Zum Umbau von Bildung und Sozialstaat

Editorial

Nach einer Formulierung der UNESCO bildet der Bildungsbereich eine Art 'last frontier' des allgemeinen Umbaus öffentlicher Daseinsvorsorge. Dieser hat zuvor bereits andere öffentliche Institutionen einer Verbetriebswirtschaftlichung unterzogen und ist dabei, damit auch den Charakter von Öffentlichkeit und öffentlichen Raum weitgehend zu verändern. Auch in Deutschland erfasst der Umbau des Sozialstaats mit seiner Rationalisierungs- und Privatisierungsperspektive zunehmend das Bildungssystem. Auf internationaler Ebene werden gegenwärtig zum einen im Rahmen von WTO und GATS Neuregelungen eines liberalisierten Dienstleistungshandels ausgehandelt; zum anderen werden die exklusiven handelspolitischen Kompetenzen der EU auf die ausländischen Direktinvestitionen ausgedehnt und sollen, laut Konvent-Entwurf, auch die bisherigen Ausnahmebereiche Soziales, Bildung, Gesundheit und Kultur erfassen. Mit dem Wegfall von nationalen Ratifizierungen von Handelsverträgen "unterminiert der Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents das Subsidiaritätsprinzip" (Thomas Fritz, Attac). Damit werden institutionelle Regelungen definiert, die die Umsetzung nationaler Rationalisierungs- und Privatisierungsperspektiven nicht nur unumgänglich, sondern auch legitim erscheinen lassen.

In der BRD wird der institutionelle Umbau des Bildungswesens gegenwärtig zügig vorangetrieben. So werden in fast allen Bundesländern unter dem Motto von Autonomie und Eigenverantwortung, Qualitätsicherung und Evaluation nicht nur Leistungsanforderungen im Bildungsbereich verschärft, Arbeit - bei geringerer Bezahlung - intensiviert und Arbeitszeit ausgeweitet, sondern auch Modellversuche zur Einführung der Neuen Verwaltungssteuerung (NVS) durchgeführt. Damit sollen die organisatorischen und betriebswirtschaftlichen Kompetenzen von Einzelinstitutionen - Schulen und Hochschulen - erweitert werden. Begründet wird diese Umstellung von input- (Lehrer, Gebäude, Lehrpläne etc.) zur output-/ergebnisorientierten Steuerung von Bildungssystemen mit einer Reihe von Gründen - meist pädagogischen, finanziellen und organisationstheoretischen. So z.B. die These: "Selbstständiges Lernen erfordert eine selbstständige Schule" (H.G. Rolff). Immer wieder wird in den Begründungen für den institutionellen Umbau des deutschen Bildungswesens verwiesen auf das schlechte Abschneiden der 15-jährigen Schüler in der PISA-Studie und auf die Notwendigkeit eines gut qualifizierten Arbeitskräftereservoirs für den internationalen Wettbewerb unter den hochtechnologisch orientierten OECD-Staaten. Bestimmend für den gegenwärtigen institutionellen Umbau ist dabei die Vorstellung Bildungsinstitutionen durch Wettbewerb zu größerer Effizienz und einer höheren Leistungserbringung bewegen zu können. Dieser als 'Bildungsreform' auftretender institutioneller Umbau lässt sich begreifen als Rückführung der Bildungsexpansion der 70er Jahre und als Neubestimmung eines veränderten 'common sense' über die Qualität von Bildung.

Man könnte die These formulieren, dass das objektive Ziel des Paradigmenwechsels in der Bildungspolitik darin zu sehen ist, die Phase der auf größere Expansion und Chancengleichheit abzielenden Bildungsreform endgültig zu beenden und einer kostensenkenden bzw. -verlagernden Rationalisierung und Privatisierung Vorrang einzuräumen. Rationalisierung und Privatisierung, Wettbewerb und einzelinstitutionelle Effizienz sind Elemente einer institutionellen Oberfläche, hinter der sich ein neuer 'common sense' von dem herausbildet, was im Rahmen von Bildungsprozessen für wichtig erachtet wird. Hinter dem Schleier von Rationalität werden deutlich sichtbar Werte eines Sozialdarwinismus, der unter der Losung von 'Autonomie und Eigenverantwortung' den TeilnehmerInnen am Markt - sei es dem Einzelnen (Eltern/Schüler) oder der einzelnen (teil-)autonomen Bildungsinstitution - die alleinige Verantwortung über Erfolg und Versagen zuschreibt. Diese Verantwortung des/der Einzelnen für ihre/seine 'employability' (Beschäftigungsfähigkeit) und die sie begleitenden Kompetenzen äußert sich auch in der Forderung nach 'lebenslangem Lernen'.

Es stellen sich angesichts dieser Entwicklungen eine Reihe von Fragen: Wie ist dieser unmittelbarer werdende Zugriff der Ökonomie zu erklären? Wie sehen die realen Erfahrungen in den Ländern aus, die seit fast zwei Jahrzehnten diesen Umbau in Richtung Wettbewerb und Verbetriebswirtschaftlichung, nationale Curricula und Evaluationssysteme vollzogen haben? Welche Folgen hat dieser Umbau für die Ansprüche demokratische Bildungssysteme, individuelle Entfalung und (Chancen-) Gleichheit zu fördern? In welchen neuen, veränderten Formen werden Widersprüche, die zu lösen das neo-liberale Projekt angetreten war, unter neuen gesellschaftlichen Konstellationen sichtbar?

Eine Klärung dieser Fragen ist Voraussetzung dafür, Reichweite und Möglichkeiten bildungspolitischen Handelns angemessen beurteilen zu können.

Mit diesen Fragen und den sich daran anschließenden Beiträgen dieses Hefts wollen wir anknüpfen an die Analysen unseres Themenhefts "Zur globalen Regulierung des Bildungswesens" (Heft 83). Es gilt, "den analytischen Blick für die ... beständig reproduzierten Widersprüche zu schärfen, um gesellschafts- und sozialpolitisch - 'in and against the state' - handlungsfähig zu bleiben" (Andreas Scharschuch).

Zu den Beiträgen im Einzelnen:

Die weitgehende Akzeptanz oder zumindest passive Hinnahme des gegenwärtigen institutionellen Umbaus ist erkläungsbedürftig, da die Universalisierung der Kosten-Nutzen-Kalkulation, d.h. der Transfer betriebswirtschaftlicher Methoden und Kategorien aus der Sphäre der Produktion in den von interpersoneller Kommunikation geprägten Reproduktionsbereich von Bildung, Sozialem, Gesundheit und Kultur, der Sache, d.h. hier der Bildung, und dem bisherigen Selbstverständnis der Bildungsarbeiter fremd ist. Diese Veränderung vollzieht sich wesentlich unter Anknüpfung an zentrale Begrifflichkeiten der Reformpädagogik und unterstellt einen unmittelbaren Zusammenhang von verallgemeinerten, aus modernen Produktionsmethoden sich ergebenden Qualifikationen einerseits und andererseits der Notwendigkeit ihrer Einübung in formalen Bildungsinstitutionen. Der Bezug auf die Rhetorik der Reformpädagogik ist in diesem Zusammenhang zentral, da er die Akzeptanz bzw. Hinnahme des institutionellen Umbaus wesentlich stützt: er verschleiert die Realität von Rationalisierung und Privatisierung und suggeriert eine Kontituität pädagogischer Orientierung. Die begrifflichliche Kontinuität bei veränderten Inhalten und Kontexten, wie z.B. bei den Begriffen von Autonomie und Eigenverantwortung, ermöglichen aber auch eine Fortsetzung beruflicher Arbeit mit 'altem' pädagogischen Selbstverständnis unter sich immer drastischer gestaltenden Bedingungen in Form von neuen Arrangements, Kompromissen, äußerer Distanz, Unterlaufen etc. Das Interview mit Oskar Negt thematisiert diesen Zusammenhang von reformpädagogischer Rhetorik, Akzeptanz des institutionelles Umbaus und der Rolle von Erfahrungen reformpädagogisch orientierter Alternativschulen in diesem Kontext.

Die Rhetorik der Reformpädagogik, von Qualitätsmanagement und Evaluation begleiten und legitimieren Entwicklungen staatlicher Tätigkeiten im Kontext von Rationalisierung und Privatisierung, die sich u.a. als veränderte Steuerungsprozesse und als Neudefinition von als wesentlich erachteten Aufgaben von Bildung (‚new common sense') und von Rollen zentraler Akteure im Bildungsbereich (Eltern, Studenten als Kunden auf Bildungsmärkten) beschreiben lassen Sie lassen aber die wesentlichen Funktionen von (Aus-)Bildung als Teil gesellschaftlicher Reproduktion unberührt. Der Beitrag von Sharon Gewirtz macht auf diesem Hintergrund deutlich, dass neo-liberale Strategien die Probleme (Qualität, Effizienz, Kontrolle), die zu lösen sie angetreten sind, nur verschärfen werden. Allerdings öffnen sich damit möglicherweise auch Räume für potentiellen Widerstand.

Den Blick für Widersprüche im Kontext des Umbau des Sozialstaats zu öffnen, ist auch eine zentrale Intention von John Clarkes Analyse dieser Entwicklung als einer der Auflösung des öffentlichen Raums und der öffentlichen Institutionen durch Prozesse der Privatisierung und Vermarktlichung öffentlicher Daseinsvorsorge. Er macht deutlich, dass der Prozess der Universalisierung der Logik der Kosten-Nutzen-Kalkulation als der wesentlichen Strategie der Legitimationsgewinnung nicht frei von Widersprüchen bleibt. Mit der Etablierung neuer institutioneller Regelungen geht eine Individualisierung und De-Politisierung des öffentlichen Raums einher: es werden (Quasi-)Märkte etabliert, auf denen die 'client choice' auch die sozialen Kläfteverhältnisse neu definiert.

Stephen J. Ball analysiert die Etablierung von Märkten als naturwüchsig erscheinendes Instrument der Mittelschicht, unter den Bedingungen der ökonomischen Krise und potentieller beruflicher und sozialer Deklassierung ihre Klasseninteressen effektiv zu sichern. Zugleich ist der Markt auch ein probates Mittel zur Legitimation von Ungleichheit und Differenz als auch zur Zuweisung individueller Schuld im Falle des 'Scheiterns' (auch von Einzelinstitutionen). Jenseits der Rhetorik von Chancengleichheit und Qualitätsicherung sind staatlich regulierte Märkte auch Verstärker eines kompetitiven Individualismus.

Die Forderungen nach Erziehung zur Kreativität, selbständigem Lernen, Teamarbeit und Lernen in Projekten haben sich Vertreter der Industrie - wie z.B. Bertelsmann und McKinsey - zu eigen gemacht, um ihre Forderungen nach einem institutionellen Umbau der Bildungsinstitutionen zu begründen. Gemeinsamer Ausgangspunkt reformpädagogisch argumentierender Pädagogen und dieser Vertreter der Industrie ist die Annahme eines von der 'Wissensgesellschaft' erforderten neuen Typs von Lohnabhängigen mit eben diesen Qualifikationen. Unabhängig davon, ob die Annahme dieser neuen Qualifikationen in dieser Allgemeinheit begründet ist, werden aus der Argumentation für 'Autonomie und Eigenverantwortung, selbständige Schule und eigenverantwortliches Lernen' unversehens Konzepte des Selbstmanagement zur Sicherung der eigenen Qualifikationen (der 'employability' des potentiellen 'Arbeitskraftunternehmers seiner selbst') und nicht zuletzt zur Vermittlung von Qualifikationen, mit denen Lohnabhängige befähigt werden sollen sich Arbeitsplatznischen selbst zu suchen. Auch hier zielt die 'Autonomie' des 'Selbstmanagements' darauf ab, angesichts struktureller Arbeitslosigkeit Mechanismen individueller Schuldzuweisung für absehbares Scheitern bereitzustellen. Der Beitrag von Michael May versucht die Entwicklung von Konzepten zur Sicherung von 'employability' als der neoliberalen Version von Selbstbildung im Kontext der Restrukturierung nachzugehen und die damit zugleich sich abzeichnenden Widersprüche zu benennen.

Jürgen Klausenitzer
in Zusammenarbeit mit der Redaktion