Wir bestimmen Dich mit - Partizipation als Konflikt
Editorial
Eine der wichtigsten Lektionen in Bezug auf Partizipation ist mittlerweile mehr als hundert Jahre alt und im Kinderheim Baumgarten von Siegfried Bernfeld erprobt worden. In diesem Experimentierfeld "sozialistischer Pädagogik" (1969: 119) ging es ihm um eine Verbindung einer bestimmten Grundhaltung mit der Etablierung partizipativer Strukturen, die die Herrschaftsmechanismen eines solchen Heimes schlicht umdrehten, um die Kinder zu den Herren ihres Heimes (110) zu erklären und zu befähigen. Solche radikale Partizipation ist nach Bernfeld nur zu gewinnen auf der Grundlage einer spezifischen "Antinomie zwischen dem berechtigten Willen des Kindes und dem berechtigten Willen des Lehrers", in der für ihn Pädagogik insgesamt besteht. In diesem antinomischen Konflikt geht es ihm um eine demokratische Regulierung, die eine zentrale Alternative beinhaltet: "Es ist ein sehr wesentlicher Unterschied, ob das Resultat ein psychologischer Kompromiß ist, in dem Teile von beiden Gegensätzlichkeiten eine innig und vom Kinde zuletzt freiwillig bejahte Durchdringung eingehen, oder ob es die Vergewaltigung des kindlichen Willens und die Durchsetzung des von ihm abgelehnten erwachsenen Willens ist. Die Schulgemeinde ist die Organisation dieser pädagogischen 'Kompromißgesinnung'." (124)
Bernfeld spricht an keiner Stelle in seinem Bericht von Partizipation, was nicht nur zu tun hat mit der Tatsache, dass der Begriff selbst neueren Datums ist, sondern auch damit, dass Baumgarten und mit ihm einige andere radikaldemokratische Modelle wie das von Korczak oder auch von Neill in Summerhill den Kontext dessen, was mit Partizipation gemeint ist, eigentlich sprengt. Es geht nicht allein um Teilhabe und Teilnahme. Solche Begriffe suggerieren immer wieder ein gestuftes Mitmachendürfen bei Veranstaltungen, die anderweitig etabliert werden. Es geht Bernfeld aber gar nicht um Mitmachen, sondern um Aufhebung von Herrschaft, die sich niederschlägt in einer besonderen, nämlich demokratischen Form der Konfliktaustragung, in der dieser Konflikt als grundlegend akzeptiert wird, so dass dieser nicht befriedet werden muss, sondern lediglich derart ausgetragen werden soll, dass immer neue konkrete Kompromisse gefunden werden. Das demokratische Modell dahinter hat nach Bernfeld zwei zentrale Momente, die erst im Zusammenwirken ihre Effekte zeigen, zum einen strukturelle Veränderungen durch die Schaffung demokratischer Institutionen wie der Schulgemeinde, in denen dieser Konflikt ausgetragen werden kann, zum anderen eine Veränderung des Umgangs zwischen Erwachsenen und Kindern, der radikale Veränderungen zunächst auf der Seite der Erwachsenen verlangt, nämlich "rücksichtslose Hemmung aller Macht- Eitelkeits-, Herrscher-, Erziehergelüste in sich selber" (113), bevor diese veränderte Haltung auf der Seite der Adressierten eine Befähigung zur Selbstbestimmung freisetzen kann.
Partizipation als Verfahren der Demokratisierung läuft damit letztlich auf deren Aufhebung hinaus, die die Betroffenen nicht mehr zu Teilnehmenden unter der Verantwortung anderer erklärt, sondern alle anderen nun allenfalls zu Teilnehmenden an den Selbstregulierungsszenarien der Adressatinnen und Adressaten. Hundert Jahre nach Bernfeld spielt diese reformpädagogische Vision im Kontext der Sozialen Arbeit nur noch eine randständige Rolle, obwohl permanent über Partizipation geredet wird und diese längst in zentralen Gesetze des SGB verankert wurde. Der Begriff selbst erscheint undurchsichtig. Oftmals wird nicht geklärt, ob damit vor allem Teilhabe an Rechten und Gütern oder verstärkt die Teilnahme an Entscheidungsverfahren gemeint ist, ob es sich eher um eine Alibi-Partizipation handeln soll, die als demokratisches Label von Institutionen nach außen funktionieren soll, ob sie in Kontext der Dienstleistungsdebatte als Nachfragepartizipation von Kunden gegenüber ihren Dienstleisterinnen und Dienstleistern lediglich Teil der Qualitätssicherung darstellt, ob sie als elitäre Partizipation nur bestimmte Gruppierungen zur Teilnahme vorsieht oder eben sich im Sinne Bernfelds radikal versteht.
Solche radikale Partizipation meint eine radikale Demokratisierung, die aber weitgehend demokratische Selbstverständlichkeiten impliziert. Es ist eigentlich alles ganz einfach in der Praxis, aber das Einfachste ist schwer. Die Abwandlung dieser Einsicht von Clausewitz, der diese freilich auf die kriegerische Praxis bezog, macht das Problem deutlich. Von radikaler Partizipation ist leicht geredet und undemokratische Formen solcher Praxis sind schnell kritisiert, die Praxis steht dennoch vor besonderen Herausforderungen. Richter, Lehmann und Sturzenhecker haben jüngst noch einmal die zentralen Einsichten skizziert, die solche Demokratisierung bedingen: Zunächst bedarf es keiner besonderen Kompetenz für Partizipation. Mündigkeit kann und muss im demokratischen Prozess unterstellt werden (2017: 262). Kompetent ist jeder, der oder die von einer bestimmten Fragestellung betroffen ist (42). Es geht gleichzeitig bei Partizipation um nicht mehr und nicht weniger, als Selbstbestimmung des eigenen Lebens mit seinen damit verbundenen Interessen sozial zu vermitteln, also Verständigung zu praktizieren (259). Dazu sind die klassischen Vereinsprinzipien der freiwilligen Mitgliedschaft, des demokratischen Ehrenamts, der lokalen Organisationsstruktur und der Öffentlichkeit (90f.) weiterhin hilfreich (vgl. Richter 2019). Wichtigster Hemmschuh solcher Demokratisierung bleibt die Perpetuierung von Herrschaft, ganz gleich ob diese durch Professionelle, Leitungskräfte oder politische Vertreter ausgeübt wird.
Zu den Beiträgen im Einzelnen
Acht Jahre nach der letzten Thematisierung in den Widersprüchen unter dem Titel "Einspruch! Partizipation und Rechtsansprüche in Politik, Gesellschaft und Sozialer Arbeit" in Heft 123 nach einiger Bewegung diesbezüglich im Kontext der Sozialen Arbeit, insbesondere nach Einführung z.B. des Bundesteilhabegesetzes, ist es Zeit, erneut nachzufragen, wie es um die Partizipation aktuell bestellt ist. Dazu sind Beträge gesammelt worden von ganz unterschiedlichen Akteuren, die mit sehr verschiedenen Praxen von Partizipation in Kontakt gekommen sind.
Stefanie Pigorsch nimmt die Unterstellung "Miesepetrige Sozialarbeitende" von Verantwortlichen "veranstalteter Partizipation" bezüglich wenig kooperationsbereiter Professioneller im Hinblick auf die Beschaffung legitimationsförderlichen Publikums für diese zum Anlass, um aus der Perspektive einer kritischen und diskursanalytisch informierten ethnographischen Forschung solche und weitere Situationen einer (Nicht-)Nutzung als alltagsorientierte Kritik an jener sozialräumlichen Beteiligungspraxis zu dechiffrieren.
Dayana Fritz untersucht situative Performationen von Partizipation auf der Basis der Analyse eines sogenannten "Gruppengespräches" von Pädagog*innen einer Wohngruppe der Erziehungshilfe mit Vertreter*innen der Jugendlichen vor dem Hintergrund eines relationalen Konzeptes sozialer Ausschließung, um dabei Herausforderungen der Erziehungshilfen im Kontext neoliberaler Transformationen aufzuweisen und nachzuzeichen, wie Versuche der Einwilligung von Jugendliche in einer Verregelung der Alltagspraxis der Wohngruppe in Spannung zu deren unmittelbaren Selbstregulierungen geraten.
Die Perspektive von Nicoletta Rapetti ist diejenige einer Betroffenen, die gleichzeitig als Professionelle die Einführung des BTHG beobachtet. Partizipation fängt für sie dabei an mit dem Gehörtwerden. Sie zeigt, wie die Entwicklung des Bundesteilhabegesetzes bereits an dieser einfachen und selbstverständlich erscheinenden Voraussetzung gescheitert ist, die sich im Scheitern von Teilhabe unter dem Diktat der Teilhabe nach der Einführung fortsetzt.
Rudi Sack wiederum reflektiert das Thema aus der Position einer Einrichtungsleitung. Diese Einrichtung wagt es, seit Jahrzehnten gemeinsame Wohngemeinschaften von studierenden Bewohnerinnen und Bewohnern ohne mit solchen mit geistiger Behinderung zu organisieren und zu moderieren. Dass es dabei um die Moderation höchst unterschiedlicher Interessen im Alltag geht, liegt auf der Hand. Erst auf der Basis dieser täglichen Anforderung von gelebter Partizipation schildert Sack den aktuellen Stand der Formierung partizipativer Prozesse auf unterschiedlichen Ebenen von Wohngruppe, ambulanter Dienst, Vorstand und Kommunalpolitik.
Eine ganz andere Perspektive in einem ganz anderen Kontext nimmt Peter Schruth ein. Er resümiert aus der Perspektive des Obudsmanns die Folgen der "Zerschlagung wirksamer Beteiligungsstrukturen" im Rahmen des politisch inszenierten Runden Tisches Heimerziehung, der die Folgen totaler Heimerziehung in der BRD ebenso wie in der DDR aufarbeiten sollte, den an anderer Stelle wiederholt Manfred Kappeler (z.B. 2020) kritisch reflektiert hat, und spricht insofern statt von einer Entschädigung der Opfer von einer "zerriebenen Genugtuung". Deutlich wird dabei, dass solche inszenierte Partizipation wie der Runde Tisch auch die herrschaftliche Okkupation von Aufarbeitung betreiben kann. Er zeigt aber gleichzeitig am Beispiel Berlin, dass Aufarbeitung gegen einen solchen Trend dennoch gelingen kann.
Literatur
Bernfeld, Siegfried 1969: Kinderheim Baumgarten – Bericht über einen ernsthaften Versuch mit neuer Erziehung. In: ders.: Antiautoritäre Erziehung und Psychoanalyse Bd.1. Frankfurt/M: S.84-191
Kappeler, Manfred 2020: Runder Tisch in der Heimerziehung: Was wurde erreicht? Was müsste noch geschehen? In: Degener, Lea/Kunstreich, Timm/Lutz, Tilman: Dressur zur Mündigkeit? Über die Verletzung von Kinderrechten in der Heimerziehung. Weinheim/Basel
Richter, Elisabeth/Lehmann, Teresa/Sturzenhecker, Benedikt 2017: So machen Kitas Demokratiebildung. Empirische Erkenntnisse zur Umsetzung des Konzepts "Die Kinderstube der Demokratie". Weinheim/Basel
Richter, Helmut 2019: Sozialpädagogik – Pädagogik des Sozialen. Grundlegungen, Institutionen und Perspektiven der Jugendbildung. Wiesbaden
Die Redaktion