Selbstverantwortete Gesundheit - selbstverantwortete Krankheit

Editorial

Das vorliegende Heft thematisiert in spezifischer Art und Weise den Zusammenhang von gesellschaftlichen Normalitätserwartungen, wie sie im Rahmen der Auseinandersetzungen um die Modernisierung der (Re)-Produktionsverhältnisse formuliert werden. Auch wenn die aktuellen Diskurse um Arbeit - Arbeitslosigkeit, Gesundheit - Krankheit, (Selbst)Kontrolle - Sucht, Alter und Beeinträchtigung jeweils ihre besonderen Fragestellungen bearbeiten, lassen sich gemeinsame Thematisierungen finden, z.B. dass die Einzelnen von sich verändernden gesellschaftlichen Verhältnissen mehr gefordert sind und für die Bewältigung dieser Herausforderungen (Selbst-)Verantwortung zu übernehmen haben. So kann der Werbung einer Krankenversicherung (auf den Werbeflächen der Bundeshauptstadt) im Februar 2007 entnehmen: "Wer aktiv etwas für seine Gesundheit tut, kann auf die Unterstützung der Gesundheitskasse zählen." In diesem Versprechen werden die zwei Stränge deutlich angesprochen, in deren Rahmen gegenwärtig nicht nur, aber besonders Gesundheit verhandelt wird:Der erste Strang ist der in Parteien, Parlamenten und Verbänden artikulierte Umbau des Gesundheitssystems als Teil der sozialstaatlichen Regulation. "Wie in allen Bereichen der sozialen Sicherung wird auch in der Gesundheitssicherung das bestehende System durch den Übergang zur Produktionsweise eines globalen neoliberalen Kapitalismus ausgehebelt", heißt es dazu in dem Text der AG links-netz "Soziale Infrastruktur im Gesundheitsbereich", der im express 12/2006 veröffentlicht ist. Der andere Strang ist der politisch nicht weniger bedeutsame Alltag der Lebensgestaltung. Aktiv sind wir doch längst alle dabei, unseren Beitrag zu unserer Gesundheit zu leisten: Ernährung, Ertüchtigung, Entspannung. In beiden Strängen spielt die Eigenverantwortung und die Aufforderung/Unterstellung der individuellen Herstellbarkeit von Gesundheit eine zentrale Rolle. Wenn in der jüngst beschlossenen Gesundheitsreform noch stärker Möglichkeiten von Selbstbehalten und Bonusrückerstattungen eingebaut werden, dann wird zweierlei erreicht: Der versicherten Person wird zwar die Freiheit des Kalkulierens zugestanden, zugleich aber verbleibt im Versicherungssystem weniger Geld zur Umverteilung an die, die aufgrund sozialer oder altersbedingter Zumutungen gerade nicht frei kalkulieren können, sondern auf Leistungen des Gesundheitssystems angewiesen sind. Zu diesen Mechanismen ist auch die Verknüpfung der Teilnahme an Früherkennungsprogrammen mit niedrigeren bzw. im Fall der Nichtteilnahme mit höheren Eigenbeteiligungen zu rechnen. Mit solchen Verfahren wird nicht nur die Steuerung der eigenen (Gesundheits)Kosten suggeriert, sondern zugleich auch die Vorstellung, jeder und jede habe die Chance die eigene Gesundheit durch das eigene Verhalten selbst zu steuern.

Es ist paradox, dass man heute zwar um die besondere Bedeutung sozialer und ökonomischer Lebensbedingungen für Gesundheit bzw. Krankheit (vgl. z.B. Helmert 2003; Helmert u.a. 2000) weiß, dass dies im hegemonialen Diskurs und in der Alltagspraxis der Menschen aber keine Resonanz zu finden scheint. Der naheliegende Gedanke, die sozialen und ökonomischen Lebensbedingungen für alle zu verbessern, erscheint chancenlos gegenüber dem Ruf und Versprechen, die Fitness für eine bessere Bewältigung des postfordistischen Lebens selbständig und selbstverantwortlich zu erreichen. Was herrschaftskritisch als Zwang zur "Responsibiliserung"/"In-Verantwortungnahme" oder auch als Zwang zur Selbstregierung (vgl. Krasmann 1999) beschrieben wird, scheint nicht nur für die dominanten Akteure im besonderen Raum der Politik faszinierend zu sein, sondern auch für die Politik der Menschen in ihrem Alltag.

Das Programm der Eigenverantwortung braucht als Subjektmodell und Modellsubjekt den autonomen Kunden, ausgestattet mit den Ressourcen Geld und Kompetenz. Der Wunsch, die Gesellschaft in Marktbeziehungen Einzelner aufzulösen, zeigt sich in der Vermarktlichung von Gesundheit als Dienstleistung. Aus dieser Logik leiten sich keine sozialen Grundrechte oder Rechtsansprüche ab, sondern Leistungs-Gegenleistungsbeziehungen. Die eigene Leistung des Kunden-Konsumenten besteht unter diesen Maximen vor allem darin, sich richtig und vernünftig zu verhalten - auf Basis von eigenen Entscheidungen. Das gilt gleichermaßen für die Leistung, einen Arbeitsplatz zu bekommen und zu behalten, wie für die Leistung, gesund zu sein, zu bleiben oder zu werden. Wenn dies die Normalitätserwartung ist, dann verlieren soziale Ungleichheit und ökonomische Herrschaftsverhältnisse an Erklärungskraft - zugleich aber freilich auch an Gewicht als veränderbare Verhältnisse. Und diejenigen, die aus verschiedensten Gründen sich dieser Vernunfts- und Normalitätserwartung nicht beugen, werden dann zum Objekt durchaus auch repressiver professioneller und staatlicher Strategien (vgl. hierzu Schmidt-Semisch 2007).

Der Vollständigkeit und Erinnerung halber wollen wir auch darauf hinweisen, dass wichtige Aspekte der aktuellen Debatten auch schon im Heft 94 der Widersprüche "Kampf ums Herz - Neoliberale Reformversuche und Machtverhältnisse in der Gesundheitsindustrie" behandelt worden sind. Die in diesem Heft vertretenen Beiträge können sehr gut auch als ergänzende, vervollständigende Beiträge gelesen werden.

Zu den Beiträgen im Einzelnen

Michael Buestrich liefert mit seinem Beitrag einen einführenden Grundlagenartikel über den Zusammenhang von Lohnarbeit und Gesundheit. Er diskutiert, in welcher Weise Produktionskonzepte fordistischer und postfordistischer Prägung Folgen für Gesundheit und Krankheit von ProduzentInnen haben können. Die Frage nach den unterschiedlichen Verhaltensanforderungen dieser Produktionsbedingungen an die konkreten Menschen spielen dabei eine besondere Rolle. Verdeutlicht wird dies von Michael Buestrich sowohl an Arbeitsverhältnissen, die Autonomie, Flexibilität und Eigenverantwortung einfordern, wie auch an den Ansprüchen und Zumutungen prekärer Beschäftigung und aktivierender Arbeitsmarktpolitik.

Im Text von Christian Schultz spielen Veränderungen, wie sie Arbeitslosigkeit, Armut und Prekarsierung bedeuten, ebenfalls eine wichtige Rolle. Er stellt die Frage, wie eine kritische psychologische Praxis, die sich der politischen, sozialen und gesellschaftlichen Bedingtheiten versichert, aussehen kann. Er formuliert Ansprüche an eine psychotherapeutische Praxis, die gesellschaftliche Zumutungen nicht als Persönlichkeitsdefizite behandelt, sondern sich als Chance zur Erweiterung von Handlungspielräumen in und gegen diese Verhältnisse begreift. Dabei diskutiert Christian Schultz diese Fragen vorallem auch vor dem Hintergrund seiner beruflichen Praxis und der Kritischen Psychologie.

Die Lebensbedingungen von Menschen, die aufgrund von Alter, Krankheit oder Behinderungen in Heimen untergebracht sind, bilden das Thema des Beitrags von Eckhard Rohrmann. Er setzt sich mit dem Ersten Heimbericht der Bundesregierung auseinander, der im Herbst 2006 veröffentlicht worden ist und befragt vor allem zwei Aussagen dieses Berichts: Zum einen die These von der zunehmenden Nachfrage nach stationärer Pflege im Alter und stationärer Betreuung von Menschen mit Behinderungen. Zum anderen die These, es gäbe auf Seiten von Alten und Menschen mit Behinderungen keinen Grund zur Sorge vor stationärer Unterbringung. Eckhard Rohrmann konstatiert im Gegensatz zu der gesetzlich formulierten Programmatik "ambulant vor stationär" eine gesteigerte "murale Entsorgung" von sozialen Situationen wie Alter, Pflege und Behinderung. Ausgehend von der Erkenntnis, dass es keine Bedarfe gibt, die nicht ambulant befriedigt werden könnten, diskutiert er u.a., ob Konzepte wie das persönliche Budget überhaupt geeignet sind, einen Subjektstatus im Sinne einer Kontrolle der alltäglichen Lebensvollzüge und der Gleichstellung zu ermöglichen.

Charlotte Jurk geht in ihrem Beitrag dem Phänomen einer steigenden Diagnose von Depressionen nach. Sie fragt nach den Gefahren des Trends zur Medikalisierung von Seelenzuständen. Im Rückblick auf die Geschichte psychiatrischer Diagnose und Praxis kann sie zeigen, wie Diagnosen einerseits einem je bestimmten Zeitgeist entspringen und sodann eine eigene Überzeugungskraft zur Etablierung bestimmter Vorstellungen von Normalität entfalten. Besonderes Augenmerk widmet Charlotte Jurk der Rolle von Psychopharmaka bei der Entwicklung des Krankheitsbildes Depression. Vor dem Hintergrund der Untauglichkeit von Antidepressiva als Glück versprechendes Lifestyleprodukt und den Folgen dieser Mittel für die Befindlichkeit von Menschen diskutiert sie die Rolle ökonomischer Interessen. Als besondere Gefahr sieht sie die Tendenz, nicht nur Befindlichkeitsstörungen als fehlerhafte Anpassungen des Selbst in die Verantwortung der Einzelnen zu legen, sondern auch noch das (Un)Vermögen, die Niedergeschlagenheit (mit Hilfe von Medikamenten oder Therapie) zu überwinden, zum (Miss-)Erfolg der Einzelnen zu machen.

Henning Schmidt-Semisch und Jan Werheim fragen in ihrem Beitrag, ob und wie die Praxis akzeptierender Drogenarbeit in Kontrollstrategien und Ordnungspolitiken eingebunden wurde. Sie zeichnen die mit der akzeptiertenden Drogenpolitik und Drogenarbeit verbundenen Ziele und Hoffnungen nach und beziehen die Entwicklungen in diesem Feld auf aktuelle Strategien der Kriminalpolitik. Dort identifizieren sie zwei Trends. Einmal den Abschied vom Integrationsziel für als abweichend kategorisierte Personen ("Diabolisierung") und zum anderen die Bewertung von abweichendem Verhalten als nicht zu verhindern, aber zu managen. In beiden kriminalpoltischen Strategien zeigt sich als Gemeinsamkeit die Tendenz zur räumlichen Exklusion bestimmter Verhaltensweisen. Die Autoren betrachten vor diesem Hintergrund die Praxis der so genannten Druck-, Fixer- oder Gesundheitsräume als modellhafte Praxis akzeptierender Drogenarbeit und beschreiben sie als wirksam im Rahmen einer exkludierenden Toleranz. Sie reguliert bzw. regiert den Drogenkonsum je nach seinem Ort mit einer Kombination aus ökonomisch-rationalem Strafverzicht und/oder moralisch legitimierter Strafe und Ausschließung.

Heino Stöver schließlich zeichnet nach, welche Schwierigkeiten bei der Einführung der Methadosubstitution in Deutschland zu überwinden waren und welche Probleme heute immer noch bestehen. Auch wenn die Substitution mittlerweile als eine etablierte Behandlungsform innerhalb der Sucht- und Drogenhilfe bezeichnet werden könne, so gebe es doch immer noch eine ganze Reihe von Schikanen, die deutlich machten, dass es sich immer noch nicht um eine selbstverständliche Behandlung handele.

Literatur:

Krasmann, Susanne (1999): Regieren über Freiheit, in: Kriminologisches Journal, Jg. 31, S. 107-121

Helmert, Uwe (2003): Soziale Ungleichheit und Krankheitsrisiken, Augsburg

Helmert, Uwe/Bammann, Karin/Voges, Wolfgang (2000): Müssen Arme früher sterben? Soziale Ungleichheit und Gesundheit in Deutschland, Weinheim

Schmidt-Semisch, Henning (2007): Gesundheitsförderung als soziale Kontrolle oder: Ausschließungsprozesse (noch) jenseits des Strafrechts, in: Kriminologisches Journal, Jg. 39