Der oder die Sozialstaat? Doing Gender europäischer Wohlfahrtsregime

Editorial

Die scheinbare Selbstverständlichkeit der von der Natur vorgegebenen Polarisierung zwischen denjenigen, die Kinder gebären, und denjenigen, die sie zeugen können, ist durch den Diskurs um die Ordnung der Geschlechter, wie er hier in Europa zunächst seit den siebziger Jahren von feministischer Seite, seit den achtziger Jahren aber auch von Seiten aufgeklärter Männer vorangetrieben wurde, zumindest etwas angekratzt worden. Im Rahmen der Frauen-, aber auch der Schwulenbewegung entwickelten sich die vielfältigsten Initiativen, welche jeweils auf ihre Weise versuchten, an den Machtverhältnissen zwischen und innerhalb der Geschlechter etwas zu verändern und ein Mehr an menschlicher Verwirklichung und Emanzipation zu erkämpfen.

War die neue Frauenbewegung in den Anfangsjahren mit ihrer Betonung von "Autonomie" und ihrer kleinräumigen Politik außer- und unterhalb der Ebene staatlicher Institutionen mehrheitlich ausgesprochen staatsfremd, wenn nicht gar staatsfeindlich, so hat sich diesbezüglich in den letzten zwanzig Jahren ein geradezu rasanter Wandel vollzogen. Mittlerweile scheint es, als habe sich die Frauenbewegung aufgelöst in staatlich finanzierte Frauenprojekte, Gleichstellungsstellen etc. - und eine Männerbewegung, die diesen Namen verdienen würde, hat es zumindest im Bereich der Heteros sowieso nie gegeben. Vielmehr pflegten die Protagonisten von Jungenarbeit, Männerzentren und Männerbildung seit Beginn ein Image von Professionalität und schielten unverhohlen auf staatliche Fördertöpfe. Dass sich Frauenpolitik heute substantielle Verbesserungen für das weibliche Geschlecht vor allem von der Mitwirkung an und der Einwirkung auf staatliche Politik verspricht, lässt sich in diesem Zusammenhang sicher auch als ein Reifungsprozess verstehen - als eine Professionalisierung von Frauenpolitik, die über die beschränkten Anfänge der neuen Frauenbewegung hinausgewachsen ist und sich dem "Ganzen" zugewandt hat.

Ausdruck findet dies in jenen Bemühungen auf legislativer und politisch-institutioneller Ebene, die im Anschluss an die Weltfrauenkonferenz in Peking von 1995 als "Gender Mainstreaming" firmieren. Durch den Amsterdamer Vertrag von 1996 zum alle EU-Staaten verpflichtenden Prinzip geworden, gilt Gender Mainstreaming seitdem als die zentrale "Top-Down-Strategie". Ziel ist, die Entwicklung, Organisation und Evaluierung von politischen Entscheidungsprozessen und Maßnahmen so zu betreiben, dass in jedem Politikbereich und auf allen Ebenen die Ausgangsbedingungen und Auswirkungen auf die Geschlechter berücksichtigt werden, um so auf eine tatsächliche Gleichstellung von Frauen und Männern hin zu wirken.

Mit dem vorliegenden Heft der WIDERSPRÜCHE greifen wir diese Intention insofern auf, als die verschiedenen Beiträge des Schwerpunktes sich alle mit der Frage auseinandersetzen, in welcher Weise die verschieden ausgeprägten Regimes von Wohlfahrtsstaaten im europäischen Raum zur Produktion und Reproduktion bestimmter Geschlechterverhältnisse beitragen. Dass die Beiträge aber zugleich auch umgekehrt die Frage stellen, wie diese durchaus unterschiedlichen Regime europäischer Wohlfahrtsstaaten ihrerseits in spezifische Geschlechterverhältnisse eingebunden sind, verdeutlicht, dass wir analytisch ebenso wenig wie politisch-praktisch einer allzu etatistisch verengten Sichtweise anhängen, was beim Gender Mainstreaming durchaus eine Gefahr ist.

Die Fokussierung auf den Zusammenhang von Geschlecht und Sozialstaat beinhaltet also eine strategische Entscheidung. Vorbeugen wollen wir einer neuen "feministischen Staatsillusion", die das, was ihr in den Niederungen der Zivilgesellschaft nicht gelungen ist, nun über "den Staat" durchzusetzen versucht. Und dies ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, wo die Einheitlichkeit und Handlungsfähigkeit "des Staates" sowohl empirisch wie theoretisch zur Disposition steht. Empirisch evident ist die Herausverlagerung von Entscheidungsprozessen nicht nur in die Hinterzimmer lokaler Machtkartelle, sondern immer mehr auf supranationale Ebenen, vor allem in die Konzernzentralen der 'Global Players'. Theoretisch reflektiert sich dies in den avancierten Politikanalysen, die "den Staat" auflösen in eine diskursive Arena, eine Verdichtung von Widersprüchen, ein Netzwerk von ökonomischen, politischen, bürokratischen und kulturellen Machtformen oder ein als "Empire" zu kennzeichnendes (bio)politisches und ökonomisches Regime von Kapitalismus.

So könnte die Re-Orientierung von Frauenpolitik auf den Staat einen ähnlichen Ausgang nehmen wie die Geschichte vom Hasen und vom Igel: In dem Augenblick, in dem die Frauen auf den Staat als Akteur von Gleichstellung, Anerkennung und Emanzipation setzen, zerfällt dieser in Diskurse, Arenen und eine Vielzahl von Machtzentren, die sich deren Partizipationsbegehren erneut entziehen. Eine geschlechterpolitische Auseinandersetzung über das Verhältnis zum Staat - vor allem aber zu jener staatlichen Arena, welche als Sozialstaatsregime Kontur gewinnt - scheint also mehr als geboten, um nicht nur die Entwicklung der Frauenbewegung, sondern auch die der Männerprojekte und der staatlichen Gleichstellungspolitik reflexiv einzuholen.

Es gibt aber noch weitere Gründe für diese Auseinandersetzung. Zwar haben wir in den beiden "Männerheften" der Widersprüche (Nr. 56/57 und 67) schon versucht, über die lange Zeit in diesem Bereich dominierende Frage der Gewalt im Geschlechterverhältnis hinaus auch auf den ersten Blick eher unspektakuläre und alltägliche Momente der Konstruktion von Geschlecht in den Blick zu nehmen. Allerdings blieben dabei die Strukturprinzipien von Sozialstaat, in deren jeweilige Ausformung spezifische Vorstellungen von Männern und Frauen sowie Entwürfe über ihr Verhältnis zueinander eingelassen sind, weitgehend unberücksichtigt.

Dies beschreibt auch die Funktion und Zielrichtung des EU-Vertrags von Maastricht und seiner Regelungen für den öffentlichen Sektor: Deregulierung, Dezentralisierung und Privatisierung (vgl. Europäische Kommission 1997: 85f.). Ein weiterer Schritt in Richtung Handelsliberalisierung sollte das OECD-Projekt Multilateral Agreement on Investment (MAI) werden, das zwar vorläufig am internationalen Protest scheiterte, seine Fortsetzung aber in den gegenwärtigen Verhandlungen der WTO um ein General Agreement on Trade and Services (GATS) findet.

Ebenso wenig haben wir uns bisher mit der aktiven Herstellung von Geschlecht in der Alltagspraxis Sozialer Arbeit beschäftigt. Die dort im Rahmen gesetzlicher Bestimmungen und Durchführungsverordnungen professionell Tätigen interpretieren in ihren Entscheidungen und Handeln das Geschlechterverhältnis immer wieder neu und gestalten es damit auch aus. Die Herausnahme eines Kindes aus einer Familie, weil es dort nicht richtig versorgt wird, oder die sozialstaatliche Unterstützung einer Frau gegen ihren gewalttätigen Ehemann ist ebenso sehr "Doing Gender", wie die Ausgestaltung des Rentensystems oder die Schaffung von Kindergartenplätzen. Für die Verfestigung oder Verflüssigung eines bestimmten Geschlechterverhältnisses dürfte dies alles mindestens ebenso bedeutsam sein wie die von Judith Butler analysierten Bezeichnungspraxen.

Einen ersten produktiven Ansatzpunkt zur Klärung entsprechender Fragen scheinen uns jene Studien zu bieten, die unterschiedliche Sozialstaatsregime vergleichen. Daraus lassen sich zumindest dreierlei Erkenntnisse gewinnen.

  1. Die Differenzen machen zunächst einmal deutlich, dass das Geschlechterverhältnis ebenso wie der Sozialstaat in vergleichbaren Gesellschaften sehr unterschiedlich ausgeprägt sein kann. Wir können als weder von "dem Geschlechterverhältnis" noch von "dem Sozialstaat" mehr sprechen.
  2. Weiter ist interessant, welche Kräfte für die unterschiedlichen Ausprägungen verantwortlich gemacht werden können: Sind es unterschiedliche Kulturen des Geschlechterverhältnisses, oder strategische Situationen, oder die Stärke bzw. Schwäche der Männerbünde oder der Frauenbewegungen? Damit verknüpft ist selbstverständlich auch die Frage nach den politischen Handlungsmöglichkeiten.
  3. Schließlich können wir Erkenntnisse gewinnen über die strukturierende Kraft der Wohlfahrtsregime bei der Herstellung, Verfestigung und Veränderung bestimmter Geschlechterverhältnisse über die aktive Praxis der Konstruktion von "Geschlecht" in der Sozialen Arbeit.

Zu den Beiträgen im Einzelnen

In den ersten beiden Beiträgen wird das Wohlfahrtsregime Deutschlands zum einen von Ilona Ostner mit dem Englands, zum anderen von Mechthild Veil mit dem Frankreichs verglichen. Dabei geht es nicht nur darum, jeweils herauszuarbeiten, wie das Geschlechterverhältnis durch die unterschiedlichen Regime in spezifischer Weise mitgeprägt und ausgeformt wird. Mit der historischen Rekonstruktion der politischen Konstellationen, die zur Entstehung und Veränderung geschlechterpolitisch relevanter sozialstaatlicher Regelungen in den drei Ländern geführt haben, soll auch verdeutlicht werden, in welcher Weise die jeweiligen Sozialstaaten zu einer Arena der Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Interessenlagen der Geschlechter geworden sind. Es geht in den beiden Beiträgen also immer auch um die Einbettung der unterschiedlichen Regime in die jeweiligen geschlechterpolitischen Bewegungen in ihren inhaltlichen Orientierungen, Kräfteverhältnissen und Koalitionen.

Maria Bitzan beleuchtet mit ihrem Beitrag über Geschlechterkonflikte und Soziale Arbeit stärker das Doing Gender in der Praxis der Professionellen. Diese entfaltet sich - so ihre These - auch bezüglich des Geschlechterverhältnisses im Wesentlichen als Normalisierungsarbeit. Der darin mitgeschaffene Verdeckungszusammenhang wird in dem Beitrag vor allem an der Leugnung von Ungleichheit verdeutlicht, gerade auch in deren Rückwirkung auf die Selbstwahrnehmungen von Frauen. Bitzan plädiert für regionale sozialpolitische Öffentlichkeiten, in denen die Inhalte geschlechterpolitischer Ungleichheiten thematisiert werden können, sich aber auch eine andere Bezugnahme von Frauen aufeinander zu entfalten vermag.

Schließlich untersucht Michael May in seinem Beitrag das Verhältnis zwischen Sozialstaat und dem, was in der Theoretisierung des Geschlechterverhältnisses "hegemoniale Männlichkeit" genannt wird. Dabei kommen nicht nur die historische Entwicklung und die aktuellen Veränderungen dieses Verhältnisses in den Blick. Dem Beitrag geht es ganz zentral auch darum, aus der Analyse Perspektiven für eine antihegemoniale Politik des Sozialen zu entwickeln.

Darüber hinaus möchten wir darauf hinweisen, dass in diesem Heft ein Beitrag von Roger Dale zu "Globalisierung, Bildung und Migration" die in Heft 83 angekündigte Beitragsreihe eröffnet, mit der wir die Diskussion zu dessen Schwerpunktthema "Zur globalen Regulierung des Bildungswesens" weiterführen wollen.

Die Redaktion