Schule ist Schule? ist anpassen, wegtauchen, verändern
Editorial
Wendemanöver vollziehen sich in Krisensituationen. Schule und Erziehung besitzen eine besonders ausgebildete Wendetradition: da gab es Anfang der sechziger Jahre die "realistische" Wende, die mit dem geisteswissenschaftlich-spekulativen Muff der fünfziger Jahre aufräumen und die Pädagogik in den Status einer empirischen Sozialwissenschaft versetzen wollte; es folgte dann die "emanzipatorische" Wende mit dem Ziel, Schule und Erziehung in den Dienst subjektiver Selbstbestimmung und gesellschaftlicher Demokratisierungsprozesse zu stellen. Seit etwa fünf Jahren bahnt sich die dritte Wende an. Gegenwärtig ist nur noch wenig zu hören von: Curriculumrevision, Strukturreform, Bildungsökonomie, Evaluation, Demokratisierung, Partizipation, Emanzipation, Lernziel-Taxonomien und Unterrichtstechnologie, viel hingegen von: Schulalltag, Pädagogisierung, Schulleben, Mut zur Erziehung, Subjektivität, Humanisierung, alternatives Lernen, Schülersubkultur, Lehrerpersönlichkeit, Lebenswelt.
Folgt nach der realistisch-empirischen, der emanzipatorisch-politischen nun die pragmatische Alltagswende? Die Abkehr vom o. g. Begriffs-Szenarium deutet daraufhin. Da entsteht plötzlich in der Gewerkschaft eine "radikale pädagogische Diskussion" über "Alternativen in der Regelschule" (so in der GEW Hamburg); da wird über das "Leben in der Schule", über eine "Re-Pädagogisierung des Schullebens" nachgedacht (so in der GEW Lüneburg); da wird Anklage erhoben über "vergessene Körperlichkeit" und "übergangene Sinnlichkeit". Es überfluten wissenschaftliche Publikationen den Markt, die das Schülersubjekt und seine Lebenswelt wiederentdeckt haben. Es wird "Spurensicherung" betrieben, alltägliche Schülertexte gewinnen forschungsrelevante Reputierlichkeit, Pädagogen rufen die Rehabilitierung vorwissenschaftlicher Denkmuster und naiver Wirklichkeitsdeutungen aus.
Und schließlich werden auf dieser Welle die geistig-moralischen Erneuerer nach oben gespült. Sie blasen zum Feldzug gegen die "Emanzipationspädagogik" und gegen die "marxistische" Bildungspolitik. So hat sich ein buntes Gemisch aus sozialistischen, grün-alternativen und konservativ-reaktionären Erziehungsmutigen zusammengebraut, die, mit unterschiedlichen Motiven und auf getrennten Wegen, zum Sturm gegen die bürokratisierte Verschulung des Lehrens und Lernens aufrufen. Vorsicht ist also geboten, nicht nur wegen der problematischen Nachbarschaft, sondern auch wegen der Erfahrungen, daß bislang immer etwas anderes als das Beabsichtigte herausgekommen ist. Und noch eines: in ökonomischen Krisen- und Opferzeiten bietet sich der Wechsel von materiellen zu ideellen Ansprüchen schon allein aus kostenneutralen Gründen geradezu an: Mut zur Erziehung ist billig, ebenso quantitative Entschulungsprogramme durch weitere Schulschließungen, Verringerungen der Schulpflichtzeit und Nichteinstellungen von Lehrern.
Es braucht nicht weiter begründet werden, daß diese und andere biedermännischen Krisenlösungen nach Gutsherrenart uns nicht schmecken. So ist darauf aufmerksam zu machen, wie ambivalent das jüngste Wendemanöver ist. Und dies geht nicht ohne Selbstkritik. Abtragen müssen wir die Hypotheken von mindestens drei Irrtümern, die unsere Teilnahme am technokratischen Verschulungsprozeß begünstigt haben.
1. Irrtum: gemeint ist der affirmative Bezug zu staatlichen Bildungsreformmaßnahmen, was die Hoffnung nährte, daß von oben servierte Grundzezept in ein vollwertiges Emanzipations-Menu verzaubern zu können.
2. Irrtum: gemeint ist der affirmative Bezug zur gewöhnlichen Art schulischen Lernens. Auch "linke" Pädagogik wurde auf das didaktische Niveau des schulisch Machbaren zurechtgestutzt im falschen Glauben, daß schon mit fortschrittlichen Unterrichtsinhalten den Schülern zur Emanzipation verholfen werden kann; eine Neuauflage des alten didaktischen Elends: der Vorrang der objektiven Sache gegenüber den subjektiven Interessen der Schüler.
3. Irrtum: die politische Instrumentalisierung der Erziehung. Linke haben die fatale Neigung, Politik mit Erziehung zu verwechseln, beides ineinander aufzulösen. Wer an der "Logik der Erziehung" (Negt) festhält und sie gegenüber Fremdbestimmungen jeder Art in Schutz nimmt, gerät ja schnell in den Verdacht, das Autonomie-Postulat der bürgerlichen Reformpädagogik gegen ihre Politisierung zu verteidigen. Also deshalb lieber die Finger davon lassen?
Der oben angedeutete Sinneswandel (auch Paradigmenwechsel genannt) scheint das Subordinationsverhältnis von Politik und Pädagogik nun umzudrehen: die "Politisierung der Erziehung" soll durch die "Pädagogisierung der Politik" abgelöst werden. Sind wir also auf dem Wege zu einer neuen reformpädagogischen Genügsamkeit oder steckt mehr dahinter?
Faktum ist: Vorbei ist die Zeit großer bildungspolitischer Reformentwürfe, hin der Optimismus über Schule als "optimale Organisation von Lernprozessen", wie es noch in den sechziger Jahren euphorisch verkündet wurde. Still geworden ist auch die marxistische Kritik der "Politischen Ökonomie des Ausbildungssektors" (Altvater/Huisken) und daraus gewonnene Ableitung zur Revolutionierung der Schule und ihrer Insassen. Längst hat die technokratische Verschulung klassische linke Veränderungshoffnungen eingeholt. Das Leiden an der "administrativen Verstörung" (Rumpf) hat zugenommen und nicht gerade zur politischen Auflehnung ermuntert. Vom Packeis erfaßt haben viele Lehrer die Schulflucht angetreten. Nur wenige haben in freien Schulen einen sinnvollen Unterschlupf gefunden. Andere haben sich mit der Schule arrangiert, wollen nicht anecken und versehen zur Zufriedenheit ihres Dienstherren mehr oder weniger angepaßt ihre alltägliche Schulpflicht. Und es gibt diejenigen, die in einer Art Überlebenstraining ihre Identität im Überwintern und Wegtauchen zu bewahren glauben. Sie warten darauf, daß irgendwann einmal Tauwetter eintreten wird, um dann wieder groß rauszukommen, wenn die Verhältnisse es zulassen. Schließlich die Gruppe der ewigen oder neuen Unermüdlichen. Sie versuchen schon jetzt, etwas Packeis wegzuräumen, nicht mit Bulldozern, sondern eher kleinschrittig und unterwandernd, um wärmere Höhlen und kuschelige Nischen zu bauen, Freiräume, die das Leben in der Schule erträglicher machen können. Nicht viel anders die Schüler: Überleben durch Verweigern, Anpassen, Abwarten und Freischaufeln.
Wir meinen, daß der allwissende analytische Blick von außen nicht mehr genügt. Wenn wir Genaueres über Leiden, Erleben, Überleben und Verändern erfahren wollen, müssen wir uns den Zugang zum schulischen Innenleben, zur Binnenstruktur des Schulalltags verschaffen, sozusagen den ethnomethodologischen Blick schärfen, um neue analytische Kompetenz zu gewinnen. Linke Anworten können nicht mehr im Sinne eines in sich stimmigen und geraden "Königsweges" gegeben werden.
Wir plädieren für einen pluralen und bunten Weg, für verschlungene und ungewöhnliche Pfade mit vielen Verästelungen und auch möglichen Irrwegen. Nur dürfen wir unseren erkenntnisleitenden Kompaß nicht verlieren. Seine Nadel sollte immer auf Entschulung zeigen.
Die Thematik des Heftes ist damit umrissen:
Wilfried Manke sieht vor dem Hintergrund objektiver Problemlagen und subjektiver Ereignisinterpretationen einen qualitativ neuen Krisencharakter des Schullernens, der den Leidensdruck und die Widerständigkeit gleichermaßen verschärft. Emanzipatorische "Krisenlösung' kann nur noch auf dem Wege eines konsequenten pädagogischen Entschulungs-Umbaus realisiert werden.
Mit Wendemanövern ganz anderer Art setzt sich Roland Narr auseinander. Seine Kritik der "Tendenzwende" thematisiert das geistig-moralische Zurück-Marsch-Marsch exemplarisch am Erziehungsmut eines Mayer-Vorfelder. Daß auch grün-alternative Bildungspolitik und Erziehungsvorstellungen leicht im konservativen Fahrwasser enden können, zeigt der Beitrag von Andreas R. Schaarschuch. Er erinnert an die Aufklärungsabsichten kritischer Erziehungswissenschaft und empfiehlt u. a. die in Vergessenheit geratene Lektüre der Heydornschen Bildungstheorie. Hier knüpfen dann auch die Überlegungen von Heinz Sünker an, der dem inflationären und häufig affirmativen Bezug auf manche Schullebens-Konzepte mit einer Grundsatzkritik begegnet.
Die sich anschließenden Beiträge lenken den Blick auf das konkrete Innenleben der Schule. Alfred Bietau nimmt das verbreitete Phänomen der Langeweile zum Ausgangspunkt seiner Schulkritik und weist durch Selbstaussagen Betroffener den Beitrag der Schule zur Konstituierung jugendlicher Selbstkrisen nach. In diesem Zusammenhang steht auch Rita Marx' Anliegen, wenn sie ihre "verhaltensgestörten" Schüler zu Wort kommen läßt. Mit hermeneutischem Spürsinn wird versucht, Stigmatisierungsprozesse aus subjektiven Verarbeitungsformen zu rekonstruieren.
Ganz für sich allein spricht Schulkritisches aus Schülermund. Imke Behrend's "Traumschule", Vorstellungen, die in einem Unterrichtsprojekt von Sabine Manke entstanden sind. Nadja Raabe und Tjark Kunstreich stellen ihren Theatersketch vor. Schließlich zeigt Barbara Rose, wie tief sie als Mutter in das Schulleben ihrer Kinder verstrickt ist und es als tägliche Belastung erfahren muß.
Wie befreiend wird es da in Alternativschulen zugehen. Und doch wenden sich Tom Ziehe's Beobachtungen auf der Eltern-Lehrer-Versammlung einer Freien Schule kritischironisch gegen die "Gemütlichkeit der Szene", die mancherorts nicht viel mehr als ritualisierte Selbstgewißheit produziert.
Im Kontrast hierzu dann Frank Düchting's Versuch einer außerschulischen Bildungsarbeit mit von Arbeitslosigkeit bedrohten Hauptschülern. Der notwendig zu stiftende Zusammenhang von schulischer und außerschulischer Bildung ist auch das zentrale Thema des letzten Beitrages. Gerd Koch macht sich auf die Suche nach gesellschaftlichen Lernorten. Zurecht weist er das Lehr-Lern-Monopol der Schule zurück und deutet die Richtung an, die zur Entschulung führen kann.
Redaktion "Widersprüche", Offenbach, April 1984