Kritische Soziale Arbeit
Editorial
Die Redaktion der Widersprüche hat seit über 40 Jahren in ihren Heften einen "roten Faden" durchgehalten: Wir blicken aus einer Perspektive "von unten" auf das, was gesellschaftlich vor sich geht. Während traditionelle Theorien und Vorstellungen von Sozialer Arbeit die institutionellen, organisatorischen und professionellen Entwicklungen und deren Verbesserung im Blick haben, haben die "Widersprüche" sich (in all der Verschiedenheit der Redakteur*innen) vorgenommen, herrschenden Produktions- und Regulationsweisen (und ihren Institutionen) mit einer kritischen Haltung zu begegnen.
Als Kritik bezeichnen wir nicht nur eine Denk-Handlung. Kritik üben schließt jedes menschliche Handeln ein, "das Gesellschaft selbst zum Gegenstand hat" (Max Horkheimer). Zu (gesellschafts)kritischem Handeln sind alle Menschen fähig. Das zeigt die Arbeit in und an Herrschaftsverhältnissen, die die Menschen alltäglich zu leisten haben, ihre Arbeit an Zwang und Repression, die Arbeit an verdinglichenden Zumutungen von Institutionen: Markt, Verwaltung, Gremien aller Art. Zur Arbeit an Verdinglichung gehört die Arbeit an "komfortabler Unfreiheit" (Herbert Marcuse), die Arbeit an allem, was uns als "selbstverständlich" oder "notwendig" vorgespielt wird, vor allem bezogen auf die Mitarbeit in und an integrierenden bzw. ausschließenden Institutionen. In der Zuspitzung von Michel Foucault bedeutet Kritik "die Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden". Entsprechend können wir kritische Soziale Arbeit als kollektives Handeln verstehen - als "Arbeit im und am Sozialen", das durch radikale Kritik der Widersprüche einer herrschenden Arbeits- und Lebensweise dazu beitragen kann, diese zu überwinden; gerade auch indem sie jene erreichten Ansätze verteidigt, die den Weg zu einem "guten Leben" ermöglichen. Damit können Assoziationen eine Realität werden, in denen die freie Entwicklung jedes und jeder die Bedingung der freien Entfaltung aller ist.
Der "rote Faden" von kritisieren - verteidigen - überwinden bleibt ein langer Marsch durch Denkweisen, auch über die Institution Soziale Arbeit. Unsere Zeitschrift steht für eine theoretische Perspektive, die die Soziale Arbeit konstitutiv prägenden Konflikte und Widersprüche zum Ausgangspunkt von Auseinandersetzungen wählt. Soziale Arbeit als Institution zu bestimmen, die Folgen der "sozialen Frage" bearbeitet, ist zu einer solchen Selbstverständlichkeit geworden, dass wir die Frage stellen müssen, wie sich diese Institution bzw. ihre "Vorgängerinnen" in die Konflikte um die Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise und die dafür notwendigen Arbeits- und Lebensweisen einmischt. Gegen die allseits bequeme Perspektive sie einseitig als "herrschaftslegitimierend" oder als eine "emanzipatorische" Kraft zu bestimmen, argumentieren die "Widersprüche" für die Perspektive, Soziale Arbeit als "institutionalisierten Konflikt" (Timm Kunstreich) zu analysieren. In einer staatstheoretischen Perspektive handelt es sich bei Sozialer Arbeit (bzw. den unterschiedlichen Arbeitsfeldern personenbezogener sozialer Dienst- und Sorgeleistungen) um den integralen Bestandteil eines historisch zu bestimmenden "Wohlfahrtsstaat-Regimes" - mit allen Konsequenzen nationalstaatlicher Begrenzung. Soziale Arbeit bleibt als historisches Ergebnis sozialer Kämpfe um Emanzipation und Demokratisierung von Gesellschaft eine "dialektische Einrichtung": Sie bringt die herrschafts- bzw. ordnungspolitische "Rekuperation" der Forderungen dieser Kämpfe zu herrschaftssichernden Zwecken zum Ausdruck - auch gegen sich selbst.
Als (historische) Form von "Arbeit am Sozialen" bleibt Soziale Arbeit ein gesellschaftlich umkämpftes Feld: Was Soziale Arbeit ist und was sie im Spiegel der Kritik werden kann, ist nicht nur akademisch umstritten. Sie bleibt, mitunter handfester, auf den unterschiedlichen Ebenen beruflicher, politischer und institutioneller Praxis strittig zwischen den beteiligten Interessen- bzw. Akteur*innengruppen: öffentlichen Geldgebern, Trägervertretungen, professionellen Fachkräften auf der Ebene des organisationalen "Street Level", ehrenamtlich bzw. bürgerschaftlich Engagierten und nicht zuletzt den Leuten, die Soziale Arbeit nutzen (müssen) bzw. die sie als ihre "Klientel" adressiert und konstituiert.
Zu den Beiträgen im Einzelnen
Fabian Kessl fragt in seinem Beitrag Zur politischen Dimension von Sozialer Arbeit und Sozialpädagogik nach dem Zusammenspiel von politischer und pädagogischer Dimension - als Ansatzpunkt für Alternativen zur etablierten Sozialpolitik. Begreift man Politik nicht nur als Auseinandersetzung um die Gestaltung und Regulierung sozialer Zusammenhänge, sondern erkennt auch deren strukturelle Ausschließungslogik an, findet sich ein erweiterter Politikbegriff. Entsprechenden Positionierungen der Beteiligten in der Sozialen Arbeit und Sozialpädagogik dient die Ermöglichung von (potenzieller) Subjektivität dabei als Maßstab - sie agieren und denken also pädagogisch. In diesem Sinne ist die Gleichzeitigkeit einer Politik des Sozialen und einer Pädagogik des Sozialen als emanzipatorische und aufklärende Alternative zur vorherrschenden Sozialpolitik weiter zu konkretisieren.
"Das Soziale" steht im Nachdenken von Ellen Bareis und Helga Cremer-Schäfer über die Widersprüche der Produktion des Sozialen from below für das von allen zu bildende "Gesellschaftliche" einer Gesellschaft. Am Beispiel von Forschungen über den arbeitsreichen Alltag im historisch realisierten Sozialen, der wohlfahrtsstaatlich und nach Prinzipien von parlamentarischer Demokratie regulierten Gesellschaft auf der Basis kapitalistischer Ökonomie, zeigen sie auf, dass pragmatische, listige, kritische und bornierte Arbeitsweisen am realisierten Sozialen als eine Artikulation von Kritik an den Herrschaftsverhältnisses zu interpretieren sind. Und als Ideen, welche Ressourcen eine soziale Infrastruktur für das Betreiben eines eigenen Lebens bereitstellen muss.
Thomas Wagner thematisiert Praktiken, die Sozialarbeiter*innen im Zuge ihrer Auseinandersetzung mit Widersprüchen und Konflikten im beruflichen Alltag entwickeln, als Eigensinnige Arbeit an Herrschaft. Sozialarbeiter*innen auf der Ebene ihres beruflichen Alltags sind Zeitzeug*innen und historische, "eigensinnig" handelnde Akteur*innen wohlfahrtsstaatlicher Transformation. Ohne die "dunkle Seite" des Eigensinns zu ignorieren, versteht er Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter als Handelnde, die in ihrer Arbeit am Sozialen gegen institutionelle Zumutungen (situativ) Abstand und Spielräume gewinnen. Zumutungen für einen Augenblick auf Abstand bringen zu können, wird nicht selten als eine wichtige Voraussetzung für das "Mitmachen" erfahren.
Michael May und Joachim Weber entwerfen in ihrem Beitrag Pädagogik des Sozialen und Soziale Arbeit eine Pädagogik des Sozialen als Arbeit an dem, was sich "Zwischen" den Menschen verwirklicht, in der Mäeutik von Spontanität, Initiativität und Subjektivität menschlichen Gemeinwesens. Dabei entwickeln sie eine spezifische Pädagogik des Helfens im Kontext des Arbeitsprinzips Partizipation einer solidarischen Professionalität Kritischer Sozialer Arbeit.
Timm Kunstreichs Beitrag Politik des Sozialen - von alternativer Sozialpolitik zur Alternative zu Sozialpolitik schreibt die Gesellschaftsgeschichte des Projektes der Widersprüche-Redaktion seit der Gründung der Zeitschrift auf und bringt die Debatte mit der Auseinandersetzung um Bedingungsloses Grundeinkommen und Garantierte Grundarbeitszeit auf einen aktuellen Stand eines Verständnisses von Sozialpolitik als "Infrastrukturpolitik des Sozialen".
Karl August Chassés Artikel Revolutionäre Realpolitik, Hegemonie und radikaler Reformismus spürt anhand dreier Klassiker*innen von Herrschaftskritik Versuchen nach, die Spannung zwischen utopischen Visionen und tatsächlicher Politikfähigkeiten produktiv zu machen: Rosa Luxemburgs "revolutionäre Realpolitik" - verfasst in der imperialistischen Phase zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Antonio Gramcis Vorschlag einer nicht hierarchisch strukturierten Organisierung von Gegen-Hegemonie (in der Phase von Faschismus), schließlich das Konzept des "radikalen Reformismus", am Ende der fordistischen Phase der kapitalistischen Produktionsweise von Joachim Hirsch und Roland Roth vorgeschlagen.
Wegen der besonderen Schwerpunktsetzung dieses Heftes wollten wir auf die in jeder Ausgabe zu findenden sonstigen Rubriken verzichten. Das ist uns nicht ganz gelungen, das eine Mal aus einem traurigen Grund, das andere Mal aus einem Mut machenden. Der traurige Grund: Dietlinde Gipser, die seit Anfang der 1990er Jahre zur Redaktion gehörte, ist am 13. Januar diesen Jahres kurz vor ihrem 82. Geburtstag gestorben. Timm Kunstreich, der mit ihr zusammen studiert hat, erinnert an sie.
Micha Brumlik macht uns in seiner Besprechung über Hans Falcks Membership-Perspektive Mut, "an die Stelle eines Subjekt-Objekt Paradigmas sozialer Arbeit (das) Grundmuster Subjekt-Subjekt Relationen" zu setzen.
Die Redaktion