Die Einschluss-Gesellschaft?
Editorial
Karl Marx vermerkt bereits 1859 in Bezug auf seine Beobachtung, dass der Weltmarkt sich ausdehne, die Anzahl der Pauper in Großbritannien aber konstant bleibe: "Es muss doch etwas faul sein im Innersten eines Gesellschaftssystems, das seinen Reichtum vermehrt, ohne sein Elend zu verringern" (Marx: 1859/1971). Da sich seitdem nichts an dieser Einsicht geändert hat, bedarf es auch immer wieder neu des Nachdenkens über eben jene inneren Zusammenhänge von Herrschaft und Profitvermehrung, von Ohnmacht und Sozialer Ausschließung. Letzteres, so die Herausgeber des Handbuchs Soziale Ausschließung und Soziale Arbeit aus dem Jahr 2021 (Anhorn u.a.: 2021) müsse immer noch und mehr denn je zu einem zentralen Thema für Theorie und Praxis auch und vor allem der Sozialen Arbeit werden. Dies gelte umso mehr, denn die vorherrschende Fokussierung auf "soziale Probleme", aber auch eine unkritische Bezugnahme auf den Begriff der "Überflüssigen", in einer ordnungstheoretischen Perspektive auf Gesellschaft verhaftet bleiben könne. Dies verleite letztlich dazu, von Macht- und Herrschaftsverhältnissen abzulenken, auch von jenen, in die die Soziale Arbeit mitunter selbst verstrickt sei, um so auch die Ursache für den Ausschluss am Ende doch wieder in Merkmalen der Ausgeschlossenen selbst zu diagnostizieren.
Sowohl der kurze Blick auf bundesweit zu belegende Module in Studiengängen der Sozialen Arbeit als auch auf einschlägige Veröffentlichungen, machen deutlich, dass auch über 50 Jahre nach Erscheinen des Buchs von Jules Klanfer: Die soziale Ausschließung - Armut in reichen Ländern, das gemeinhin als Startpunkt dieser Debatte gilt, das Interesse an der Beschäftigung sowohl mit Sozialen Problemen als auch individuenzentrierten Diagnosen eher zu-, denn abgenommen hat. So finden sich in einer Google-Suche zu: "Soziale Arbeit", Studium, "Soziale Probleme" über 33.000 und zu "Soziale Arbeit", Studium, "Soziale Ausschließung" lediglich knapp über 2.500 Ergebnisse. Dem entspricht auch die Entwicklung in den Veröffentlichungen: Verzeichnet die deutsche Nationalbibliothek allein in diesen 15 Jahren unter dem Stichwort "Soziale Probleme" über 500 Treffer, so sind es zu den Stichworten "Sozialer Ausschluss / Soziale Ausschließung" zusammengenommen lediglich ganze 60.
Zeitgleich nehmen die aktiv vorangetriebenen Spaltungs- und Ausschlusstendenzen, auf die mittels dieses Themas aufmerksam gemacht werden können, bundesweit und auch im globalen Maßstab dramatisch zu. So sagt beispielsweise die Co-Direktorin des "Centre for Development and Environment (CDE)" der Universität Bern, Sabin Bieri: "Schaut man die Dringlichkeit und Dynamik der Probleme an - der rasende Verlust der Artenvielfalt etwa, die ungerechte Verteilung des Reichtums oder die neuerdings wieder zunehmende Unterernährung -, muss man sagen: Wir sind daran, die Welt mit vollem Tempo an die Wand zu fahren" (Bieri: 2021).
Ganz offensichtlich bildet die herrschende Debatte, zumindest quantitativ, die tatsächlichen Ereignisse und konkreten Erfahrungen anhaltend zahlreicher werdender Menschen immer weniger angemessen ab. Auch die Organisation Oxfam macht jedes Jahr aufs Neue darauf aufmerksam, dass die Weltreichtumsverteilung fortwährend auseinanderfällt. Weniger als 50 Menschen allein besitzen inzwischen so viel Vermögen und damit verbundene Machtmittel, wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung zusammen. Parallel dazu befinden sich immer mehr Menschen auf der Flucht vor Armut, Hunger, Krieg und Vertreibung, in der Hoffnung woanders, mitunter auch im globalen Norden, ein neues sicheres und auskömmliches Leben führen zu können. Die UNO Flüchtlingshilfe verzeichnet für die Zeit von 2010 bis 2020 eine Verdoppelung der Anzahl der Flüchtlinge auf über 80 Millionen Menschen. Dagegen stellt sich die Europäische Union mit der Macht ihrer Grenzschutzbehörde Frontex und ihrem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Der im Völkerrecht verankerte Grundsatz der Nichtzurückweisung von Personen in Staaten, in denen ihnen Menschenrechtsverletzungen drohen, wurde mit dem neuen Urteil vom Februar 2020 massiv in Frage gestellt. Zwei Menschen aus Mali und der Elfenbeinküste hatten wiederholt dagegen geklagt von den spanischen Behörden nach Überklettern des Zauns in Melilla ohne jedes Verfahren wieder abgeschoben worden zu sein. Die große Kammer des EuGm wies die Klage letztinstanzlich mit einer auch der Sozialen Arbeit dem Prinzip nach bekannten individualisierenden Begründung zurück: Die beiden Männer hätten sich selbst in die rechtswidrige Situation gebracht, als sie mit vielen anderen Menschen auf den Zaun geklettert seien. Sie seien damit bewusst nicht über einen legalen Weg eingereist. Spanien könne deshalb nicht dafür verantwortlich gemacht werden, dass es für sie kein Verfahren oder Rechtsschutz in Melilla gab. Vor diesem Hintergrund kann es nicht verwundern, wenn der Chef der Europäischen Grenzschutzbehörde Frontex, Fabrice Leggeri, im Anschluss argumentiert, es sei seines Erachtens rechtens Flüchtlinge auf hoher See wieder zurückzuschicken - schließlich hätten auch diese zuvor ihre Rechtsmittel bewusst nicht ausgeschöpft.
Dieses Heft versucht vor diesem Hintergrund einen bescheidenen Beitrag für eine Aktualisierung des Nachdenkens über Soziale Ausschließung und dessen Bedeutung für Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit zu leisten. Auf drei Ebenen: Zuerst müssen konkrete Ohnmachterfahrungen konkreter Menschen in den Blick rücken, ihre jeweiligen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten. Von solchen Erfahrungen her kann über die Angemessenheit entsprechend abstrahierender und weitergehender Theorien und Konzepte immer wieder neu entschieden werden. Zudem bedarf es des wachen selbstreflexiven Blicks auf die "eigene" soziale Arbeit, auf die hier zu Tage tretenden Relationen in Hinblick auf Sprache, Ideologie und Praxis in Situationen der Sozialen Ausschließung, und letztlich gilt es über den Umweg des Studiums von Geschichte und kritischer Theorie, hinsichtlich machtvoller Prozesse des Ein- und Ausschließens, Auskünfte über Gegenwart und möglicherweise auch die Zukunft zu erhalten.
Damit schließen wir an, an eine Reihe von Heftveröffentlichungen, in denen wir uns bereits ausführlich mit Fragen der Armut, der Migration, mit geschlossenen Anstalten und mit über Ausschlussetiketten vermittelten Grenzziehungen beschäftigten. Herausgegriffen seien insbesondere drei Hefte. In der Ausgabe 156 "Zur alltäglichen Arbeit an den Grenzen von Zugehörigkeit" setzten wir uns inhaltlich mit den turbulenten Entwicklungen des Jahres 2015 auseinander, mit seinem "langen Sommer der Migration" und den daran anschließenden konflikthaften Dynamiken, sowohl in der medialen und politischen Debatte, sowie im Alltag wohlfahrtsstaatlicher Institutionen. In Heft 153 "Die Macht der Bezeichnungen", unternahmen wir den wiederholten Versuch dem Bedeutungsverlust von Etikettierungstheorien und -perspektive, nicht nur in der Sozialen Arbeit entgegenzuwirken, und fragten nach der Verwandtschaft zu kritischer Theorie und anderen kritischen Perspektiven. Und Dayana Fritz erläuterte bereits im Heft 159 empirisch sehr plausibel wesentliche Aspekte des Spannungsfelds zwischen totaler Situation (Ausschließung) und offener Situation (emphatische Partizipation).
Zu den Beiträgen im Einzelnen
Mit dem Beitrag von Arndt Dohmen "Erschütternde Hoffnungslosigkeit", den wir dank des Autors und der Expressredaktion für einen Zweitabdruck haben gewinnen können, begeben wir uns zunächst in die katastrophale Situation medizinischer Nicht-Versorgung von Flüchtlingen auf den Außengrenzen der europäischen Union, auf die Insel Lesbos. Der Autor, als Mediziner selbst vor Ort, muss am Ende seiner eindrücklichen Schilderungen festhalten, dass die "universalen Menschenrechte" ganz offensichtlich ausgerechnet für jene keine Geltung haben, die am dringendsten auf sie angewiesen wären. Die theoriebegründete Rede vom zunehmenden "Überflüssigwerden" von Menschen im Zuge des Reglements einer kapitalistisch organisierten Ökonomie und hierzu im Verhältnis stehender konkurrierender Nationalstaaten, gelangt somit auf ihren eigentlichen, konkreten, Begriff.
Während die Situation in den Lagern auf den Grenzen Europas als eine einzige Katastrophe bezeichnet werden muss, so kann der Zustand der Gesundheitsversorgung von EU-Binnenmigranten als davon unterschieden beschrieben werden. Aber auch hier gilt die unerbittliche Zuordnung von "drinnen" und "draußen", von "Rechteinhabern" einerseits und "Partizipationsverweigerung" andererseits, einschließlich damit verbundener unterschiedlicher Folgen. Einwohner_innen der EU mögen zwar formal Freizügigkeit beanspruchen können, wer aber keiner legalen Erwerbsarbeit nachgeht, der hat auch kein Anrecht auf Sozialleistungen, insbesondere nicht auf Leistungen der Gesundheitsversorgung. Christian Kolbe, Robin Lenz, Nora Röll und Kathrin Schrader diskutieren unter der Überschrift "Komplizenschaft der Helfer" die schwierige Situation von Projekten Sozialer Arbeit, in denen unter den Bedingungen des formalen Ausschlusses dennoch Hilfe zu leisten versucht wird und in denen sich in der Folge mit den unterschiedlichsten Widersprüchen und Widrigkeiten zurechtgefunden werden muss.
Timm Kunstreich aktualisiert im Anschluss in seinem Beitrag die Einsichten Erving Goffmans in Bezug auf "Totale Institutionen", unter anderem anhand der alltäglichen Erfahrungen und Bewältigungsstrategien von Insassen des Heims der Haasenburg Gmbh in Brandenburg. In der reflektierenden Rückschau formieren sich die Situation konstituierende, mitunter unausgesprochene, Regeln, Normen und Verhaltenserwartungen, denen gemein ist, dass mit ihnen, zugunsten der Reproduktion der herrschenden Ordnung und im Zuge der Zuschreibung einer dominanten Identität, die Vernichtung von Subjektivität und Eigensinn immer schon in Kauf genommen, wenn nicht gar beabsichtigt wurde. Blinde Anpassung und spezifische Formen der Identifikation mit dem Aggressor können in der Folge beschrieben werden. Möglichkeiten der Kooperation und der subversiven Kommunikation können mitunter jedoch auch unter solch widrigen Bedingungen entstehen und genutzt werden. Der totalen stellt Kunstreich die offene Situation gegenüber, in denen die Teilnehmenden sich in ihrem Anderssein transversal und wechselseitig bestätigen und anerkennen können. Für Tätige in der Sozialen Arbeit, z.B. in der Familienhilfe, bedeutet diese Unterscheidung die Notwendigkeit sich, vor dem Hintergrund des hier wie da gültigen hegemonialen Kontextes, zwischen den Polen "für andere" oder "mit anderen" zu handeln, immer wieder neu zu reflektieren und den eigenen diesbezüglichen Standpunkt, auch gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen, regelmäßig zu bestimmen.
Lag der Fokus der Beiträge bis hierhin auf Fragen widersprüchlicher bis unmöglicher Alltagserfahrungen, so gelangt im Artikel von Jonathan Kufner-Eger, "Essentialisierung und Etikettierung. Kritik der Ausschließung von `Schwierigen´ und anti-essentialistische Überlegungen" das Verhältnis von Begriff und Gegenstand in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung. Dichotomisierende Zweiteilungen von bspw. "Normal" und "Abweichend", von "In-" und "Ausländer", sind nicht der Natur entnommene Tatbestände, sondern, im Gegenteil, gesellschaftlich und interessiert zur Verfügung gestellte Etiketten, also zuallererst Abstraktionen zu einem bestimmten Zweck. Dagegen hält der Autor die Notwendigkeit hoch, von den Bedeutungen her, die das Gegenüber sich und seiner Handlungen beimisst, immer wieder neu nach Möglichkeiten des Verstehens und der Verständigung zu suchen.
Schließlich gelingt es Helga Cremer-Schäfer in ihrem Beitrag "Das lange "Jahrhundert der Lager"? Ausschluss und Einschluss - ein Strukturmerkmal von Vergesellschaftung im Kapitalismus" deutlich zu machen, dass, im Anschluss an Zygmunt Bauman, das 20. Jahrhundert als "Jahrhundert der Lager" bezeichnet werden kann. Diese Bezeichnung enthält das Plädoyer jene als "selbstverständlich" und "notwendig" erklärte Politiken und Praktiken von Ausschließung als bis heute andauernde Bedingungen der Möglichkeit des Holocaust zu denken. Zu den Bedingungen der Möglichkeit von Vernichtungslagern wie "Auschwitz" gehören nach Baumans Theorie der Moderne, bzw. der "Dialektik von Ordnung": die Herstellung von sozialer Ordnung durch staatliche und private Verwaltungen. Ein instrumentelles, für die Organisierung einer "sauberen Gesellschaft" nützliches Wissen. Klassifikationen, die eine indifferente, "adiaphorisierende" Haltung gegenüber dem Anderen forcieren und ebensolche Technologien, die Einschluss und Ausschluss rationalisieren. Mittels der Kontinuität und einer herrschenden Selbstverständlichkeit mit der "Fremde", "Arme", "Abweichende", "Verachtete" und als "gefährlich" oder "minderwertig" kategorisierte Menschen in Lager verbracht und andere totale Institutionen eingewiesen werden, wird eine Perspektive begründet, externalisierende Ausschließung, aber auch Ausschließung, die sich als "Einschluss" in Anstalten und Lager nach innen richtet, als "strukturellen Ausschluss" zu analysieren. Gerade wenn Neoliberalismus als ein Ausschlussregime verstanden wird, ist es notwendig die Form sozialer Ausschließung, die diese gesellschaftliche Phase voraussetzt und rationalisiert anwendet zu untersuchen. Nicht zuletzt um Möglichkeiten von "Nicht-Mitmachen", wie sie auch in den Beiträgen von Dohmen, Kunstreich, Kolbe und Kufner-Eger zuvor bereits herausgearbeitet wurden, auch weiterhin in Erfahrung bringen zu können.
Literatur
Anhorn, Roland et al. Hg. 2021: Handbuch Soziale Ausschließung und Soziale Arbeit. Wiesbaden
Bieri, Sabin 2020: bernerzeitung.ch/extremer-reichtum-muss-reduziert-werden-333140887727 Zugriff: 18.04.2021
Klanfer, Jules 1969: Die soziale Ausschließung - Armut in reichen Ländern. Wien, Frankfurt, Zürich.
Marx, Karl/Engels, Friedrich 1859/1971: Werke Band 13. Berlin
Die Redaktion