als auch die Einbindung der Individuen via digitaler Selbstbeteiligung.

Die Demokratisierung von Unsicherheit und Panik, von Utopie und Glücksversprechen führt die Menschheit in eine neue Epoche, die alle - ob gewollt oder ungewollt - an einen Tisch bringt. Die Zeitenwende hat begonnen, alle Sphären des Alltagslebens erfasst. Mit der Etablierung von 5G, der Digitalisierung der Biografie (Gesundheitsakte) kann die Beschleunigung des wirklichen Lebens (weiter) erhöht, die gesellschaftliche Produktivität in individuelle Atemlosigkeit einmünden - ganz nach Alexander Kluge i.S. des 'Angriffs der Gegenwart auf die übrige Zeit'. Durch die Aufhebung der Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit geht der Aufstieg von Phänotypen wie Entrepreneur und Consult, von Crowd-worker*innen und 'Pixeltänzer', gepaart mit neuer Subjektivität, einher. Softwareprodukte wie Cookies, Tracker, Apps, TV-Mediatheken, Trojaner-Software etc. etc. sind nicht nur symbolische Insignien der neuen Zeit, sie sind von Menschen produzierte Waren zur Konsumption durch Menschen - mithin Waren an sich als auch Waren für sich. Der Aufruf zur digitalen Selbstverteidigung ist ebenso wenig ein Scherz wie das Bedürfnis nach individueller Sicherheit, befriedigt von den Märkten der Sicherheitsindustrie und dem Konsum der User*innen.

Alle uns bekannten Institutionen stehen in der Digital Society zur Disposition - und somit deren Autorität (Glaubwürdigkeit), Legitimität, sowie Funktionalität. Es gibt keine Ausnahmen mehr! Unternehmen und Gerichte, Verwaltungen und Banken, Schulen und Hochschulen, 'freie' und 'unfreie' Berufe, Gesundheitsexperten*innen, Anwaltskanzleien, Architektur- und Steuerbüros, Schiffsmakler und Airlines usf. - sind von der Transformation betroffen. Qualität und Quantität von Interaktion sind in der Epoche der globalen Fabrik neuen Dimensionen ausgesetzt. Menschliche Erfahrung im Umgang mit Zeit und Raum stößt an Grenzen. Die neue Form der Interaktion berührt sowohl die gesellschaftliche Produktion von Waren und personenbezogene Dienstleistung als auch die Produktion von Subjektivität. Schulen und Hochschulen organisieren sich rund um Tablets und Cloud neu - diskutieren die 'Theorie der Halbbildung' in Absprache mit Alexa oder Siri. Kliniken müssen Stabsabteilungen beschäftigen zum Zweck der Abwehr von Hackerangriffen durch Daten-Piraten oder Geschäftsfelder coronakonform der digitalen Kommunikation anpassen.

Gleichwohl, die vielsagende Freiheit des IOT - in der Bundesrepublik unter dem Label 'Industrie 4.0’ vermarktet - eröffnet Gesellschaft und Individuen u.a. im Home Office neue Spielräume. Die Chance eine Weltgesellschaft i.S. eines 'Gesamtarbeiters' (Marx) zu etablieren erscheint realistisch. User*innen auf allen Erdteilen laden auf Youtube, Tiktok und Spotify dieselben Videos hoch, nehmen Teil an den Demonstrationen der Gelbwesten in Frankreich, den Forderungen der Bürgerrechts-Aktivisten*innen in Honkong, an den Aktivtäten des italienischen Sardinen-Movimento oder an der Friday-for-Future-Bewegung. Die Menschheit rückt im Word Wide Web näher zusammen - mit und ohne Covid19. Solidarität und Teilhabe erlangen eine andere, emotionale und rationale Qualität, die kulturelle sowie sprachliche Barrieren relativiert resp. diese in einen neuen Vergesellschaftungsmodus versetzt. Geo-Politik erlangt den Charakter von Welt-Innenpolitik und die industrielle Güterproduktion folgt einheitlichen technischen Standards - unabhängig davon, ob KUKA-Roboter in Sindelfingen (BRD) oder in Wuhan (China) Daten verarbeiten.

Materielle und immaterielle Arbeit nähern sich weltweit an, mit Rückwirkungen auf Ideen von Freizeit, Konsum, Kindererziehung, Health Care, Bildungskarrieren etc. Wir sitzen zwar (demnächst) in einem Boot, das Embarking erfolgt allerdings im Nord-Süd-Vergleich auf unterschiedlichen Wasserständen sowie asymmetrisch verteilten Ressourcen! Und doch: Pandemie und Klimakrise offenbaren und befördert ein gemeinsames Bewusstsein für die Krisenmodi der (Welt-)Gesellschaft bzw. der digitalen Maschinerie.

Der hier aufgespannte resp. begonnene Diskurs über die Digital Society (oder globale Fabrik), geprägt von Datenakkumulation, KI (Quantencomputern) sowie experimentellen Start-ups lässt nicht nur objektive Widersprüche erkennen, die sich in der 'Lebens- und Arbeitswelt', im öffentlichen Leben wie in der Privatsphäre manifestieren, er wirft auch die Frage nach der Konstitution von Subjektivität in einer durchdigitalisierten Welt auf. Deshalb sind in analytischer (und theoretischer) Absicht drei Ebenen zu studieren, die den Zusammenhang von Produktion und Reproduktion 'moderner' Gemeinwesen zum Gegenstand erklären. Wie Freude nicht von Trauer, ist Technik und dessen Transformation nicht von Gesellschaft zu trennen. Auf diesem Hintergrund sollten drei Fragestellungen den Horizont der Digitalen Society öffnen, die Akquise von einschlägigen Manuskripten erleichtern und die versammelten Beiträge der Autorinnen und Autoren thematisch sortieren.

  • Welche Form(en) der Vergesellschaftung verbergen sich hinter der Digitalisierung von (Lohn-)Arbeit und Alltag bzw. Privatleben?
  • Welche (strategischen) Optionen eröffnen sich der Politik des Sozialen im Feld personenbezogener Dienstleistung hinsichtlich der digitalen Steuerung von Verwaltungsabläufen?
  • Ist die Profession Soziale Arbeit noch à jour? Wenn ja, welche digitalen Kompetenzen sind in Erwartung der angebrochenen Zukunft gefragt?

Im Zentrum des Heftes steht mithin die Digitalisierung der Reproduktionssphäre, in der Bundesrepublik und dessen Politik der Etablierung einer Digitalen Society in den Feldern der Sozialen Arbeit, der Industriellen Beziehungen sowie der Kinder- und Jugendhilfe.

Zu den Beiträgen im Einzelnen

Friedhelm Schütte diskutiert in drei Akten den Zerfall bürgerlicher Öffentlichkeit sowie neue Formen sozialer Interaktion. Ein Prolog, der die digitale Maschinerie zum Ausgangspunkt sowohl einer neuen Stufe kapitalistischer Produktionsweise als auch von Vergesellschaftung erklärt, leitet den Beitrag ein. Im Epilog wird auf die Krise der Wissenschaft in Krisenzeiten eingegangen, mithin auf die Ratlosigkeit, die mit der Produktion von Weltgesellschaft einhergeht. Im Mittelpunkt steht der Wandel warenproduzierender Gesellschaften via Datenökonomie und Informationstechnologie sowie die Aufhebung der klassischen Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit. Die zentrale These der Erosion bürgerlicher Öffentlichkeit materialisiert sich in eben dieser Grenzverschiebung auf der Basis digitaler Produktionsmittel sowie der Expansion immaterieller Arbeit. Ein Blick in den Maschinenraum der globalen Fabrik offenbart nicht nur die Verwerfungen von Digitalisierung und neue Formen weltweiter Arbeitsteilung, sondern auch das Verständnis von Freiheit und die Involviertheit der Subjekte in den globalen Transformationsprozess. Ein Leben in Unsicherheit, der Kontrollverlust über das wirkliche Leben und der Wert des Privaten sind deshalb Thema. Die verdichtete Verdinglichung wird im dritten Akt 'inszeniert'. Was, so die Frage, kann man dem 'universale(n) Verblendungszusammenhang' (Adorno) entgegenstellen?

Peter Schadt argumentiert in seinem Artikel "Die Digitalisierung als Scheinsubjekt", dass der Einsatz digitaler Technologien nicht davon zu trennen ist, zu welchen Zwecken sie eingesetzt werden. Insbesondere im Hinblick auf die theoretische Folie der Industrie 4.0 als "sozio-technisches System" wird gezeigt, dass "die Digitalisierung" hier ein Eigenleben zu haben scheint, in Wirklichkeit aber nur zur Anwendung kommt um Betriebsabläufe zu rationalisieren und das Kapitalwachstum zu steigern. Es ist demnach keine offene Frage, sondern eine Sache organisierter sowie gewerkschaftlicher Gegenwehr bzw. eine Frage der Gestaltung Industrieller Beziehungen und welche Auswirkungen diese auf die Lohnarbeitenden im Arbeitsalltag haben.

Ausgehend von der "Labour-Process-Debate" der 1970er Jahre und den grundlegenden Charakteristika Sozialer Arbeit als Dienstleitung, diskutiert der Artikel von Christof Beckmann die Gefahren einer Taylorisierung und De-Professionalisierung der Sozialen Arbeit. Die Inkorporation sozialpädagogischer Wissensbestände in Programme der Planung, Dokumentation und Steuerung der professionellen Handlungsvollzüge haben das Potential professionelle Organisationskulturen zu kolonialisieren und so einer managementorientierten Kontrolle zugänglich zu machen.

Der Artikel von Phillip Gillingham und Timo Ackermann thematisiert die Einführung von datenbasierten, elektronischen Entscheidungsunterstützungssystemen in der internationalen Kinder- und Jugendhilfelandschaft. Sie weisen auf gravierende konzeptionelle Probleme dieser Systeme hin, die dazu führen, dass sie weder zuverlässig Vorhersagen treffen, noch ethisch vertretbar sind. Vor diesem Hintergrund stellen sie die Frage, ob die zu erwartenden Kosten für die Entwicklung von entsprechenden Programmen für die deutsche Kinder- und Jugendhilfe nicht sinnvoller in eine weitere Professionalisierung der dort tätigen Fachkräfte und Organisationen investiert werden sollte.

Der Artikel von Matthias Stein schließt an die beiden vorangegangenen Artikel insofern an, als dass er die tiefgehende bürokratische Steuerung von Handlungsvollzügen auf der operativen Ebene in den Hamburger "ASDs" bespricht. Das dort verwendete Programm Jus-IT gewinnt dxabei für die beschäftigten Fachkräfte eine scheinbare Eigendynamik, okkupiert das Fallgeschehen und führt letztlich dazu, dass eine partizipative, auf Aushandlung und Respekt beruhende, koproduktive Erbringung sozialpädagogischer Leistungen erschwert wird.

Der Beitrag von Birgit Herz stützt sich auf zehn zugängliche Studien aus dem Feld von Sonder-, Sozial- und Inklusionspädagogik. Mit dieser Auswahl, die sich als erste 'orientierende Sichtung' begreift und die Abwesenheit der bundesrepublikanischen Erziehungswissenschaft in diesem Feld konstatiert, organisiert die Autorin einen Überblick über die 'globale Entwicklung' einerseits und die 'Transformation der Bildungs- und Erziehungssysteme' andererseits. Der Exkurs zur Digitalisierung auf der Basis 'digitaler Bildungs- und Erziehungssoftware' eröffnet einen Einblick in neue, innovative Profile ehemaliger Pädagogikdomainen'. Die Digitalisierung von Spracherziehung, 'Lernstrategiesensorik', 'Empathieintervention' und 'Biosignal'-Technologie geraten somit in den analytischen Horizont des Beitrags. Die im Titel angesprochene Profession und deren theoretisches Arsenal, so der zentrale Befund, wirken vor diesem Hintergrund unterkomplex und schlicht 'antiquiert'. Der Ausblick auf zukünftige Inklusionspädagogik fällt mit dem Hinweis auf 'dramatische ethische Implikationen' nicht nur nüchtern aus, er konstatiert ferner ein zeitliches Dilemma.

Die Redaktion