Schule als Auslaufmodell?

Notate zur Entstaatlichung und Entschulung von Bildung im Horizont des aktuellen gesellschaftlichen Wandels

Schule: Kritische Annäherung an einen Mythos

Als der Berliner Privatgelehrte und Individualanarchist Walther Borgius 1930 seine Studie Die Schule - Ein Frevel an der Jugend veröffentlichte, war ihm sicher bewußt, gegen welche Heilige Kuh der Gesellschaft (Ivan Illich) er sich grundsätzlich wandte. In der Tradition des deutschen Anarcho-Philosophen Max Stirner (1806-1856) und seines Hauptwerkes Der Einzige und sein Eigentum (1972) operationalisierte er die These von der radikalen Freiheit des Individuums auf Kinder, Kindheit und Schule. In einer selbst für Anarchisten ungewöhnlich konsequenten politischen Argumentation demontierte er mit einem historischen und systematischen Ansatz den Mythos Schule sozial- und ideengeschichtlich und nahm eine Position vorweg, die erst Jahrzehnte später im Kontext einer kritischen Kindheitsgeschichtsforschung (vgl. Ariès 1975; deMause 1977), einer Geschichte der Schwarzen Pädagogik (Rutschky 1977), einer politischen Kinderrechtsbewegung (vgl. Farson 1975; Holt 1978) und einer radikalen Erziehungskritik (vgl. von Braunmühl 1975; von Schoenebeck 1982) zu einem öffentlichen Diskurs führte. Gleich zu Beginn seiner Untersuchung stellt Borgius (1930: 7) programmatisch fest:

Die Schule ist ein raffiniertes Herrschaftsmittel des Staates, geschaffen (bzw. aus ähnlichen Ansätzen konkurrenzgefährlicher Stellen - Kirche, Städte, Private - usurpiert), um von Kindesbeinen an alle Staatsangehörigen an Gehorsam zu gewöhnen, ihnen die Suggestion von der Notwendigkeit des Staates in Fleisch und Blut übergehen zu lassen, jede Emanzipationsidee im Keime zu lähmen, die Entwicklung ihres Denkens in wohlgehegte Bahnen zu lenken und sie zu bequemen, regierbaren, demütigen Untertanen zu drillen (1930: 7).

Was hier von Borgius formuliert wurde, kommt einer säkularisierten Blasphemie gleich, erlebt aber erst ab Anfang der siebziger Jahre im Zuge der von Ivan Illich (1970; 1972) und Everett Reimer (1972) geführten Entschulungsdebatte eine öffentliche Diskussion. Das wissenschaftliche und publizistische Werk von Borgius, der 1932 starb - über sein Leben und Werk ist nur wenig bekannt -, wurde von den Nazis vernichtet und liegt heute nur fragmentarisch vor. (1) In diesem Sinne blieben seine Thesen ohne Resonanz und Wirkung auf eine aktuelle Entschulungsdiskussion. Die große Abkehr der Erziehung von der Schule (von Hentig 1971: 13) erfolgte erst Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahr mit Cuernavaca und dem Centro lntercultural de Documentacio (CIDOC), jenem von Ivan Illich 1960 in Mexiko gegründeten Institut zur Ausbildung von Entwicklungshelfern und Missionaren für Südamerika. Hier wurde erstmals und systematisch über eine Entschulung nachgedacht und versucht, die Schule als das zentrale mythenbildende Ritual der Industriegesellschaft (Illich 1970) zu entlarven. Diese Idee der Entschulung wurde im Kontext von Bildung und Modernisierung in der Dritten Welt diskutiert. Am Beispiel Lateinamerikas wurde die These von der Notwendigkeit der Entschulung als Voraussetzung für eine demokratische Entwicklung aufgestellt. Reimer (1972: 9) schrieb in seiner Studie Schafft die Schule ab! über den Erkenntnisprozeß im CIDOC: Zunächst glaubten wir, die Schule sei eine Institution, die in einer immer leistungsfähigeren technologischen Gesellschaft nachhinkt. Später sahen wir in den Schulen die unerläßlichen Stützen einer technologischen Gesellschaft, die als solche nicht lebensfähig ist. Im Zentrum der Kritik steht dabei

  1. der Monopol- und Zwangscharakter von Schule,
  2. das klassische Lehrer-Schüler-Verhältnis und
  3. die antidemokratische Binnenstruktur von Schule mit Lehrplänen, Selektionsmechanismen und Abschlüssen.

Obgleich Schulkritik ein fester Bestandteil des gesellschaftlichen und öffentlichen Diskurses ist, seit es Schule als institutionalisierten Ort von Lernen gibt, findet eine solch radikale und gleichsam entlegitimierende Debatte über Schule nur selten bzw. marginalisiert statt. Schulkritik hat ihren Fokus in methodisch-didaktischen Reformdiskussionen und in Fragen der Institutionalisierung, also der Verfaßtheit von Schule im Verhältnis zu Staat und Gesellschaft. Schule ist jedoch nicht nur eine der erfolgreichsten und stabilsten gesellschaftlichen und öffentlichen Einrichtungen der letzten 2000 Jahre, sondern hat auch - und dies kann historisch signifikant belegt werden - seit der Aufklärung und der Befreiung von Kirche und Klerus eine ähnlich unantastbare Funktion wie das Militär. So kann festgestellt werden, daß zeitgleich mit der Durchsetzung der allgemeinen Wehrpflicht und der Bildung von sogenannten Volksheeren - bspw. im Preußen des 18. und 19. Jahrhunderts - auch die allgemeine Schulpflicht und der Schulzwang eingeführt und bis heute als zentrales Element der Demokratisierung gepriesen werden. Schule und Militär werden zu zwei zentralen Herrschaftsinstrumenten des neuen Nationalstaates. In der bildungs- und gesellschaftspolitischen Diskussion findet man in diesem Sinne eine gleichsam Heilige Allianz aller politischen Lager bei der Verteidigung der Schule - wie auch des Militärs und des Krieges als Fortführung der Politik mit anderen Mitteln (!). Dies muß als ein klares Indiz für die Funktion der Schule als Mittel zum Machterhalt gewertet werden Wer politische Macht will, braucht Schulpflicht und Wehrpflicht bzw. Schule und Militär als Orte der Disziplinierung. Es ist also folgerichtig, wenn Anarchisten, die die Abschaffung des Staates als zentrales Ziel verfolgen, auch eine Politik der Entschulung von Gesellschaft vertreten.

Bei der Auseinandersetzung um die gesellschaftliche Verfaßtheit von Schule setzte sich nicht nur in Deutschland sehr schnell der Staat als Garant für Schule und Bildung durch und führte zur staatlichen Regelschule mit Schulpflicht und Schulzwang, die seitdem unangefochten über einen gesellschaftlichen Grundkonsens verfügt. Als größte gesellschaftliche Veranstaltung unserer Kultur (von Hentig 1993: 10) wird Schule zwar ständig dem Versuch unterworfen, sie zu reformieren oder neu zu denken. Zu einer grundsätzlichen Infragestellung kommt es jedoch nicht oder nur sehr selten. Eine Kritik an der Staatsschulidee, wie sie gegenwärtig von Wolfgang Hinte (1996: 15) formuliert wird, wenn er einen Vergleich zwischen Gefängnis und Schule zieht und schreibt, Schule war und ist eine Zwangsanstalt, ein Ort, zu dem zu gehen man gezwungen wird oder an dem man seinen Lebensunterhalt verdient in der Arbeit mit Individuen, die einer ständig überprüften Anwesenheitspflicht unterliegen, ist nicht nur die Ausnahme, sondern findet derzeit nur eine begrenzte Resonanz in der bildungspolitischen und pädagogischen Diskussion. Hier liegt nicht nur ein politisches und systematisches Diskussionsdefizit vor, sondern gleichsam auch ein Mythos: Schule als einziger und richtiger Ort für Bildung und Lernen.

Ohne hier die politisch ambitionierte Position von Anarchisten à la Borgius übernehmen zu wollen, bleibt zu fragen, ob dieses Modell Schule, das scheinbar so erfolgreich als dominanter Lernort kulturgeschichtliche Karriere gemacht hat, ihre Aufgabe auch heute noch erfüllen kann - wobei an dieser Stelle ungeklärt bleiben muß, ob dies historisch gesehen jemals der Fall war. Dringend und grundsätzlich muß danach gefragt werden, ob Schule vor dem Hintergrund weltweiter Entwicklungen noch über dieselbe Legitimation und Sinnhaftigkeit als institutionalisierter Lernort verfügt wie in den letzten Jahrhunderten. Es geht im folgenden um die These, daß Schule als staatlich verordneter Lernort zunehmend an Bedeutung verliert und angesichts globaler Entwicklungen zu einem Auslaufmodell für Bildung und Lernen wird.

Thesen zur Antiquiertheit von Schule

Warum wird Schule als zentraler Ort menschlichen Lernens zunehmend ungeeigneter? Folgende Begründungszusammenhänge bieten sich an.

- Die zunehmende Globalisierung führt zu einem Bedeutungsverlust nationalstaatlicher Orientierung und damit zur Entlegitimierung von (Staats-)Schule. In dem Maße, wie der gesellschaftliche Wandel zu einer sogenannten Weltgesellschaft führt und die soziale, politische und ökonomische Globalisierung fortschreitet, verliert auch der Nationalstaat an Bedeutung und Einfluß. Und: in dem Maße, wie der souveräne Nationalstaat als gesellschaftliches Steuerungsinstrument an Bedeutung verliert, wird auch eine Staatsschule und die mit ihr verbundene Schulpflicht an Legitimation einbüßen. Die moderne Schule und ihre Zwangsverordnungen entstanden - ähnlich dem modernen Volksheer und der Idee der Wehrpflicht - im Zuge, zum Schutz und zur Legitimation des Nationalstaates. Der aktuelle gesellschaftliche Wandel überholt Schule als Ort eines nationalstaatlich motivierten und institutionalisierten Lernens und macht sie angesichts von Globalisierung und Weltgesellschaft zu einem politischen Relikt der Anti-Moderne.

- Die aus der modernen Managementtheorie abgeleitete politische Forderung nach Learning Communities oder Lernenden Regionen impliziert die Aktivierung gesellschaftlicher Selbststeuerungs- und Selbstlernpotentiale. Die Idee einer Bürgergesellschaft verbindet neue Formen direkter Demokratie mit klassischen Formen einer repräsentativen Demokratie. Gesellschaftliche Komplexität und Entgrenzungstendenzen werden sowohl in der Wirtschaft als auch in der Politik als neue Herausforderungen verstanden, die mit herkömmlichen Steuerungsinstrumenten und in klassischen Hierarchien nicht angemessen gelöst werden können. Was in der Wirtschaft zur Vorstellung von Lernenden Unternehmen (vgl. Senge/Scharner 1997; Witthaus/Wittwer 1997) entwickelt wurde, wird von der Politik und Raumordnung als Lernende Stadt oder Lernende Region weitergeführt. Es geht um die Entwicklung von Selbstorganisationspotentialen in regionalen und vernetzten Lerngemeinschaften. Ein Beispiel für eine solche Regionale Lerngemeinschaft bzw. eine Lernende Region wäre die Realisierung eines Agenda 21-Prozesses als gleichsam ganzheitlicher Ansatz der Verbindung von nachhaltigen ökologischen, ökonomischen und sozialen Prozessen auf lokaler Ebene. Die Idee einer Bürgergesellschaft mit ihren Elementen der sozialen Selbstorganisation, des bürgerschaftlichen Engagements sowie der Regionalisierung öffentlicher Entscheidungen enthält im Kern das Plädoyer für eine neue politische Partizipationskultur, welche Staatsmacht einschränkt und Bürgerrechte stärkt. Der Ruf nach einer neuen Bürger- oder Zivilgesellschaft, wie er maßgeblich von US-Kommunitaristen in die Diskussion eingebracht wurde, ist mit der Forderung nach mehr direkter Demokratie verbunden. Es geht - aus politologischer Sicht - um eine neue Schnittstelle und -menge zwischen direkter und repräsentativer Demokratie. Dies bedeutet auf Schule und Bildung übertragen eine Entstaatlichung von Bildung, die Abkehr von Schulpflicht und Hinwendung zur Bildungspflicht sowie eine neue partizipative Verfaßtheit regionaler Bildungs- und Lernstrukturen. Im Mittelpunkt dieses Trends steht die Idee einer Lerngesellschaft als Hoffnungsträger einer nachhaltigen gesellschaftlichen Entwicklung. Für eine daraus abgeleitete Pädagogik heißt dies, daß Kommunen und Regionen zum wichtigsten Umsetzungsfeld für die Entwicklung einer modernen Lerngesellschaft werden. Es muß eine Entgrenzung von Lernorten stattfinden. Wenn Wissen, Intelligenz und Bildung als zentrale gesellschaftliche Entwicklungsfaktoren in einer Demokratie gesehen werden, dann müssen sie von der pädagogischen Planwirtschaft staatlicher Schulverwaltung befreit werden und ihre pädagogischen Reservate - genannt Schule - als Orte der Aneignung verlassen. Es geht um neue und entgrenzte pädagogische Ermöglichungsorte.

- Die internationale bildungspolitische Forderung nach lebenslangem Lernen als Kernaxiom einer neuen Lernkultur führt zu der Vernetzung und Öffnung von Lerninstitutionen und muß unterschiedliche Lernzusammenhänge von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen kompatibel machen. Dies bedeutet Entschulung und Entinstitutionalisierung. Ein mit der Idee einer neuen Lernkultur verbundener Begründungsaspekt ist die Vorstellung und das Paradigma vom lebenslangen Lernen. Der aktuelle UNESCO-Bildungsbericht (Deutsche UNESCO-Kommission 1997: 96) sieht im Konzept des lebenslangen Lernens den Schlüssel zum 21. Jahrhundert. Er überwindet die herkömmliche Trennung zwischen Erstausbildung und Weiterbildung und verweist auf den Begriff einer lernenden Gesellschaft, in der alles als Gelegenheit wahrgenommen wird, sich zu bilden und seine Talente zu entfalten. Es wird hier von einer neuen Lernkultur gesprochen, die die klassische und künstliche Trennung aufhebt und sich damit gegen die traditionelle Schule wendet. Lebenslanges Lernen bedeutet nicht nur eine Stärkung der Erwachsenenbildung, sondern auch die Öffnung schulischer Angebote für ein lebenslanges Lernnetzwerk. Hierzu muß jedoch Schule ganz neu definiert werden; mehr noch: Schule muß ihren Charakter als eine geschlossene und gegen Umwelteinflüsse relativ resistente Institution aufgeben. Dies bedeutet in letzter Konsequenz die Verabschiedung vom ,Modell Schule'.

- Arbeiten und Lernen im informellen Sektor: beiläufige Bildung bzw. offenes Lernen als didaktische Leitidee. Im Zusammenhang mit dem Konzept des lebenslangen Lernens wird der methodisch-didaktische Aspekt einer beiläufigen Bildung, der in den sechziger Jahren von Paul Goodman (1978) in die Diskussion gebracht wurde, zum Argument für Entschulung. Schule ist weder geeigneter Lebens- noch Erfahrungsraum für Kinder. Schule verhindert Lernen, indem sie als eine geschlossene Anstalt künstliche Lernnischen bietet und Kinder von gesellschaftlicher Wirklichkeit fernhält. Bildung darf nicht in Lernreservaten stattfinden, die von Dritten, also von der Schulverwaltung kontrolliert werden. Beiläufige Bildung jenseits von Schulen erhält mit den Möglichkeiten der elektronischen Vernetzung über das Internet sowie mit den neuen Multi-Media-Technologien außerdem zusätzliche methodisch-didaktische Optionen, die ein globales Lernen unterstützen. Das Konzept eines offenen Lernens bzw. einer beiläufigen Bildung korrespondiert mit der Idee vom selbstgesteuerten Lernen, die in der Erwachsenenbildung zunehmend diskutiert und als eine Form emanzipatorischer und entinstitutionalisierter Bildung verstanden wird (vgl. Dohmen 1999).

- Erkenntnis- und wissenschaftstheoretisch wird mit dem Radikalen Konstruktivismus aktuell eine Theorie für die Pädagogik angeboten, die vom Prinzip der Selbstorganisation und der Autopoiesis ausgeht und einen Ansatz legitimiert, der im Gegensatz zur gängigen Erzeugungsdidaktik eine Ermöglichungsdidaktik vorschlägt. Es geht hierbei um den Wandel in der Lernk