Ihr seid das Volk! - Neue populistische Kollektivitätsanrufungen von rechts und links
Editorial
Schattierungen und Nuancen charakterisieren den neuen, aktuellen Populismus. Populismus als politischer Begriff wird nicht nur unschärfer und theoretisch unübersichtlicher, er verliert als 'Kampfbegriff' an Wirkung und theoretisch an Deutungskraft. Wenn Populismus überall in Staat, Kultur bzw. Gesellschaft agiert - in so unterschiedlichen Arenen wie bspw. Sport, Wissenschaft, Health care, Erziehung & Bildung, Entwicklungszusammen-arbeit, digitale Medien usf. m.a.W. zum medialen Tagesgeschäft zählt und den rechten wie linken Diskurs determiniert -, dann stellt sich die Frage, was ist Populismus heute? Wird der Begriff konzeptionell überdehnt? Führen Typologien zu Populismustheorien, oder historisch ausholende, strukturtheoretische Ansätze zu tragfähigen Deutungsmustern? Oder spiegelt die 'Konstruktion unterschiedlicher Weltsichten' in ihrer objektiven und subjektiven Dimension das Kernproblem des modernen Populismus. Sind 'symbolische Kämpfe' bspw. um Macht und Konsens, Herrschaft und Hegemonie, Status und Individualität zeitgenössischer Ausdruck einer Neu- oder Uminterpretation der 'sozialen Welt' als Global Village?
Alle historischen Formen des Populismus argumentieren mit dem Kollektiv-WIR in scharfer rhetorischer Abgrenzung zum Anderen. Begriffliche Duale beherrschen die einzelnen sozialen Arenen. Die Polarisierung von Wir und Die, von Unten und Oben, Elite und Volk, Abgehängte und Reiche, Funktionäre und Basis ist dem rechten wie linken Populismus in der Alltagspraxis eigen. Instrumentelle Ambiguität und strukturelle Kongruenz beherrschen die Praxisformen des Populismus in allen genannten Arenen - in allen Nationalstaaten der Erde, und zwar historisch sowie aktuell.
Das alles ist zumal in der deutschen Geschichte sattsam bekannt. Die Verwandtschaft des aktuellen Populismus mit der NS-Propaganda fällt u.a. in die Augen, die eine strikte Spaltung zwischen Böcken und Schafen inszenierte und den 'Führer' als Exponent der völkischen Masse präsentierte - als 'einfachen' Mann und dennoch Heros 'des Volkes'. Doch eine einfache Gleichsetzung von Faschismus und Populismus verfällt der Selbsttäuschung, dass Populismus ein Problem politisch rechter Gesinnung sei und übersieht andere populistische Strömungen. Mit einigem Recht könnte die politische Aktivierung des letzten Jahrzehntes als liberaler Populismus verstanden werden.
Die Kampagne der Verunglimpfung von Florida-Rolf und damit der Sozialhilfeempfänger insgesamt als Sozialschmarotzer in der Hängematte des Sozialsystems stellte eine Anrufung des fleißigen Bürgers dar, der wutentbrannt überall Missbrauch sozialer Leistungen wittert und dabei eine simple und längst theoretisch überholte Marktlogik in Anschlag bringt, um mit dieser alle gesellschaftlichen Probleme zu lösen. Genauer besehen bilden die angezeigten Strategien und Typen von Populismus Merkmale jeder Form von popularer Politik, die Stimmungen in der Bevölkerung aufgreifen, um diese mit leicht verständliche Erklärungen und Lösungen zu bearbeiten. Die Unterschiede zwischen popularen und populistischen Strategien drohen zu verschwimmen. Allerdings zeigt sich ein auffälliger Unterschied zwischen beiden im Umgang mit dem das Politische konstituierenden Antagonismus der Meinungen und der damit verbundenen Argumente. In Abgrenzung gegenüber jeder Alternative und Durchsetzung der jeweiligen eigenen Interessen erschöpfen sich die kruden Angebote populistischer Politik. Brisant wird diese populistische Politik erst vor dem Hintergrund von gesellschaftlichen Interessen, die an verschüttete oder tabuisierte und damit aufgestaute Emotionen anknüpfen können und deren Subjekte gleichzeitig das Vertrauen verloren haben, dass diese Interessen im Kontext demokratischer Legitimationsprozesse noch eine Rolle spielen. Die Analyse des Populismus geht damit über die Beobachtung populistisch agierender Akteure hinaus und wendet sich deren Interessen und Stimmungen zu, mit denen populistische Politik operiert.
Daran knüpfen sich eine Reihe von Fragen: Was ist Populismus heute? Welche Form hat er morgen? Was befeuert, was treibt Populismus in die Flaute? Kann 'Aufklärung' noch als probates 'Gegengift' dienen - der 'Marsch der Anständigen' die angemessene Öffentlichkeitform gegen 'regressive Entzivilisierung' sein? Oder wird die Zuschreibung populistisch vielmehr gebraucht, um jede Form von engagiertem Eintreten für Alternativen zum Bestehenden zu desavouieren?
Im Zentrum des Populismus steht allerdings ein sozialpsychologisches Phänomen: das 'Volk'. Es gibt sie wieder, die kollektive Identität, die in unterschiedlichen Politikarenen adressiert werden kann! Wer das Volk anruft mit dem Slogan 'Ihr seid das Volk!' oder sich kollektiv identifiziert mit der Formel: 'Wir sind das Volk!' arbeitet an der Konstruktion eines ausgrenzenden Kollektivs. Hier wird anderes ausgesagt als: 'Wir gehören zum Volk!' Exklusion, nicht Inklusion in ein politisches Subjekt ist der Sinn solcher Kollektivbildung. Dabei zeigt sich die Kategorie Volk ähnlich zweideutig wie die Kategorie des Bürgers. Der Begriff schwankt zwischen dem politisch aktiven Bürger der Zivilgesellschaft und dem individualistischen Bürger der spätkapitalistischen Gesellschaft. Nicht weniger schwankt der Adressat des sogenannten Volkes zwischen zwei Bedeutungen, auf der einen Seite der abstrakt-unbestimmten Größe des populus, die als demokratischer Souverän beispielsweise in Deutschland den Schöpfer des Grundgesetzes und damit des Rechtssystems markiert, auf der anderen Seite einer gesellschaftlichen Teilgruppe, die populistisch angerufen und in Bewegung gesetzt werden kann, der plebs. Letzteres impliziert dann die Möglichkeit, völkisches Gedankengut mit der Anrufung des Volkes zu verbinden.
So nahe es vor diesem Hintergrund liegt, populistische Politik mit Rechtspopulismus gleichzusetzen, das Phänomen Populismus lässt sich mit einer solchen Engführung kaum begreifen. Ein analytischer Blick erkennt insbesondere vier konstituierende Phänomene, wie sich populistische Politik inszeniert, die über völkisches Denken weit hinausgehen. Diese setzt an mit der Absicht, (1) in einer komplex gewordenen Welt einfache Antworten zu liefern, gleichzeitig (2) das Volk in Anschlag zu bringen als Gegenakteur gegen die sogenannten Eliten, wobei insbesondere (3) die Wut des Volkes als politisch produktive Emotion entdeckt wird, so dass sich schließlich (4) populistische Akteure inszenieren können als diejenigen, die über einen unmittelbaren Draht zu diesem Volk verfügen und sich als dessen Führung anbieten.
Populismus in sozialen Räumen bzw. wissenschaftlichen Feldern zu thematisieren und damit die begriffliche Unübersichtlichkeit zu problematisieren, markiert den Anspruch des vorgelegten Heftes.1 Populismus taktiert mit der Mobilisierung von Massen (bspw. Nation, Landsmannschaft, Region, Club, Sippe, Clan), ergeht sich medial in Dualismen, die objektive Merkmale mit individuellen Erfahrungen zusammenbringen und medial hypen. Der 'kühle Kopf' wird beiseitegeschoben, das 'leere Herz' zur Tat ermuntert. Thematische Eindeutigkeit ist zweit- und damit nachrangig - ideologische Polyvalenz ein charakteristisches Merkmal. Drei Lesarten des Populismus bieten sich u.E. in theoretischer und analytischer Absicht an: Populismus als Ideologie, als hegemoniale Strategie (Machterlangung- u. -sicherung) und als wissenschaftliche Diskurspraxis. Auf diesem Hintergrund prägen drei rote Fäden das vorgelegt Heft. Einerseits tragen sie dem transitorischen Charakter des Populismus Rechnung' andererseits erkennen sie in ihm einen Indikator für die Krise demokratisch verfasster Nationalstaaten. Die Beiträge zielen deshalb erstens auf eine historische Rückversicherung. Strukturelle Aspekte des Populismus sind damit ebenso adressiert wie der sprachanalytische Umgang mit Volk und Herrschaft. Zweitens thematisieren gesellschaftstheoretische Beiträge in der Tradition von Antonio Gramsci und Pierre Bourdieu die Dialektik von Staat und Kultur, von Hegemonie und Zwang, von sozialem Raum und 'symbolischen Kämpfen' in ausgewählten Arenen. Schließlich drittens intervenieren einzelne Beiträge in den demokratietheoretischen Diskurs der Abwehr neoliberaler Politiken im Kontext von Sozialstaat, Deregulierung, Globalisierung und Good Governance.
In die wissenschaftliche Diskurspraxis rückt somit die zugegebenermaßen zugespitzte Kontroverse um den politischen Absentismus der Linken einschließlich des linksliberalen Milieus mit dem Hinweis auf deren Agonismus auf der einen Seite und die Verteidigung des postindustriell-aufgeklärten Liberalismus in Europa und außerhalb des Kontinents auf der anderen. Der enorme, durch internationale Güterproduktion und Arbeitsteilung befeuerte Überhang an Objektivität liefert dem Populismus den ideologischen Rohstoff, der die Individualität um den Preis des Identitätsverlustes zu bedrohen scheint. Der erkenntnistheoretische Zusammenhang von Objektivität und Subjektivität, d.h. historisch-empirischer Faktizität und subjektiver Befindlichkeit spiegelt sich in den Schattierungen des Populismus gleichwie in den Reaktionen auf dieses alte Phänomen. Eine Politik des Sozialen muss sich dieser Dialektik ebenso stellen wie anti-populistische Aktivitäten in den Arenen der sich schrittweise konstituierenden Weltgesellschaft.
Zu den Beiträgen im Einzelnen
Helga Cremer-Schäfer analysiert die Politikform des Populismus und seiner konstituierenden Strukturmomente. Dabei nennt sie die Identitätspolitik, die wiederstreitende Interessen unter der nationalen Einheit überdeckt, die Nutzung von Feinden, von Krisen und der sozialen Angst, sowie die Konstruktion eines populistischen Subjekts in Form der Gefolgschaft. Vor diesem Hintergrund gelingt ihr die heuristische Identifizierung bestimmter Etiketten, die in den Diskursen liberaler deutschsprachiger Tageszeitungen virulent sind. Diese betreffen die Gefühle im Kontext populistischer Strömungen ebenso wie die Identifizierung der Adressatinnen und Adressaten, z.B. die 'Abgehängten', aber auch Diagnoseetiketten, was diesen Adressaten fehle, sowie schließlich Etiketten, wie diesen Defiziten begegnet werden soll.
Unter Rückgriff auf erkenntnistheoretische Überlegungen zum Objekt-Subjekt-Verhältnis diskutiert Friedhelm Schütte die Banalität des Populismus als Maskerade im politischen 'Kampf um Hegemonie' (A. Gramsci). Er bedient sich der 'sozialen Welt', mithin objektiver Gegebenheiten und subjektiver Befindlichkeiten als eines politischen Rohstoffs, mitunter schamlos. Populismus, so die zentrale These, agiert in den einzelnen gesellschaftlichen Arenen resp. 'sozialen Räumen' nicht nur formal unterschiedlich, und zwar historisch wie aktuell, sondern er zehrt vor allem von der neuen Unübersichtlichkeit der 'sozialen Welt' im Zeitalter von Big Data. Im Anschluss an die Arbeiten von Oskar Negt und Alexander Kluge sowie Pierre Bourdieu demonstriert der Beitrag in zwei kurzen Exkursen ('Bildung & Erziehung'; 'Facharbeit und industrielle Produktion') zum einen die Vielschichtigkeit populärer Agitation in ausgewählten Sozialräumen, zum anderen formuliert er theoretische Anforderungen an eine 'Politik des Sozialen'.
Eine erneute Lektüre von Ernst Blochs "Erbschaft dieser Zeit" nehmen Manfred Kappeler und Michel May zum Anlass, das Phänomen Populismus im neuen Kontext zu diskutieren. In Konfrontation mit einer nachgetragenen Replik von Oskar Negt und Alexander Kluge zu Blochs epochemachenden Buch gehen sie der Frage nach den Widersprüchlichkeiten des Kapitalismus sowohl in den 1930er Jahren als auch mit Blick auf die AfD und dem virulentem Rechtspopulismus nach. Die Dialektik von Ungleichzeitigem und Gleichzeitigem gerät den Autoren zum theoretischen Horizont und führt sie zu einem Bündel noch zu klärender Fragen. Während der theoretische Diskurs die gesellschaftstheoretischen Einlassungen von Negt und Kluge aufgreift - insbesondere die soziale Welt als politischen "Rohstoff" zu begreift, deren sich populäre Bewegungen fortwährend bedienen - zielt die Benennung offener Fragen u.a. auf angemessene Aktions- und Reaktionsformen sowohl im privaten Bereich als auch in der öffentlichen Arena.
Joachim Weber führt anhand der Inaugural Address von Trump die Identifizierung eines Teils der Bevölkerung als 'das Volk' vor, verbunden mit der De-Thematisierung aller anderen. Der Erklärungsversuch anhand des Motivs des Ressentiments gelingt dabei an zentraler Stelle nicht. Denn zum Ressentiment nach Nietzsche gehört eine moralisierende Sklavenmoral, während sich aktuelle populistische Strömungen meist bewusst als political uncorrect verstehen. Eher gelingt die Einbettung populistischer Rede in einen Ausdruck von Verachtung. Anders als der Hass, der im Kontakt bleibt, nimmt die Verachtung diejenigen, die nicht dazugehören, wenn überhaupt dann nur peripher wahr und unterminiert dadurch in höchst effektiver Weise das Politische.
Rudolph Walther beobachtet die jüngeren Entwicklungen in Frankreich nicht unter Nutzung des Begriffs Populismus, sondern unter Weiterentwicklung des marxschen Begriffs des Bonapartismus. Es gelingt ihm vor dem Hintergrund einer sorgfältigen Analyse der Reden und Interventionen von Macron dessen spezifische Regierungstechnik vorzuführen und klassifiziert diesen als "Bonapartismus light" bzw. als "demokratisch kostümierten" Bonapartismus. In diesem Zusammenhang geht er auf Macrons Strategie nichtssagender Rede an das Volk ein, gepaart mit geschickter "Entbeinung des Parlaments" im Kontext autoritärer Strategien sowie typisch neoliberalen Sanierungsabsichten. Doch dieser spezifische macronsche Bonapartismus ist alles andere als Macrons eigene Erfindung, sondern stellt nur die Realisierung eines demokratischen Bonapartismus dar, wie ihn die französische Verfassung vorsieht.
Entwicklungspolitik als globale Arena und 'soziale Welt' im Lichte populistischer Tendenzen zu interpretieren und die öffentliche Rede einzelner Akteure zu hinterfragen, steht im Zentrum des Beitrags von Theo Rauch. In den Blick gerät nicht nur, wie zu vermuten, eine von Polyvalenz gekennzeichnete politische Arena, sondern vielmehr ein hybrides Geflecht von Interessen, Weltanschauungen sowie symbolischen Kämpfen um Einfluss und Anerkennung. Globalisierung in Form von bspw. "Strukturanpassungsprogrammen" einerseits sowie die Etablierung neoliberaler Politik andererseits liefern der Analyse den Rahmen, für die rhetorische Ambivalenz von rechts- und linkspopulistischer Rede in diesem, weitgehend ausschließlich medial vermittelten 'sozialen Raum'. Der Einblick in die exterritoriale Arena "Entwicklungspolitik" mündet in der Feststellung: Die 'echten' Fakten und internationalen Zusammenhänge werden im "Kampf um Diskurshoheit" mittels Komplexitätsreduktion systematisch ausgeblendet.
Die Redaktion