Zur Produktion von Rassismus

Editorial

Beleidigung, Diskriminierung, Verfolgung, Tötungsversuche - ja selbst die Ermordung von Menschen, die keine weiße Hautfarbe haben, die keinen deutschen Paß besitzen - all dies ist furchtbarer und erschreckender alltäglicher Bestandteil der Gesellschaft der vergrößerten Bundesrepublik geworden - genauso wie unverhohlender Antisemitismus.

Pogrome gegen Flüchtlinge finden unter den Augen Beifall klatschender Zuschauer statt. Für die Täter wird mehr oder weniger ein hartes Durchgreifen des Rechtsstaates gefordert, die polizeilichen Reaktionen werden zur Diskussion gestellt - für die Opfer fallen ein paar mitleidige Worte. In vielen veröffentlichten Meinungen erscheint nicht die Gewalt gegen Nicht-Deutsche als das gesellschaftliche, politische Problem, sondern nach den Reaktionen der politischen Klasse scheint das Problem bei denjenigen zu liegen, die angegriffen werden. Wären sie nicht da, bzw. wären sie in geringerer Anzahl da oder hätte "man" mehr Zeit gehabt, sich an sie zu gewöhnen, gäbe es die Gewalt nicht. So erscheinen nicht die Opfer, sondern die Täter als Opfer. Da es sich nicht einfach um x-beliebige Gewalt handelt, daß es nicht nur Jugendliche sind, die zuschlagen wollen und zuschlagen, wird schlicht verleugnet.

Es wird sich auf die vorgebliche Suche nach Ursachen begeben und fast alle Funde dienen der Entlastung der Täter: sie sind sozial entwurzelt, entwertet, perspektivlos. Manche - auch sozialwissenschaftliche - Erklärungsversuche für die rassistische Gewalt stehen in der Gefahr, als Legitimationssprüche auf Seiten der Täter, der Dulder und politischer Nutznießer gebraucht zu werden.

Es wird über Gewalt gegen Fremde geredet. Aber sind die, die von den Tätern angegriffen werden, ihnen wirklich "fremd"? Wissen sie nicht vor dem ersten Schlag genau wie die Fremden sind: "die Roma", "die Polen", "die Afrikaner", "die Türken"... Existiert nicht längst vor dem Losschlagen ein wirkungsvolles Bild und eine soziale Zuschreibung.

Und ist dieses Bild nicht wesentlich konstruiert auf der Basis zweier Ungleichheiten? Menschen, die aus anderen Staaten hierherkommen und nicht als Deutsche gelten, sind erstens keine gleichen Rechtssubjekte, sobald sie die Grenze überschritten haben. Zweitens wollen sie etwas von diesem Staat, ein Recht auf Asyl, Schutz, Unterkunft und menschenwürdiges Auskommen - ohne daß sie hier irgendwelche der gesellschaftlich gebotenen "Pflichten" erfüllt hätten. Wären nicht (bürger)rechtliche Gleichheit und schlichte Anerkennung des Existenzrechts notwendige Voraussetzungen, um mit Differenzen umgehen zu können?

Dies ist für die alte BRD und auch für die alte DDR kein neues Problem, jedoch hat die Brutalisierung zugenommen und die (gewalttätige) Ausgrenzung und ihre ideologische Rechtfertigung gewinnt an öffentlichem Raum und Zuspruch.

1983 brachte die WIDERSPRÜCHE-Redaktion ein Heft heraus unter dem Titel "Ausländer - Sündenböcke werden gemacht". Es ging uns dabei vor allem darum, welchen Anteil die Institutionen und professionellen Akteure im Gesundheits-, Bildungs- und Sozialbereich an dieser Sündenbockkonstruktion haben.

Dieser Blickwinkel wird auch in diesem Heft 1992 wieder eingenommen, wenn wir Momente der Produktion von Rassismus in Deutschland betrachten.

Wenn wir heute von "Rassismus" reden, heißt das nicht, daß wir von der Existenz von "Rassen" ausgehen. Wir meinen damit eine soziale Konstruktion, in der bestimmte Gruppen von Menschen angeblich natürliche oder kulturelle Eigenheiten zugeschrieben werden, die sie gegenüber der "Normal"-Bevölkerung der "Einheimischen" herabsetzen und zum minderwertigen Anderen machen.

Der Gebrauch des Wortes Rassismus in der deutschen Sprache ist sicher nicht einfach, da immer die Erinnerung an die nationalsozialistische Rassenlehre mitschwingt. Doch Biologismus ist im modernen Rassismus weitgehend überholt: von "kulturellen Identitäten und Werten" bestimmter Völker und Nationen ist die Rede und Kultur bekommt den Status quasi angeborener, unveränderlicher Eigenschaften, und die "Durchmischung" der Kulturen kann so als Gefahr konstruiert werden.

Rassistische Konstruktionen sind vielschichtig und die Produktion von Rassismen hat viele Orte: sie reicht von den kleinen, alltäglichen Herabwürdigungen über die öffentlich gesprochenen Wörter und die politische Sprache, die rechtlichen Definitionen bis hin zu den wohlmeinenden fürsorglichen Formen des Rassismus, in denen die als "Fremde" Konstruierten ebensowenig als Subjekte auftauchen. Wer zeichnet alles an diesen Bildern mit? Welchen Anteil haben die "schnellen Antworten" pädagogischer Art? Warum gewinnen rechte Ideologie, deutscher Nationalismus, Gewalt gegen Nicht-Deutsche gerade jetzt soviel an öffentlichem Raum? Welche sozialpsychologischen Prozesse tragen die Ausgrenzungsbedürfnisse gegen "Fremde"?

Die Wucht, mit der auf Ausländer losgegangen wird, ist sicherlich auch Ergebnis dessen, was leichtfertig als "Normalisierung" bezeichnet wurde: das Hoffähigmachen und Hoffähigwerden nationaler Interpretationen in der politischen Klasse schon der alten BRD; und die Schlußstrichmentalität, die Relativierungssucht gegenüber den "12 Jahren" paart sich in der deutschen Vereinigung mit staatlich verordneter "antifaschistischer" Verdrängung des Faschismus. Die zwanghaft gewollte nationale Einheit versichert sich ihrer selbst im Schlag auf die Nicht-Deutschen im Land.

Welche gesellschaftlichen Akteure, welche politischen Kräfte brauchen den Rassismus wofür? Die Abschaffung des Grundrechts auf Asyl hat hierin eine eminent symbolische Funktion. In den Pogromen haben Teile der politischen Klasse den Punkt gefunden, an dem sie glauben, endlich "reinen Tisch" machen zu können. Pogrome werden zum "Druck der Straße" verharmlost und zur politischen Verhinderung weiterer Unmenschlichkeiten gibt man vor, das Mittel gefunden zu haben: die Verminderung derjenigen, die angegriffen werden, durch Abschaffung oder Änderung von Artikel 16 GG. In dieser Logik wird die Problemdefinition noch einmal kenntlich: es sind die Opfer. Nicht der Haß von Inländern auf Ausländer ist hier das Problem der Politik, sondern die Ausländer.

Zu den Artikeln im einzelnen:

Ute Gerhard von der Diskurswerkstatt Bochum untersucht die Verstrickung des politischen Diskurses "von oben" mit den rassistischen Übergriffen "von unten". Ihr geht es vorrangig um die diskursiven Verfahren der Asyldebatte, die mit ihren Stereotypen einen bestimmten Beitrag zum kollektiven Selbstverständnis der neuen deutschen Gesellschaft leistet. Der rassistische Diskurs erweist sich ihr als durchaus "funktionales Instrumentarium moderner Macht- und Regulationstechnologien". Durchgeführt wird diese Analyse beispielhaft anhand der Pogrome von Hoyerswerda und Rostock. Dabei offenbart sich, wie der staatliche Umgang mit Flüchtlingen genau jene Bilder als Realität konstruiert, die in der Sprache des Mediendiskurses beim Wort von der Asylantenflut mitassoziiert werden.

Rudi Leiprecht reflektiert die soziale Produktion von Rassismus und setzt sich kritisch mit den Erklärungsversuchen auseinander, die Rassismus v.a. als Ergebnis defizitärer Lebenssituationen begreifen. Solche Theorien haben auch Entlastungsfunktion für die Mehrheitsgesellschaft, die so das Problem des Ausländerhasses von sich abspalten kann. Verweise auf verschiedene empirische Untersuchungen belegen eindrücklich, wie rassistische Denk- und Handlungsmuster in Kernbereichen der Gesellschaft entstehen - bei den "Gewinnern" - sozusagen als "deutsche Wertarbeit".

Annita Kalpaka erläutert in ihren Überlegungen zur antirassistischen Praxis mit Jugendlichen einen sozialwissenschaftlichen Rassismusbegriff ohne Rassen. Sie setzt sich dabei mit den Begriffen von Gleichheit, Identität und Differenz auseinander. Für die praktische antirassistische Arbeit argumentiert sie gegen Ansätze einer "Kennenlernpädagogik", die die Bedingungen der rassistischen Aufnahmegesellschaft nicht mitbedenkt. Sie kann auch zeigen, wie gutgemeinte Ansätze, z.B. der "Ausländersozialarbeit" mit an der rassistischen Konstruktion von "Fremdheit" beteiligt sind. Ihre Kritik wendet sie in Bausteine einer antirassistischen Arbeit, die nicht mehr ein "Sonderaufgabenbereich" ist, sondern durchgehend in allen Arbeitsbereichen von Sozial- und Bildungsinstitutionen auftauchen sollte.

Zum Thema Auseinandersetzung mit antirassistischer Praxis gehört auch die Dokumentation des Hamburger Abenteuerspielplatzes Wegekamp. Sie begründen, weshalb sie eine akzeptierende Arbeit mit rechten Jugendlichen und Skins ablehnen. Zu Wort kommen nicht nur die Mitarbeiterinnen, sondern auch die 10 - 17 jährigen Nutzerlnnen des Abenteuerspielplatzes

Mit den allzuschnellen und eindimensionalen Antworten auf Rechtsextremismus und Fremdenhaß bei Jugendlichen, wie sie von Sozialpolitik und Sozialpädagogik angeboten werden, hat sich Niko Diemer in seinem letzten schriftlichen Text "Verliererproduktion" auseinandergesetzt. Die schnellen Antworten im vereinigten Deutschland bestehen ja im wesentlichen aus dem Ruf nach "Arbeit" und "Sozialpolitik". Er untersuchte hier vor allem die selektive Logik von Maßnahmen, die entgegen eigener Ansprüche erneut Kränkungen und Spaltungen produzieren, die geeignet sind, daß auch "Verlierer" sich mit den "Siegern" identifizieren und für rassistische Sündenbockkonstruktionen auf Basis nationaler Identitäten anfällig werden können.

Brigitte Scherer stellt sich unter Bedingungen zunehmender Fremdenfeindlichkeit die Frage, was es heißt, Deutsche zu sein. Dieser Frage gehl sie unter biografischen Gesichtspunkten nach und betrachtet das Verhältnis von "deutsch" und "fremd" anhand zweier historischer Daten: dem 9. November 1938 als Nacht des organisierten Pogroms gegen jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger und dem 9. November 1989, der Nacht der Maueröffnung. Mit beiden Erinnerungen an deutsche Geschichte kann sie zeigen, wie Menschen als "bedrohliche Fremde", d.h. als bekannte Bilder, konstruiert werden. Es existiert dann keine Offenheit mehr Anderen gegenüber, sondern "deutsche Identität" kann sich nur mehr in gewalttätiger Abgrenzung bilden. Theoretischer Hintergrund ihrer Argumentation ist die psychoanalytische Frage danach, was die Abwehr von "Fremden" damit zu tun hat, daß vieles in uns selbst fremd ist.

Diese sozialpsychologische Fragestellung verfolgt auch Gerhard Vinnai. Er zeigt, daß Nationalismus rechte, fremdenfeindliche Ideologien auch ein Ergebnis der Krise der (Neuen) Linken sind. Das Feld gesellschaftlicher Utopien und neuer kultureller Lebensentwürfe ist zu einer Leerstelle geworden, die national besetzt wird. Die sozialpsychologischen Prozesse, die Ausländer zu Haßobjekten werden lassen, analysiert er sowohl grundsätzlich wie auch anhand spezieller deutscher Bedingungen. Rassistische Gewalt wird von ihm u.a. als männliches Phänomen erkannt, das auf einem fragwürdigen Umgang mit der Geschlechterdifferenz beruht. Bei der Produktion von Rassismus ist ihm auch die politische Kultur Deutschlands wichtig, in der die Menschen mehr das Ja-Sagen als das Nein-Sagen lernen und in Belastungssituationen deswegen zu rücksichtsloser Gewalt neigen.

Helma Lutz behandelt die Konstruktion von Fremdheit in der (deutschen) Frauenbewegung. Ausgehend von einer Diskussion der Begriffe Rassismus und Sexismus setzt sie sich mit der These der Kulturellen Differenz auseinander, die ebenso abwertende und ausgrenzende Zuschreibungen enthalten kann wie biologische Rassenlehren. Als Beispiel einer modernen Fremdheitskonstruktion - nicht nur in der Frauenbewegung - stellt sie den Diskurs über "die islamische Welt", "die islamischen Frauen" dar. Deutlich wird dabei auch, wie die Konstruktion der Anderen bewußt oder unbewußt ein ideologisches Selbstbild "der westlichen Welt", "der westlichen Frauen" produziert.

Die Feministische Antifaschismus-Gruppe Fantifa Kassel beleuchtet in ihrer bibliographischen Zusammenstellung das Thema "Mädchen und Rechtsextremismus" und weist einmal mehr den Paternalismus auch in den Sozialwissenschaften nach.

Den Abschluß des Schwerpunktteils dieses Heftes bildet ein Beitrag von Frank Düchting und Wolfgang Völker, der einen Überblick über die gegenwärtig zur Diskussion stehenden Versuche gibt, Fremdenfeindlichkeit und Gewalt gegen Fremde zu erklären. Eine Erkenntnis dieses Überblicks ist es, daß es wohl keine sinnvolle monokausale Erklärung für die aktuelle rassistische Gewaltwelle in Deutschland gibt.