Transversale Bildung - wider die Unbilden der Lerngesellschaft
Editorial
Anpassen, wegtauchen, verändern - so lautete der Untertitel zum Widersprüche-Heft 11/1984 Schule ist Schule. Gemeint war eine alltags- und kulturtheoretische Sichtweise, die - bei allem Anpassungsdruck - die schulischen Insassen auch befähigte, dem eigentlichen Funktionszweck von Schule zuwiderzuhandeln. Der konservativen Wendepolitik mit ihrem "Mut zur Erziehung" trotzte die Widersprüche-Redaktion mit ihrem Mut zur Bildung (Widersprüche 15/1985). Während die damals artikulierte Schulkritik - im Gefolge von Illich und Freire - einerseits in einer Entschulungsperspektive mit außerinstitutionellen und selbstbestimmten Bildungsprozessen mündete, das Bildungsmonopol der Schule also grundsätzlich in Frage stellte (vgl. Manke in Widersprüche 18/1986), beharrten andere auf einem normativen Bildungsbegriff, der - im Sinne Heydorns - den institutionellen und intentionalen Schulblick nicht aufgeben wollte (vgl. Schaarschuch in Widersprüche 15/1985). Eine bildungspolitische Kontroverse, die nicht nur gesamtgesellschaftlich virulent war, sondern ihre Spuren auch innerhalb der Widersprüche-Redaktion hinterließ.
Anknüpfend an diese Debatte und vor dem Hintergrund gegenwärtiger bildungspolitischer Entwicklungen stellt sich die Frage, inwieweit diese in den achtziger Jahren geführte Schul- und Bildungsdiskussion möglicherweise - wenn auch mit anderen Begrifflichkeiten - wieder hochaktuell ist. Einiges spricht dafür. Erinnern wir uns? Der systemischen Bildungspolitik inklusive der politischen Ökonomie des Ausbildungssektors folgte die pädagogische "Alltagswende" mit der Hinwendung zur "Lebenswelt". Im Windschatten der neuen sozialen Bewegungen folgte die Hinwendung zur "inneren Schulreform von unten" und die Propagierung einer "alternativen" und "bunten" Bildungslandschaft. LehrerInnen und SchülerInnen sollten nicht länger als ohnmächtige Funktionsträger, sondern als selbstbewußte Akteure und Gestalter ihrer eigenen beruflichen und sozialen Existenz definiert werden. Die "Entschulung der Schule" durch schulfremde Lernformen, die Nutzung außerschulischer Bildungsangebote und community education ("Macht die Schule auf, laßt das Leben rein"), die Rückbesinnung auf uneingelöste Demokratisierungs- und Partzipationsversprechen - all dies waren Forderungen der achtziger Jahre, nicht zufällig in einer Zeit des staatlichen Reformstillstandes, in der gleichzeitig alternative und staatsferne Bildungsnischen ausgemacht wurden.
Durch vielfältige Reformbemühungen innerhalb einzelner Schulen (etwa Projektorientierung, offener Unterricht, integratives und multikulturelles Lernen, Lernwerkstätten ...) konnten zwar einige Schulen ihr spezifisches Bildungsprofil entwickeln, doch stießen derartige Ansätze infolge einer materiell unterversorgten staatlichen Politik sehr bald an ihre Grenzen. Gleichzeitig polemisierten ehemals `fortschrittliche' Pädagogen und Erziehungswissenschaftler wie z.B. Hermann Giesecke gegen die zunehmende "Sozialpädagogisierung" der Schule, durch die ihr eigentlicher Auftrag des lehrerzentrierten "Unterrichtens" vernachlässigt zu werden drohe. Aufwind erhielt diese Kritik durch die ländervergleichende sogenannte TIMMS-Studie, die der mathematischen und naturwissenschaftlichen Leistungsfähigkeit deutscher Schulen ein äußerst negatives Ergebnis bescheinigte und - zumindest in den Medien - die Dimension einer erneuten Bildungskatastrophe erreichte. Es war das Signal zu einer hektischen Suche nach schulischen Qualitätskontrollen und Leistungsvergleichen.
Parallel dazu und dem neoliberalen Zeitgeist folgend sollte auch das Bildungssystem in seiner betriebswirtschaftlichen Eigenverantwortung gestärkt, die Autonomie der Schulen durch individuelle Schulprogramme und Budgetierungen erhöht werden und diese sich zu kundenorientierten Dienstleistungsträgern entwickeln. Vor dem Hintergrund "leerer" Haushaltskassen erhoffte sich der Staat durch "intelligentes Sparen" einen mit pädagogischem Aufgabenzuwachs garnierten Reformschub, der listig auch wichtige Forderungen der pädagogischen Avantgarde wie Profilbildung und Neuverteilung der LehrerInnentätigkeit durch Jahresarbeitszeitmodelle aufnahm. Die Orientierung der Schule am modernen Unternehmertum konnte auch an weiteren pädagogischen Wünschen anschließen: Teamfähigkeit, Kreativität, Lernen in Projekten, Nutzung unterschiedlicher Begabungen. Diese und andere "Schlüsselqualifikationen" waren ja durchaus kompatibel mit den "alten" reformpädagogischen Ansätzen, die darüber hinaus auch geeignet waren, einer durch die Leistungsvergleichsstudien durchaus ebenfalls begründbaren Rückkehr zur traditionellen Paukschule zu widerstehen.
Und auch im Hinblick auf die Debatte um Bildungsfinanzierung lohnt Erinnerung. So enthielt die in den siebziger Jahren vor allem von Illich formulierte Schulkritik mit ihrer Perspektive einer "Entschulung der Gesellschaft" Argumentationsmuster, die in diesem Kontext heute neu akzentuiert werden: die pädagogische Ineffizienz der bürokratisierten Staatsschule, ihre Ressourcenverschwendung, ihre administrativ aufgeblähten Regel- und Kontrollmechanismen bis hin zur Idee der Sicherstellung lebenslangen Lernens auf der Finanzierungsgrundlage frei verfügbarer "Bildungsgutscheine". Das von der Hans-Böckler-Stiftung und der GEW in Auftrag gegebene Bildungsfinanzierungsmodell bemüht diese Entschulungsdebatte zwar nicht explizit, kommt jedoch zu ähnlichen Resultaten. Störend sind jedoch ihre wirtschaftsliberalen und finanzpolitischen Motive: die Reduzierung der öffentlichen Bildungsausgaben durch individuelle Vorsorge über Bildungssparen und -darlehen und die damit verbundene Privatisierung öffentlicher Aufgaben zu Lasten finanzschwacher Bevölkerungsgruppen.
Wie immer auch die gegenwärtige Diskussion interpretiert werden kann: Eine neue Phase staatlicher Reformpolitik - diesmal wieder "von oben" - scheint angebrochen zu sein. Gefragt sind heute ineinandergreifende systemische Zusammenhänge, die nur wenig Platz lassen für basiseigene und subversive Alternativpraxen. Mitmachen oder verweigern? Oder doch: verteidigen, kritisieren und überwinden zugleich, wie es die Widersprüche-Redaktion in ihrer Diskussion um eine Politik des Sozialen (in Widersprüche 11/1984) im Hinblick auf den Sozialstaat formuliert hat?
Zu den Beiträgen im einzelnen
Vom 14. bis 16. Mai 1999 lud die "Arbeitsgruppe Bildung ist Menschenrecht", die sich 1996 im Rahmen einer Tagung des Komitees für Grundrechte und Demokratie gebildet hat, in das Pädagogische Institut Falkenstein zu einer Arbeitstagung ein: Sich selbst und die Welt begreifen - Anforderungen an eine zukunftsfähige Bildungspolitik. An dieser haben sich auch Mitglieder der Widersprüche-Redaktion beteiligt. Das Ziel, sich "zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der aktuellen bildungspolitischen Entwicklung zu befähigen und Schritte zu einer öffentlichkeitswirksamen Kritik und Auseinandersetzung zu unternehmen", hat sich neben einer ganzen Reihe von Diskussionsbeiträgen zur Vorbereitung der Arbeitstagung fürs erste in eine Falkensteiner Erklärung der Arbeitsgruppe umgesetzt, mit der wir den thematischen Teil unseres Heftes eröffnen.
Unser Hefttitel Transversale Bildung - wider die Unbilden der Lerngesellschaft greift die in der Falkensteiner Erklärung formulierte Erfahrung vieler BildungsarbeiterInnen auf, "daß sich eine den Menschen prägende `Bildung' - vor allem der heranwachsenden Generation - längst in hohem Maße außerhalb der Gehäuse ihrer Institution ereignet". Der Begriff der Transversalität wurde im Rahmen der französischen Debatte einer sozialwissenschaftlich-kritischen Institutionenanalyse gerade auch des Bildungssystems geprägt und meint "die Gesamtheit der Zugehörigkeiten der Mitglieder einer Institution", welche Verbindungen schafft, "die innerhalb der Institution deutlich jenseits der instituierten Strukturen ablaufen", ja sogar die hierarchische Organisation negieren. Transversalität meint aber keine einfache Negation des Institutionellen, die häufig im Dualismus Gruppe versus Institution Ausduck findet, sondern beinhaltet die Entstehung sozialer Formen, die das Erscheinungsbild und die Dialektik von Institutionen besitzen. Im Unterschied zu diesen verfügen sie als "Aufhebung der Institutionen" in einer Art "Gegeninstitutionen" jedoch über die Fähigkeit, "die Funktionsweise, die Realität, die materielle Basis der herrschenden Institutionen quasi 'umzuleiten' in andere Sozialformen, die im Gegensatz zu den herrschenden Institutionen neue Formen politischer Aktion beinhalten, die die Trennung zwischen 'Führern' und Geführten aufheben" - in Bezug auf die Bildungsinstitutionen, so läßt sich ergänzen, auch diejenige zwischen Lehrenden und Lernenden.
Die Institution "als zerbrochenes Gerät" hinter sich zu lassen, hat Heydorn auch für die Bildung gefordert. Sein Plädoyer, die internen Widersprüche des Bildungssystems in einer Weise zuzuspitzen, daß daran "die Institution als Herrschaftsverfassung schließlich zerbricht", mag derzeit (noch) etwas zu verheißungsvoll klingen. Dennoch lassen sich, verdeckt durch die allseitige Klage über die herrschende Bildungsmisere, Bildungsprozesse finden, die sich gerade neben und quer zu den Institutionen ereignen, in denen sich Subjekte ihre Menschlichkeit und Geschichtlichkeit anzueignen beginnen und die wir in Anlehnung an die französische Diskussion als transversale Bildung bezeichnen möchten.
Angesichts der gerade auch darin deutlich werdenden Krise ihrer Profession sehen sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Falkensteiner Tagung aufgerufen, nicht nur die sich quer zu den Institutionen und ihren Lehrplänen sozusagen transversal Bildenden in ihrem Widerstand dagegen zu unterstützen, dort "zum bloßen Mittel für einen fremden Zweck gemacht zu werden". Um nicht in der Anklage, im moralischem Einspruch und Appell zu verharren oder darin, bloß abstrakte Alternativen zu entwerfen, hält es die Falkensteiner Erklärung darüber hinaus für unabdingbar, "die sich verschärfenden Widersprüche, die an den Institutionen der Bildung erkennbar werden, als Widersprüche dieser Gesellschaft zu thematisieren und zugespitzt auch die Unauflösbarkeit dieser Widersprüche unter den Bedingungen dieser Gesellschaft".
Diesem Anspruch haben sich die Diskussionsbeiträge zur Vorbereitung der Tagung zu stellen versucht. Von ihnen haben wir einige ausgewählt, die die interne Diskussion in der Redaktion besonders inspiriert haben, um sie mit diesem Heft einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Zugleich ging es uns vor dem Hintergrund unseres Interesses an basiseigenen, transversalen, ja möglicherweise subversiven Bildungsprozessen darum, verschiedene Felder des Bildungswesen zu beleuchten. Angesichts der Kürze der Zeit zwischen der Tagung und dem Redaktionsschluß unseres Heftes konnten nicht alle Beiträge in einer Weise zu Artikeln ausgebaut werden, wie es auch den Autoren lieb gewesen wäre. Das zum Teil nur Angedachte mag für die LeserInnen zum Anstoß werden, sich mit eigenen Überlegungen, Analysen, Konkretisierungen und Ideen in die Diskussion um Anforderungen und Ansatzpunkte einer menschenrechtlich gedachten und begründeten Bildungspolitik einzubringen.
Die Reihe der Diskussionsbeiträge wird von Ulrich Klemm eröffnet, für den Hartmut von Hentig mit seinem Die Schule neu denken "auf halbem Wege seiner Kritik" stehengeblieben ist. Radikaler geht es Klemm darum, Lernen neu zu denken. Institutionalisiertes Lernen im Sinne einer pädagogischen Kasernierung, wie sie seit 200 Jahren über Staatsschulen und ihre Zwangsverordnungen - ähnlich dem modernen Volksheer und der Idee der Wehrpflicht - zum Schutz und zur Legitimation des Nationalstaates erfolgt, wird für ihn angesichts von Globalisierung und Weltgesellschaft "zu einem politischen Relikt der Anti-Moderne". Es ist allerdings nicht allein die gesellschaftliche Entwicklung, die das Modell Schule, welches "scheinbar so erfolgreich als dominanter Lernort kulturgeschichtliche Karriere gemacht hat", für Klemm nun endgültig zum "Auslaufmodell für Bildung und Lernen" macht. Lernen als ein "Vorgang der Selbsterschließung von Wissen" begreifend, plädiert er vor dem erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Hintergrund des Radikalen Konstruktivismus für eine "Ermöglichungsdidaktik" im Gegensatz zur schulischen "Erzeugungsdidaktik" mit ihrem fremdorganisierten Wissenserwerb und ihrem fremdbestimmten und mechanischen Lernen. Die auch im aktuellen UNESCO-Bildungsbericht im Hinblick auf das kommende "Jahrhundert des Lernens" propagierte Idee einer Lerngesellschaft wird für ihn deshalb nur dann zum Hoffnungsträger einer nachhaltigen gesellschaftlichen Entwicklung der Zukunft, wenn "Wissen, Intelligenz und Bildung als zentrale gesellschaftliche Entwicklungsfaktoren in einer Demokratie (...) von der pädagogischen Planwirtschaft staatlicher Schulverwaltung befreit werden und ihre pädagogischen Reservate - genannt Schule -" mit ihrem geschlossenen und gegen Umwelteinflüsse relativ resistenten Charakter "als Orte der Aneignung verlassen". In dieser Weise "neue und entgrenzte pädagogische Ermöglichungsorte" anstrebend, sieht er in Kommunen und Regionen als "Learning Communities" das wichtigste Umsetzungsfeld für die Entwicklung einer modernen Lerngesellschaft.
Lebenslanges Lernen als pädagogisches Paradigma zielt deshalb letztlich, wie Ulrich Klemm verdeutlicht, auf eine Auflösung des starren Säulen-Modells unserer Bildungslandschaft. Ganz unmittelbar bedeutet es aber zunächst eine Stärkung der Erwachsenenbildung. Vieles von Klemm gegen die Schule in Anschlag Gebrachte hat hier zweifellos ansatzweise bereits Eingang gefunden, ist zum Teil allerdings zu einem affirmativen "Praxisbezug" verkommen. Umgekehrt ist es, wie Edgar Weick in seinem Beitrag zeigt, hat nicht allein der gegenwärtige bildungspolitische Diskurs, in dem Bildung als berufliche Qualifizierung und psychosoziales Fitneßtraining für den Arbeitsmarkt mißzuverstanden werden droht, zu einem "Utopieverlust" in der Erwachsenenbildung geführt. Angesichts der von verschiedenen Seiten gerade in letzter Zeit wieder verstärkt vorgenommenen Versuche, eine "zukunftsorientierte Didaktik" curricular durchzudeklinieren, stellt sich für ihn die Frage, ob sich damit in dieser Gesellschaft zurückgewinnen läßt, "was ihr doch objektiv verloren gegangen ist und nur gegen sie gedacht werden kann". Und obwohl neoliberale und neokonservative Argumente, welche die aktuelle Debatte bestimmen, ihren Teil dazu beigetragen haben, Begriffe wie Autonomie, Selbstbestimmung und Eigenverantwortung ihrer gesellschaftlichen Voraussetzungen zu entkleiden und sie unter der Hand mit dem Ziel umzudeuten, "jeden Menschen zu seinem eigenen `Unternehmer' zu machen", vermag Weick auch hier einen "utopischen Vorrat" zu erkennen: "Wenn denn der Markt ein wirklich `freier' ist, dann sind auch der Beherrschung Grenzen gesetzt. Hoffnung keimt hier im Anarchischen." Und so sind es für Weick eben diese eklatanten Widersprüche in der Erwachsenenbildung, die immer wieder im gemeinsamen Sich selbst und die Welt begreifen auch neue Pfade in Utopia einzuschlagen erlauben.
Mit dem Konzept des lebenslangen Lernens, zumal wenn es - wie im UNESCO-Bildungsbericht - zum Begriff einer "lernenden Gesellschaft" in Beziehung gesetzt wird, "in der alles als Gelegenheit wahrgenommen wird, sich zu bilden und seine Talente zu entfalten", ist unlösbar verbunden, was unter methodisch-didaktischen Aspekten seit den sechziger Jahren als beiläufige Bildung diskutiert wird. In diesem Sinne hat beiläufige Bildung sicher immer auch in der Sozialen Arbeit stattgefunden - ohne daß deren unterschiedliche Arbeitsfelder allerdings dadurch schon zu den Ulrich Klemm vorschwebenden "entgrenzten pädagogischen Ermöglichungsorten" geworden wären. Im Gegenteil spielen Bildungsprozesse in einem solch emphatischen Sinne - das zeigen Timm Kunstreich und Michael May in ihrem Beitrag - im nach wie vor dominierenden Verständnis von Sozialer Arbeit als selbständigem, eigenverantwortlichem beruflichem Handeln eine eher untergeordnete Rolle. Nicht nur, daß in dem in Vorformen schon bei Wichern zu findenden und als Handlungskonzept bereits bei Alice Salomon ausbuchstabierten Modell Anamnese - Diagnose - Behandlung - Evaluation in aller Regel vom Fachmann festgestellt wird, um welches Problem es sich handelt. Allein schon aus der Struktur des bürgerlichen Rechts, sozialstaatliche Verbürgungen als individuelle Rechtsansprüche für genau spezifizierte Tatbestände zu formulieren, ergibt sich ein Zwang zur administrativen Umdefinition eigentlich das gesellschaftliche Zusammenleben betreffender, im Grunde politischer Fragen in Probleme sozialpädagogischer "Normalisierungsarbeit". Vor diesem Hintergrund versuchen Kunstreich und May die Grundoperationen professioneller sozialarbeiterischer Hilfe zu verdeutlichen "als
- Konstruktion von Wirklichkeit im Entwurf von Individuen - (...) zum Teil auch Systemen -, die mit 'Defiziten' und 'Störungen' behaftet sind, und als
- Konstruktion für Wirklichkeit im Verweis auf die Ziele und Maßnahmen zu deren Behebung."
Dem stellen sie ein in gleicher Weise als soziale Konstruktion von und für Wirklichkeit zu begreifendes Arbeitsprinzip Partizipation gegenüber als
- "eingreifendes Begreifen" (Holzkamp) der aktuellen Situation von und in Sozialitäten, um gestützt auf eine Weiterentwicklung des Freireschen Konzepts "Politischer Alphabetisierung" herauszufinden, was für wen ein Problem ist, und als
- auf die Zukunft gerichtete Handlungsorientierung von Professionellen, in einem umfassenden Sinn die Selbstregulierung ihrer AdressatInnen zu stützen und zu stärken.
Um mit dem Arbeitsprinzip Partizipation, welches in dieser Weise Soziale Arbeit als zugleich Bildung am Sozialen und Bildung des Sozialen zu verwirklichen strebt, nicht bloß eine abstrakte Alternative zu entwerfen, versuchen sie in den Widersprüchen des Systems Sozialer Arbeit zumindest einige Ansatzpunkte für eine entsprechende Praxis zu entdecken.
Mit dem Internet erhält die beiläufige Bildung nicht nur neue Gelegenheiten, sie bietet, wie Ulrich Klemm konstatiert, sicher auch zusätzliche methodisch-didaktische Optionen, die ein globales Lernen unterstützen. Ob das Internet allerdings deshalb schon "die Fortsetzung des Projektes der Bildung mit anderen Mitteln" ist, das beurteilen Peter Kluge und Winfried Marotzki doch eher kritisch abwägend. Sie sehen im Internet eine grundlegende Kommunikationstechnologie, die heute "das, was traditionell bürgerliche Öffentlichkeit hieß, wesentlich bestimmt und in den nächsten Jahren noch stärker bestimmen wird". Informationstechnologien nicht nur als technische, sondern auch als soziale und gesellschaftliche Medien definierend, gehen sie davon aus, daß neue Medien zwar eine eigene Logik aufweisen und menschliche Erfahrung so organisieren, daß das Medium selbst zur Botschaft wird, Öffentlichkeit jedoch umgekehrt kein mit einem geeigneten Instrumentarium lösbares technisches Problem darstellt. Vermag das Internet daher in ihren Augen auch keine neuen Formen demokratischer Öffentlichkeit zu kreieren, können Technik und öffentlicher Raum für sie dennoch in einem durchaus innovativen Verhältnis stehen. Kluge und Marotzki versuchen dies im Rahmen einer kurzen Relektüre von Brechts Radiotheorie zu begründen, deren Intention es ja war, in Bezug auf den Rundfunk Möglichkeiten für Demokratisierungsprozesse des öffentlichen Raumes zu sondieren, ohne dabei den Blick für die Grenzen sowie für die interessenbedingten Vereinnahmungen zu verlieren, in denen sich Herrschaft reproduziert. Vor diesem Hintergrund gehen sie dem Versprechen der neuen Informationstechnologien nach, eine stärkere Transparenz in den public affairs herbeizuführen und damit der Idee von Basisdemokratie zu dienen. Zugleich beleuchten sie in den Begehrlichkeiten gesellschaftlicher Gruppen, das Internet als öffentliche Plattform für ihre Zwecke zu nutzen und sich somit im öffentlichen Raum auf Kosten anderer durchzusetzen, die Herrschaftsaspekte. Entsprechende Machtkonstellationen spüren sie nicht nur in der Auseinandersetzung um Zensur im Netz am Beispiel der Declaration of the Independence of Cyberspace und der Magna Carta for the Knowledge Age auf. Am Beispiel von Suchmaschinen, die sich durch Werbebanner finanzieren, welche - nutzerspezifisch zugeschnitten - in die Kopf- und Fußzeilen ihrer Internetseiten eingeblendet werden, verfolgen sie Spuren der Kontrolle, der Zensur und der Macht, die darauf verweisen, daß Menschen im und mit Hilfe des Internet auf eine Weise kontrolliert werden, die sich an bestimmte Formen der Produktion von Wünschen und Leistungen anschließt. Nicht das Internet selbst, sondern eine informiert und auf der Höhe der technologischen Entwicklung artikulierte Netzkritik ist für sie die Weiterführung des Projektes Bildung und damit der Negativität mit anderen Mitteln. Nach den Grenzen der Erzeugung virtueller Welten und virtueller Geschöpfe fragend sowie danach, wie diese unsere soziale und gesellschaftliche Welt verändern, sehen sie den Duktus ihrer Reflexion sich in eine Neuauflage Kritischer Erziehungswissenschaft einreihen. Besonders in ihrem Bestreben, ideologische Muster aufzudecken, die Herrschaftsrhetorik reproduzieren, schließt ihre "bildungstheoretisch inspirierte Internetkritik" an den Gedanken der klassischen Ideologiekritik an, wie sie in den siebziger Jahren im Kontext der emanzipatorischen Pädagogik entwickelt wurde.
Zu guter Letzt wollen wir noch auf einen Beitrag im Forum hinweisen. Der Artikel von Chaim Seeligmann enthält bzw. präsentiert wichtiges Material zur Geschichte der politischen Kultur in Deutschland, das bislang nur unzureichend bekannt war. Seine Darstellung der Fichtegesellschaft und Fichtehochschulen zeigt in eindringlicher Weise, wie nationalistische Positionen der 'Pflege des deutschen Volkstums' als Vorbereitung für die Durchsetzung der nationalsozialistischen Volksgemeinschaftsideologie, die dann die Folie einer mörderischen Politik abgab, zu verstehen sind. Interessant ist hier insbesondere die Verbindung mit Konzepten einer Volksbildung und Volkshochschularbeit, die sich dann auch hin zur Analyse des NS als einem Erziehungsstaat verdichten lassen.
Die Redaktion