200 Jahre Karl Marx - das Alte im Neuen; das Neue im Alten
Editorial
"Eine halbwegs komplette Kenntnis des Marxismus kostet heut, wie mir ein Kollege versichert hat,
zwanzigtausend bis fünfundzwanzigtausend Goldmark
und ist dann ohne die Schikanen.
Darunter kriegen Sie nichts Richtiges,
höchstens so einen minderwertigen Marxismus
ohne Hegel oder einen, wo der Ricardo fehlt usw."
(Bertolt Brecht, Flüchtlingsgespräche)
"Nur wenn, was ist,
sich ändern läßt,
ist das, was ist, nicht alles."
(Adorno, Negative Dialektik)
"Die materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergisst, dass die Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muss. Sie muss daher die Gesellschaft in zwei Teile - von denen der eine über ihr erhaben ist - sondieren. Das Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung kann nur als revolutionäre Praxis gefasst und rationell verstanden werden" (Marx 1845: Thesen über Feuerbach, These 3; MEW Bd. 3: 5f.; Hervorhg. i.O.).
Diese These erinnert daran, dass wir unsere Geschichte selber machen, allerdings nicht aus freien Stücken, sondern im Kontext einer hochdynamischen, kapitalistischen Produktionsweise - also das, was Bourdieu als "Habitus" fasst -, die alles "was fest ist", letztlich auflöst. Versteht man die Frage nach der revolutionären emanzipatorischen Praxis als die, wie eine andere, kooperative und ökologisch nachhaltige Produktions- und Lebensweise praktisch entstehen kann, dann kann die Antwort nicht darin bestehen - gewaltsam oder durch Wahlen - die Kommandohöhen des Staates zu besetzen, sondern den Vorschein des Neuen schon im Alten - in Strukturen und Praktiken - zu suchen bzw. zu finden. Der gewaltige Überhang von Objektivität, das Verhältnis von toter und lebendiger Arbeit in der globalen Welt verlangt nach einem Studium und ist zugleich Antwort und Auftrag Kritischer Theorie in Marx' Tradition.
Die hiermit angezeigte Spurensuche muss sich gesellschaftstheoretisch qualifizieren, das "Geflecht des Ganzen" (Adorno) analysieren, um die Dialektik von objektiven Missständen und subjektiver Involviertheit im historischen Gang der Menschheit zu erfassen. Der Totalität der Produktivkräfte ist demnach die politische Idee "der Assoziation freier Individuen" sowie "eigensinniger Emanzipation" (Negt), aber auch eine gewisse Souveränität bzw. geistige Beweglichkeit im Umgang mit den historischen und aktuellen Phänomenen gegenüberzustellen.
Die Konstitution von Subjektivität, m.a.W. das verdeckte Projekt des Marxismus ist damit theoretisch wie politisch adressiert. Eine Theorie der Alltagspraxis im Umgang mit Ausbeutung, Populismus, Rassismus, Sexismus, Antisemitismus, ja der Subsumtion ausnahmslos aller Lebensbereiche unter das Kapital - befeuert von Big Data und einer weltumspannenden Informationstechnologie rückt somit ins Zentrum.
Die von Marx formulierte Naturdialektik beansprucht deshalb - insbes. im Zusammenhang mit der schrittweisen und unwiderruflichen Zerstörung der natürlichen Grundlagen der Menschheit, der Kreaturen überhaupt - eine neue Aufmerksamkeit. Nicht nur die Subjekt-Objekt-Dialektik kommt hierbei theoretisch zum Tragen, sondern auch die hegemoniale Kraft des Kapitalismus als (zunächst) bürgerlich-europäisches Projekt.
Vor diesem Hintergrund thematisieren die Beiträge dieses Heftes, dass es bislang offensichtlich immer so war, dass die ungeheure Flexibilität und Innovationsfähigkeit der kapitalistischen Produktionsweise jede Opposition und sogar jeden Widerstand sich einverleibte oder zerstörte (Lefebvre/Regulier), selbst mit Hilfe des bürgerlichen Strafrechts:
"Das Verbrechen, durch die stets neuen Mittel des Angriffs auf das Eigentum, ruft stets neue Verteidigungsmittel ins Leben und wirkt damit so produktiv wie strikes auf Erfindung von Maschinen. Und verlässt man die Sphäre des Privatverbrechens: ohne nationale Verbrechen, wäre je der Weltmarkt entstanden? Ja, auch nur Nationen?" (MEW 26.1: 364)
Will man aber die Vorstellung einer befreiten Gesellschaft als Verbund "befreiter Assoziationen" nicht aufgeben, dann ist - mit Ernst Bloch - das Unabgegoltene, das Latente im Alten aufzuspüren. Es ist daraufhin zu untersuchen, wie die "Dialektik der Ordnung" (Bauman) in eine Richtung gedrängt werden kann, die das Latente sichtbar macht und die unterdrückte Möglichkeit einer anderen Welt als Utopie verteidigt. Der "Alltagsverstand" (Gramsci) mit seinen widersprüchlichen Bewusstseinslagen wird hierbei ebenso zu decodieren sein wie die Vielfalt der Zugänge zum Marx' Oeuvre zu thematisieren ist, einschließlich dessen Reduktion auf die ökonomische Seite der Kapitalismusanalyse.
Deshalb sollen auch Beiträge aufgenommen werden, die die Historizität von Marx' Projekts in den Blick nehmen. Sowohl die "Anerkennung der historischen Schranke" (Negt) des Marxismus ist damit angesprochen als auch dessen theoretische Kontinuität bis hinein in die Kritische Theorie der bürgerlichen Gesellschaft von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer. Es geht mit der Marx-Rezeption nicht um Verabschiedung - vielmehr ergeht hiermit der Aufruf zum Weiterdenken in kritischer Absicht, m.a.W. den Marxismus nicht "als überholten Irrtum" (Horkheimer) abzutun.
Die Rezeption verlief (bekanntlich) sehr einseitig und als politisches Projekt in einer instrumentalisierten Variante, die Mord und Terror sowie die "Verflachung des Marxismus" (Korsch) zur Konsequenz hatte. Marx ist dafür weder verantwortlich noch gibt sein, in Kooperation mit Engels entwickelter historisch-materialistischer Ansatz dies her. Gleichwohl hat sich die Marx-Rezeption der Instrumentalisierung des Marxismus eingedenk der Opfer, der Erniedrigungen und der zerstörten Wünsche zu vergewissern.
Angesichts des enormen Grades von Vergesellschaftung, die das politische Konstrukt 'Nation' und 'Heimat' erodieren lässt - der massiven Digitalisierung der Arbeits- und Lebenswelt auf allen Kontinenten, geprägt von Ausbeutung und Unsicherheit, suchen die Beiträge dieses Heftes Antworten auf folgende Fragen:
- Wie verändert sich das Verhältnis von Produktion und Reproduktion?
- Wie verändert sich der Kampf um Hegemonie?
- Welche Veränderungen erfahren die Geschlechterverhältnisse in diesen Auseinandersetzungen?
- Welche Erfahrungen grundieren die Konstitution von Subjektivität in der Epoche der globalen Fabrik?
Wir knüpfen hiermit insoweit an die Widersprüche-Thesen zur Politik des Sozialen, "Verteidigen, überwinden und kritisieren zugleich" (Heft 11, 1984) in der Absicht an, die "Philosophie der Praxis" (Gramsci) auf alle gesellschaftlichen Arenen und Akteure*innen - weltweit - zu übertragen, um die "immanente Rationalität" (Adorno) kapitalistischer Produktionsverhältnisse in der Diskussion zu halten. Inklusive Solidarität und grenzenloser Warenverkehr markieren weiterhin die Landmarken der kapitalistischen Weltgesellschaft. Sie verweisen damit offensichtlich auf die alte Frage nach der Rationalität dieser (Welt-)Gesellschaft.
Zu den Beiträgen im Einzelnen
Seit der letzten Krise des Kapitalismus, die bislang ja immer nur die vorletzte war, ist Marx wieder 'in' - in Feuilletons und Gesellschaftsanalysen. Bei marxistischen Analytikern*innen findet sich zudem die These, dass die Analyse von Marx nie zutreffender als heute war, denn jetzt lasse sich - besser denn je - erkennen, was es mit den Gesellschaften, in denen kapitalistische Produktionsweise herrscht - auch vor dem Hintergrund der These von den "varieties of capitalism" -, auf sich habe. Wichtig dabei ist, so der Ausgangs- wie Endpunkt von Heinz Sünker, die Marxschen Analysen zu Philosophie, Politik und politischer Ökonomie in ihrer Gesamtheit über seine Lebensspanne, also zu Praxisphilosophie und Kritik der politischen Ökonomie, ernst zu nehmen. Dies meint, Kapitalismus als spezifische Form der Bestimmung des Verhältnisses von Politik und Ökonomie zu verstehen. 'Vorgelagert' ist dem die These vom historisch besonderen Vergesellschaftungsmodus, damit der Strukturierung des gesellschaftlichen Zusammenhangs sowie der Positionierung der Einzelnen in gesellschaftlichen Kontexten, denen die kapitalistische Formbestimmtheit eingeschrieben ist, mit Konsequenzen - in der Folge von Vermarktung und Warenförmigkeit - für Strukturen, konkrete Lebensbedingungen und Organisationen. Erkennbar wird zudem die Konsequenz des Versuchs der Kapitalisierung aller Lebensverhältnisse. Deutlich wird damit zugleich die Notwendigkeit, die Überwindung von Kapitalismus als emanzipatorisches gesellschaftliches Projekt in der Gestalt einer Gesellschaft der Freien und Gleichen zu denken.
Marx in Erinnerung rufen sowie das Verhältnis von Kapital und Arbeit im Kontext einer disparaten 'Zukunft der Arbeit’ in der 'globalen Fabrik' zu verorten, ist Intention des Beitrags von Friedhelm Schütte. Nicht die objektive Entwicklung steht im Vordergrund, sondern die subjektive - die lebendige Seite der Arbeitskraft und dessen Vergesellschaftung. Um die Konstitution von Subjektivität diskursiv anzugehen und theoretisch im Marx-Diskurs einzubetten, wird als Einstieg eine Marx-Philologie vorgenommen, um die einseitige Marx-Engels-Rezeption nach dem 1. Weltkrieg zu erhellen. Im Zentrum des Beitrag steht zum einen das Marx' Maschinen-Kapitel (MEW Bd. 23), zum anderen die 'digitale Aufrüstung' der Welt. In den Blick gerät somit die digitale 'Maschinerie' auf der Basis 'immaterieller' Arbeit und global-gesellschaftlicher Arbeitsteilung. Die Frage nach der immanenten Rationalität von Gesellschaft und Arbeitsvermögen, m.a.W. der Grenze der Konstitution von Subjektivität wird abschließend mit einem 'Diskurs der Wünsche' konfrontiert.
Silvia Kontos Beitrag zielt auf den 'Eigensinn des Reproduktionsbereichs' in der Absicht, einen 'Begriff vom Ineinander des Unvereinbaren' zu diskutieren. In vier Etappen wird der Kontext von Klassenherrschaft, Sexismus und Rassismus abgeschritten und die darin eingelassen Herrschaftsverhältnisse diskursiv aufgezeigt. In den Blick genommen wird erstens eine historische Genese des feministischen Post-68er-Diskurses und dessen einzelne Etappen, zweitens eine konzise Rezeptionsgeschichte feministisches Theoriearbeit (u.a. Hegemonie-, Regulationstheorie), die sich im Kern des Eigensinns von Reproduktionsarbeit vergewissert und eine Kritik am Subjektbegriff impliziert. Die 'Interferenz' von Herrschaftsverhältnissen ist damit ebenso adressiert wie das 'Problem einer übergreifenden Perspektive'. Im Zentrum jedoch steht drittens - historisch und tagespolitisch (Me-Too-Bewegung) grundiert - die Reflexion feministischer Begrifflichkeiten und theoretischer Zusammenhänge sowohl in der Arena der Politik als auch im Diskurs des Feminismus selbst. Die in Politik und Theorie aufscheinende Widersprüchlichkeit und Unschärfe von Geschlechterpolitik nimmt Kontos abschließend zum Anlass, eine strukturell neue Bündnispolitik einzuklagen.
Die Programmatik des Beitrags von Horst Müller wird bestimmt von Argumenten zur 'inneren Dialektik und Zukunft der Gesellschaft'. Müller fokussiert hiermit den klassischen Sozialstaat, die aktuelle Sozialpolitik und in kritischer Absicht den 'Sozialkapitalismus'. In den Mittelpunkt rücken damit die gängigen 'Reproduktionsschemata', aber auch Frage des 'gesellschaftlichen Werthaushalts' sowie namentlich das Finanz-, Steuer- und Justizsystem. Unter Rückgriff auf Marx wird eine 'Wert-, Reproduktions- und Transformationsanalytik' vorgestellt, die nach verborgenen Alternativen Ausschau hält. Ein interdisziplinärer Ansatz wird hierbei verfolgt. Argumentation und Thesen münden in der Forderung nach einer 'positiv orientierten und operativen Sozioökonomie'. Diese zielt einerseits auf einen Umbau 'sozialstaatlicher Institutionalitäten und Leistungen' i.S. einer Politik des Sozialen, m.a.W. auf eine weitreichende Generalüberholung des bundesdeutschen Sozialstaates und dessen disparaten Regulierungsmodi, andererseits auf neue Kooperationen, u.a. zwischen Politik und Wissenschaft zur Umsetzung eines 'integralen praxiswissenschaftlichen Paradigmas'.
Den jüngsten Bericht des Club of Rome mit einer Kapitalismuskritik konfrontieren, ist Anspruch des Beitrags von Ulrich Duchrow. In zwei Schritten, die sich Marx’scher Argumente bedienen, wird der Frage nachgegangen, welche blinden Flecken der Club of Rome in seiner umfangreichen Studie übersehen resp. hinterlassen hat und wo eine Kritik anzusetzen hätte. Ausgehend vom ökologischen Zustand der Welt und einer Auseinandersetzung mit dem Gebaren des Finanzkapitalismus plädiert Duchrow für die 'Überwindung des Kapitalismus', die sich allein schon 'aus ökologischen Gründen' aufdrängt. Zur Beweisführung der blinden Flecken werden drei Teile des Berichts analysiert und u.a. die Wachstumsideologie, acht Prinzipien des regenerativen Kapitalismus sowie ein extrovertierter Individualismus in den Blick genommen. Der aktuelle Zustand der Welt kann somit besichtigt werden. Vor diesem Horizont wird unter Rückgriff auf die Marx' Warenanalyse, Aristoteles und Luther ein Szenario entfaltet, das die 'Veredelungsprozesse von Menschen' anklagt und nach Pfaden einer 'notwendigen Transformation' sucht.
Der Beitrag von Tove Soiland greift den Diskurs um die Formen 'primitiver Akkumulation' auf, um in Anschluss an David Harvey das 'Theorem fortdauernder Landnahmen' im Feld sozialer Reproduktion zu diskutieren. Erklärter Anspruch des Beitrags ist es, zum einen eine 'Erweiterung der marxistischen Akkumulationstheorie' vorzulegen, zum anderen die von Rosa Luxemburg angestoßene Debatte zur erweiterten Akkumulation im neuen Kontext zu theoretisieren sowie für die Externalisierung der Kosten gesellschaftlicher Reproduktion zu sensibilisieren. Zu diesem Zweck wird die jüngere Luxemburg-Rezeption vorgestellt, namentlich die Lesart der Bielefelder Soziologinnen, die Ausdehnung des Reproduktionssektors im Rahmen des Postfordismus dargelegt sowie die 'neue Landnahme' am Beispiel von Care-Arbeit und Care-Ökonomie (allg. personenbezogene Dienstleistungen) problematisiert und schließlich viertens ein Fazit gezogen, das Luxemburgs Imperialismustheorie mit der 'Artikulation unterschiedlicher Produktionsweisen' im Zentrum als theoretisch zentral erachtet und zur Basis eines feministischen Ansatzes sozialer Reproduktion erklärt.
Die Redaktion