Legitimationskrise der Schule - Motivationskrise der Schüler
Nicht alle Widersprüche der Schule sind schon Krisen
Heute (wieder einmal) von der Schulkrise zu sprechen, mutet wenig originell an. Solange Schulen und damit Lehrer und Schüler existieren, solange funktionieren offenbar auch deren "Krisen". Die pädagogische Reformbewegung der 20er Jahre kritisierte etwa vehement die verkopfte Lernschule, die jeder Erziehung zur freien Persönlichkeitsentwicklung widersprach. Krise wurde hier am Widerspruch zwischen wilhelminischer Staatsschule als kinderfeindlicher Dressuranstalt und originärer Pädagogik "vom Kinde aus" festgemacht: Schule als antipädagogische Institution, als eine Einrichtung gegen Kindheit und Jugend.
Siegfried BERNFELD (1), der vielleicht scharfsinnigste sozialistische Schulkritiker, sah ebenfalls die Erziehungsfeindlichkeit des staatlich organisierten Bildungswesens, spöttelte jedoch über den naiven Idealismus jener Schulreformer, die immer noch daran glaubten, daß Erziehung, Unterricht und Didaktik zum Wohle der Kinder die eigentliche Aufgabe der Schule sei. Wer so denke, meint BERNFELD, sei "abgelenkt und abseits tätig", lenke "alle Aufmerksamkeit vom Feinde" ab, vergeude nutzlos Arbeitskraft und diene damit "dem gesicherten Bestand des Bestehenden." Die eigentliche Funktion der Schule sei mitnichten eine pädagogische, nicht etwa "aus dem Zweck des Unterrichts gedacht", sondern eine zum Zweck politischer Macht- und Herrschaftserhaltung eingerichtete Institution. Deshalb können "die Lehrplan- und Unterrichts-, selbst Erziehungsfragen den Pädagogen, Ideologen, ja selbst den Sozialdemokraten überlassen" werden (S. 98). Hauptsache sei, daß nicht an den Grundfesten der Schulorganisation gerüttelt werde, was die staatliche Schulaufsicht schon zu verhindern wisse.
Noch einmal: BERNFELD - und ihm folgend auch die neue linke Schulkritik (2) - begründet die These, daß der eigentliche Lehrplan der Schule ein sich hinter den Rücken der Beteiligten durchsetzender "heimlicher Lehrplan" sei. Genau dies ist die wirkliche, wenngleich und gerade deshalb immer hartnäckig dementierte Funktion der Schule. So irrt eine liberale Kritik an der "verwalteten Schule", weil sie an der Fiktion der pädagogisch-didaktischen Funktionsbestimmung grundsätzlich festhält, etwa optimale Förderung, Emanzipation und Chancengleichheit einklagen möchte und deren Nichtvorhandensein auf dysfunktionale Störeffekte durch bürokratische Verformungen zurückführt. (3) Schule verwirklicht nicht irgendwelche pädagogischen Ziele, denn dies ist nicht ihre Aufgabe. Entgegenstehende Organisationsstrukturen sind nicht dysfunktional, sondern funktionales Erfordernis zwecks Durchsetzung gesellschaftlich erwünschter, kapitalkonformer Bewußtseins- und Verhaltensweisen.
Folgt man dieser Auffassung - und vieles, wenn auch nicht alles, spricht dafür -, kann vor dem Hintergrund des Widerspruchs zwischen organisierter und kindgerechter Erziehung auch keine Krise der Schule entdeckt werden, im Gegenteil: die entpädagogisierte Schule spricht eher für die Erfüllung ihrer gesellschaftlichen Funktionsleistungen als daß sie diese konterkariert. Allerdings darf daraus nicht geschlossen werden, daß sich externe Funktionsansprüche an die Schule intern auch immer durchsetzen. Funktionalistische Argumentationsmuster unterstellen oftmals vorschnell die Gleichsetzung von Soll- und Istzuständen und können somit abweichende Prozesse kaum plausibel begründen. Es ist aber an der theoretischen und empirischen Möglichkeit festzuhalten, daß die tatsächlichen Funktionsergebnisse sehr wohl den Absichten und angepeilten Zielen widersprechen können,
"daß Zustand- und Entwicklungsrichtung des Bildungssystems ... nicht ausschließlich durch das bestimmt sind, was an deklarierten Zielfunktionen und zielorientierten Programmen 'eingegeben' wird. (4)
Was sind nun jene Sollwerte, Absichten und Ziele des organisierten Bildungswesens? FEND nennt drei gesellschaftliche Funktionen der Schule:
"Heranwachsende sollen so qualifiziert werden, daß sie neue Träger des Arbeitsprozesses werden können (Qualifikation, W.M.), sie sollen je nach ihren Fähigkeiten auf soziale Positionen verteilt werden (Selektion, bzw. Allokation, W.M.), und sie sollen schließlich so ins politische System integriert werden, daß innerer Friede und politische Stabilität gesichert bleiben (Integration, bzw. Legitimation, W.M.)" (5)
Hier ergibt sich nun in der Tat eine erste Annäherung an das, was Schulkrise bedeuten kann. Von ihr zu sprechen lohnt sich nämlich erst dann, wenn nachgewiesen wird, daß die Schule diese Aufgaben nicht mehr bruchlos und legitimationswirksam erfüllen kann. Und noch ein weiterer Hinweis: Die Rede von gesellschaftlichen Funktionsbestimmungen der Schule blendet offensichtlich so etwas wie einen originären pädagogischen Bildungsauftrag aus. Immerhin ist dies erstaunlich, da doch in offiziellen Bekundungen und nach herrschendem Selbstverständnis aller Beteiligten der primäre Zweck von Schule Unterricht und Erziehung sei. Eine Lösung dieses vermeintlichen Widerspruchs bieten die französischen Bildungssoziologen BOURDIEU und PASSERON an (6), indem sie auf die gesellschaftliche Funktionalität einer "relativen Autonomie" des institutionalisierten Erziehungswesens verweisen. Danach deutet die Schule ihre externen Reproduktionsaufgaben in interne Eigenfunktionen um, einen Zustand, den die Autoren "funktionale Duplizität" nennen. Diese Umdeutungen verfolgen den Zweck, gesellschaftliche Integrationsleistungen dadurch erst zu ermöglichen, daß sie diese permanent dementieren. Die Bekundung, daß es in der Schule hauptsächlich pädagogisch zugehe, dient somit der Tarnung und Verschleierung ganz anderer Absichten, die dadurch den Status pädagogischer Notwendigkeiten erhalten. Die legitimatorische Kraft dieser Umdeutung liegt auf der Hand: schulinterne Maßnahmen und Organisationsstrukturen können grundsätzlich als pädagogische Interessen begründet werden. Extern angesonnene Anpassung und erziehungsrelevante Mündigkeitsversprechen werden gleichsam simultan bewältigt. Auf diese Weise reüssieren auch noch alle einschränkenden und repressiven Bedingungen des schulischen Lernens, wie z. B. unterrichtlicher Zeittakt, Leistungsdifferenzierungen, Noten, Disziplinarmaßnahmen, kurz: das gesamte Selektions- und Machtarsenal der Schule, zum pädagogischen Wohl der Schüler.
Ein weiteres Paradigma der vermuteten Schulkrise gründet auf dem cultural-lag-Syndrom der öffentlichen Erziehung. Es benennt die schlichte Tatsache, daß die Schule hinter den auf Modernität verpflichteten gesellschaftlichen Erfordernissen herhinkt. Dieses Syndrom ist das klassische Legitimationsmuster technokratischer und bildungsökonomisch motivierter Reformbemühungen. Zu erinnern ist etwa an die vielbeschworene "Bildungskatastrophe" in den sechziger Jahren, die zu hektischen Aktivitäten animierte, um den Modernitätsrückstand des bundesrepublikanischen Bildungswesens zu überwinden. Ausschöpfung von bislang brachliegenden "Bildungsreserven", mehr qualifizierte Abschlüsse durch größere Chancengleichheit, Einführung der Gesamtschule, kompensatorische Erziehungsprogramme, Curriculumrevisionen sind nur einige Stichworte des sozialdemokratischen, bzw. sozialliberalen Bildungsmodells. Doch wäre es verkürzt, derartige Reformbemühungen allein unter technokratischen Vorzeichen wahrzunehmen. Die bildungspolitische Modernisierung schloß die Einlösung von Forderungen nach einem "Bürgerrecht auf Bildung" und die Demokratisierung der Schule vor dem Hintergrund massenhafter Loyalitätsaufkündigungen durch außerparlamentarische Oppositionsbewegungen Ende der sechziger Jahre mit ein. Dies schlug sich dann auch in fortschrittlicheren Curriculuminhalten und partizipatorischen Schulverfassungsnovellierungen nieder. Insgesamt sollte die Schule auf den Stand einer modernen und aufgeklärten Gesellschaft gebracht werden mit dem politischen Ziel, den bedrohlichen Verlust von Massenloyalität durch neue Legitimationsmuster bei gleichzeitiger Bedienung kapitalistischer Verwertungsinteressen aufzuhalten. Eine vorläufige These an dieser Stelle: die Schule war damit hoffnungslos überfordert. Weder gelang es ihr, demokratische Postulate einzulösen, daß die Integrationshoffnung aufgehen konnte, noch konnte sie der ökonomischen Nachfrage nach kapitalkonformen Qualifikationen und Verhaltensweisen angemessen befriedigen, es sei denn um den Preis, Schule als Instrument der Massenloyalität zu unterlaufen. So blieb und bleibt die Schule ein Kompromiß, ein Sich-Hindurch-Wursteln durch widersprüchliche Anforderungen. Diese Verstrickung in ein strukturelles Legitimationsdilemma ist der Grund für die latente Krisenanfälligkeit der Schule.
Die Legitimationsmechanik gesellschaftlicher Herrschaft ist brüchiger geworden
Um deren Voraussetzungen zu klären, ist es notwendig, den Krisenbegriff so zu erweitern, daß er nicht nur Störungen der Systemintegration, sondern auch gleichzeitig Störungen der Sozialintegration innerhalb subjektiv wahrgenommener Lebens- und Alltagswelten umfaßt:
"Erst wenn die Gesellschaftsmitglieder Strukturwandlungen als bestandskritisch erfahren und ihre soziale Identität bedroht fühlen, können wir von den Krisen sprechen." (7)
Ob sich Bestandsgefährdungen systemischer Integrationsleistungen (was für den Schulbereich gelten würde, wenn seine gesellschaftlich erforderlichen Qualifikations-, Selektions- und Integrationsfunktionen empfindlich gestört werden) zur Legitimationskrise ausweiten, ist abhängig von
"subkulturell spezifischen Ereignisinterpretationen, die letztlich darüber entscheiden, ob und inwieweit eine individuelle Politikbetroffenheit als kollektive und alternative politische Loyalitäten mobilisierbare Betroffenheit interpretiert wird." (8)
Erst eine auf subjektive Motivationskrisen gerichtete und erweiterte Analyse der Legitimationsproblematik kann über das Konflikt- und Veränderungsverhalten Betroffener Auskunft geben.
Nach dieser Ausdifferenzierung des Krisenbegriffs ist nun zu fragen, inwieweit in der gegenwärtigen kapitalistischen Gesellschaft - und damit auch in der Schule - "strukturelle Legitimationsprobleme" (9) eingebaut sind und welche Wirkungen sie auf relevante Bevölkerungsanteile ausüben. Ausgehend von der Politisierungsthese, wonach der spätkapitalistische Staat durch seinen historisch notwendig gewordenen Funktionszuwachs in fast alle gesellschaftlichen Lebensbereiche interveniert und sich so einem erhöhten Legitimationsdruck aussetzt, verstrickt sich staatliches Handeln in den permanenten Widerspruch, mehr zu versprechen als er angesichts der restriktiven Bedingungen kapitalistischer Organisationsprinzipien halten kann. Angesichts dieser Strukturprobleme kann der Staat seine Handlungsweisen immer weniger durch normative Wertentscheidungen rechtfertigen und kompensiert diese Legitimationsunfähigkeit durch eine Palette systemkonformer "Entschädigungen".
Für breite Bevölkerungsteile wird immer deutlicher, daß die auf der Institutionalisierung demokratischer Bürgerrechte beruhenden, normativen Legitimitätsansprüche materiell nicht realisiert werden. Soweit das politische System wegen seiner demokratischen Glaubwürdigkeit gezwungen ist, an diesen Prinzipien zumindest symbolisch festzuhalten, ist der mögliche "semantische Gehalt" der Basisnormen einklagbar geworden (10) und damit ein permanentes staatliches (und schulisches) Ärgernis. Der Widerspruch zwischen Verfassungsnorm- und -Wirklichkeit kann radikaldemokratische Forderungen auslösen und signalisiert die Empfindlichkeit und Angreifbarkeit des politischen Legitimationssystems. Damit ist auch das System formal-rechtsstaatlicher Verfahrensregeln instabil geworden. "Legitimation durch Verfahren" kann zwar - bestenfalls "motivloses Akzeptieren" (LUHMANN) produzieren, jedoch kaum positiv motivbildend sein. Legitimationen, die lediglich formalen Legalitätsprinzipien gehorchen, sind prinzipiell anfällig und könnten riskante Gesetzesübertretungen provozieren, bzw. das staatliche Politikmonopol insgesamt infragestellen.
Dennoch: der Gebrauch des Konjunktivs ist wichtig, weil es keinen einlinigen Mechanismus zwischen objektiver Strukturkrise und entsprechenden Ereignisinterpretationen gibt. Politische Krisen sind keine emanzipatorischen Selbstgänger, wie wir aus leidvoller historischer Erfahrung wissen. Das empirische Alltagsbewußtsein verhindert oft genug, daß "objektive Problemlagen eine politisch relevante kollektive Deutung erfahren." (11) Die Kapitalisierung, Durchstaatlichung und Technokratisierung immer weiterer Lebensbereiche der "fordistischen" Gesellschaft (12) führt nicht automatisch zum Widerstand, sondern vor allem zur kommunikativen Verarmung und Verdinglichung der Alltagspraxis. (13) Die "Kolonialisierung der Lebenswelt" (HABERMAS), also das Vordringen systemischer Imperative in den Alltag der Menschen nach Maßgabe technisch verwertbarer instrumenteller "Vernunft", hinterläßt bei vielen ein fragmentiertes Bewußtsein, das immer weniger die zerstückelnde Handlungsorientierung in ein ideologisch stimmiges Gesamtkonzept integrieren kann. Die Auflösung von Sinnzusammenhängen und deren Entschädigungen durch sozialtechnologisch hergestellte Sinnsurrogate zwecks Etablierung einer von Praxis isolierten "kommunikativen Ersatzwelt" (14) deuten auf zunehmend gefährdete Identitäts- und Sozialisationsverläufe hin.
Und doch ist Beschädigung nur die eine Seite des Alltagslebens. Es gilt eben auch einen Rest unzerstörbarer Subjektivität, jenen Eigensinn an den Rändern des Alltagsgeschehens, der die Möglichkeit offenhält, sich "zur entfremdeten Welt auf eine nicht-entfremdete Weise" (15) zu verhalten. Wer die gesellschaftliche Lebenswelt "zu einem hermetischen Kontinuum von Repression totalisiert" (16) wird die Art der Gegenwehr in der politisch-kulturellen Praxis vor allem vieler Jugendlicher nicht verstehen können. Deshalb einige Bemerkungen zu den sozio-kulturellen Veränderungen im Sozialisationsgefüge der spätkapitalistischen Gesellschaft, die m. E. legitimations- und motivationskritische Ereignisinterpretationen begünstigt haben.
Veränderungen im Sozialisationsgefüge zerstören "alte" Motivationsmuster
Die Ungleichzeitigkeit der objektiven kapitalistischen Systementwicklung und der ihr hinterherhinkenden sozio-kulturellen Lebensmilieus ist konstitutives Merkmal des gesamtgesellschaftlichen Prozesses. Die Entkoppelung von "System" und "Lebenswelt", wie es HABERMAS in Abwandlung des marxschen Basis-Überbau-Theorems nennt, (17) kennzeichnet den Übergang von traditionellen vorkapitalistischen zu modernen industriekapitalistischen Gesellschaften. Zwar haben sich kapitalistischer Prozeß und sozio-kulturelle Lebensmilieus der bürgerlichen Gesellschaft historisch bedingt, aber sie sind nie identisch gewesen:
"Die Logik kapitalistischer Produktionsweise und die Logik tradierter Lebensformen ließen sich nicht linear voneinander ableiten, nein, sie standen sogar in einem entscheidenden Gegensatz zueinander. Aber gerade davon hat der Kapitalismus auch gezehrt. Die parasitäre Teilhabe an Tradition entlastete davon, Sinngebung und Sozialisationsarbeit selbst sicherstellen zu müssen." (18)
Erst der rasante Beschleunigungszuwachs der kapitalistischen Vergesellschaftung macht einen sozio-kulturellen "Raubbau" möglich, der die gesellschaftlich funktionalen, noch nicht vollständig durchkapitalisierten alltagsweltlichen "Pufferzonen . . ., die den schrankenlosen Modernisierungsprozeß abfederten", (19) allmählich aufweicht. Die dadurch kolonialisierte Lebenswelt zeigt gegenwärtig ihren zerstörerischen Charakter in alle Richtungen: Sie provoziert
die Auflösung bestandswichtiger kultureller Traditionen und Normen,
den Zerfall bisheriger klassischer Sozialisationsmuster,
den Schwund an konformen Motivationen und Ereignisinterpretationen
und ein sich gleichzeitiges Ausbreiten sinnentleerten psychischen Massenelends.
Unter den Vorzeichen einer Gesellschaft, der es immer schwerer fällt, den Menschen eine sinnvolle Lebensperspektive zu versprechen, für die es sich sogar lohnen würde, Bedürfnisaufschübe und vorübergehende Unfreiheiten in Kauf zu nehmen, entwickelt sich gegenwärtig in der heranwachsenden Generation ein narzistisch geprägtes Motivationsmuster des "Hier und Jetzt" mit nicht mehr jenen enttäuschungsfesten Über-Ich-Strukturen, die noch den klassischen "autoritären Charakter" kennzeichneten. Offensichtlich hat der beschleunigte Modernisierungsprozeß epochale Veränderungen im sozialpsychologischen Gefüge spätkapitalistischer Gesellschaften hervorgebracht. Wachsende affektive Versagungen in den fortgeschrittenen entfremdeten Lebens- und Arbeitsbedingungen zehren die Attraktivität des mit Triebverzicht durchsetzten, durch die väterliche Autorität repräsentierten Realitätsprinzips auf. Ein durchaus ambivalenter Prozeß, denn den Sozialisationsverlust der Familie erhöht den Einfluß "heimlicher" Erzieher und verlagert den Ablösungsprozeß der Kinder von ihren Eltern lebensgeschichtlich nach vorn. Einerseits - und dies ist die identitätsgefährdende Seite außengeleiteter Sozialisationsverläufe, sind Kinder und Jugendliche, aber auch immer mehr Erwachsene, einer gesellschaftlichen Bewußtseinsindustrie ausgesetzt, welche Menschen dazu bringt, die Sinnentleerung und den kommunikativen Verlust ihres Alltagslebens durch Hinwendung zur entfremdeten Systemrationalität einer "Schönen Neuen Welt" auszugleichen:
"Die innere Leere und Hohlheit wird wettgemacht durch eine Art Überrealismus, der vorwiegend als Anpassung an die technisch-manipulativen Aspekte des Lebens sich äußert, die seine spezifisch verdinglichte Form der Kommunikation wird. Auf diese Weise wird der Bruch zwischen Innen und Außen formal überwunden, das 'Innere' wird dem technischen Fortschritt geopfert." (20)
Andererseits erhöht sich aber auch für viele Jugendliche die Chance, in subkulturellen Nischen und Milieus, in peer-groups etc. neue Lebensstile auszuprobieren. Die gesellschaftlich möglichen Sozialisationsverläufe werden vielfältiger, uneindeutiger und widersprüchlicher. Auf das bürgerliche Über-Ich ist "kein Verlaß mehr" (BRÜCKNER), das Ich-Ideal einer lebenslänglich festgezurrten Identität wird brüchiger, subjektive Verletzlichkeiten nehmen zu. Sozio-kulturelle Freisetzung schafft aber neben neuen Lebens- und Erlebensformen immer auch
"neue Zugriffsfelder für Mechanismen der Enteignung. Was die Menschen von der historischen Möglichkeit her hinzugewonnen haben, ist immer in Gefahr, gleich wieder fremdbesetzt zu werden." (21)
Die Widersprüche und Uneindeutigkeiten der gegenwärtigen Lebensverhältnisse schlagen sich dergestalt in den gesellschaftlichen Subjekten nieder, daß der "alte", eher autoritäre Sozialcharakter von einem "neuen, eher narzistischen "Sozialisationstyp" allmählich verdrängt wird. (22)
Fast analog zum gesamtgesellschaftlichen Prozeß bleibt das narzistische Ich ebenfalls konturlos, diffus und grenzenlos. Es lehnt sich gegen vieles und auch gegen nichts mehr auf, "ist weder gut noch schlecht an sich, weder politisch, noch unpolitisch, weder progressiv noch konservativ." (23) Die grundsätzliche Offenheit dieser "frei flottierenden Subjektivität" (ZIEHE) ermöglicht manipulative Steuerungen durch kulturindustrielle Vermarktungsstrategen ebenso wie Anfälligkeiten für antidemokratische und faschistische Angebote, aber auch eine emanzipatorische, gegenkulturelle und alternative politische Praxis. Entscheidend ist daher nicht die psychische Struktur "an sich", sondern vorhandene gesellschaftliche "Klimazonen" mit konkreten Erfahrungs- und Handlungsaufforderungen.
Die Kolonisierung der schulischen Lebenswelt nagt am pädagogischen Legitimationssockel
Das Bemühen, immer mehr Entscheidungen aus dem Legitimationstest herauszuhalten, ist als Versuch zu werten, die dünne Legitimationsdecke nicht allzu schwer zu belasten. Die Schule hat hierzu eine Reihe von Vorkehrungen getroffen, die verhindern sollen, daß ihre Funktionsleistungen und deren mögliche Gefährdungen den Wahrnehmungshorizont der Betroffenen erreichen, zumindest aber ihre Anerkennungswürdigkeit zum Thema problematischer Auseinandersetzungen zu machen. Auf diese Weise soll eine inhaltsneutrale diffuse Loyalität aufrechterhalten werden, die sich von der Zustimmung der Eltern, Lehrer und Schüler unabhängig macht.
Nach NARR/OFFE gehört es zum Wesen spätkapitalistischer Herrschaftssicherung, daß sie ihren Legitimationstest gerade durch Nichtthematisierung besteht. Diffuse Massenloyalität wird dadurch erzeugt,
"das ein institutionalisiertes System sozialer und politischer Herrschaft über Mechanismen verfügt, durch die es sich selbst der wirksamen Nachprüfung seiner Legitimität entzieht. Diese Mechanismen machen es entweder (1) von der expliziten Billigung durch die Massen partiell unabhängig, indem sie systematisch verhindern, daß bestimmte Kategorien von "Einsprüchen" zu Wort kommen; oder sie setzen (2) das System in die Lage, durch die Manipulation von Einstellung und Symbolen bzw. durch die verzerrte Repräsentation von Konfliktfronten und Alternativen den benötigten positiven 'support' zu erzeugen; und sie beruhen schließlich (3) auf der Wirksamkeit formell unpolitischer gesellschaftlicher Zwangsverhältnisse, die das erforderliche Maß von Zustimmung konditionieren." (24)
Ich denke, daß die hier genannten restriktiven Loyalitätsmechanismen der Interessenmanipulation, Konfliktverschiebung und Nichtthematisierung sozialstruktureller Gewalt auch in der Schule wirksam sind. Meine These lautet, daß die Realisierung dieses Bemühens bislang durch pädagogische Inszenierungen durchgesetzt und somit das den Widerspruch zwischen Herrschaft und Bildung verschleiernde System der "funktionalen Duplizität" mit Erfolg verteidigt werden konnte: Die Bearbeitung der meisten Problemzonen und Konfliktfronten in der Schule, die ein an politischer Herrschaftssicherung ausgerichtetes, administratives Handlungsinteresse erzeugt, werden in den pädagogischen und didaktischen Bereich verschoben. Der schulische Erziehungs- und Bildungsauftrag wird also durch die Pädagogisierung schulischer Funktionsleistungen gewahrt, was - wie BERNFELD sarkastisch anmerkte - "alle Aufmerksamkeit vom Feinde ablenkt."
Es bleibt an dieser Stelle auch zu betonen, daß eine allein an objektive Systemzwecke fixierte, den pädagogischen Übersetzungsmechanismus ausklammernde Funktionsbestimmung der Schule zu kurz greift und somit die Anstrengungen und den Aufwand, schulische Qualifikations-, Selektions- und Integrationsleistungen pädagogisch zu verkleiden, übersieht. Eine Rückbesinnung auf den pädagogischen Bildungsauftrag der Schule hat nichts mit Vorstellungen gemein, die an einer zusätzlichen, vom Systemzweck freigesetzten Erziehung "sui generis" festhalten, wie manche Schullebens-Konzepte nahelegen. Die diesem Idealismus entgegenzuhaltende Annahme, daß der pädagogische Bildungsauftrag die Aufgabe hat, den Systemzweck der Schule gleichermaßen zu verklären und durchzusetzen, ist zur Identifizierung des schulischen Krisentypus von entscheidender Bedeutung. Die Krise der Schule verweist dann nicht primär auf strukturelle Schwierigkeiten, die erwünschten Funktionsleistungen auch tatsächlich zu erbringen, sondern auf die wachsende Unfähigkeit, sie pädagogisch glaubwürdig zu inszenieren. Schulkrise ist insofern eine Krise affirmativer Schulpädagogik, der es immer weniger gelingt, ihren Systemzweck hinter einem legitimationswirksamen Erziehungspathos zu verstecken. Dieser Krisentypus, den ich gegenwärtig für den wichtigsten halte, soll abschließend diskutiert werden.
Zur Erinnerung:
"Gerade weil das Bildungswesen die besondere Fähigkeit besitzt, sich selbst autonom zu setzen und sich, indem es die Vorstellung von seiner Neutralität verbreitet, Legitimität zu verschaffen, ist es in der Lage, den Beitrag, den es zur Reproduktion der bestehenden kulturellen Ordnung leistet, zu tarnen." (25)
Ich möchte drei Entwicklungslinien nennen, die dieses "Meisterstück an sozialer Mechanik" (BOURDIEU/PASSERON) gefährden:
Das immer ungeniertere Eindringen kapitalistischer Systemrationalität in die schulische Lebenswelt, was zum allmählichen Aufweichen traditioneller pädagogischer "Pufferzonen" führt.
Die Erosion sozio-kultureller Gewißheiten, die den normativen Konsens darüber, was Schule zu leisten hat, zerstört und die Schulpädagogik immer stärker verunsichert.
Die Auflösung klassischer, bislang Folgebereitschaft garantierender Motivationsmuster, was zu abweichenden und alternativen Deutungen und Ereignisinterpretationen führt.
Die Geschichte der Pädagogik lehrt eindrucksvoll, daß die schulische Erziehung immer damit beschäftigt war, äußere gesellschaftliche Einflüsse zu domestizieren. Der Schutz der Heranwachsenden vor außerschulischen "Mächten" ist nicht allein auf reformpädagogischem Humusboden gewachsen. Es war und ist das Motiv aller Beschulungsbemühungen, Kinder und Jugendliche nicht dem unmittelbaren Zugriff der Gesellschaft auszusetzen, auch wenn die jeweiligen Begründungen durchaus unterschiedlich ausfallen. Der relative Erziehungs-Schonraum, der den schrankenlosen kapitalistischen Modernisierungsprozeß abmildern soll, ist nicht als Maßnahme gedacht, pädagogische Emanzipationsvorstellungen zu verwirklichen, Schule als Spielraum und "Möglichkeit, die Welt gründlich anders zu wollen" (26) zu begreifen, sondern immer schon konstitutives Merkmal "funktionaler Duplizität" gewesen, um auf den Ernstfall Gesellschaft, so wie sie ist, vorzubereiten.
Ob die pädagogische Umdeutung gesellschaftlicher Systemansprüche tatsächlich gelingt, hängt u. a. davon ab, ob der Schule die hierzu notwendigen sozio-kulturellen Rechtfertigungsmuster in einem noch ausreichenden Maß weiterhin zur Verfügung stehen. Solange sich Schule auf einem allgemein anerkannten Polster kultureller Traditionsbestände ausruhen kann, gelingt die pädagogische Inszenierung von Lehren und Lernen ohne besondere Anstrengung. Schule zehrt dann von der Realität übergeordneter kultureller Selbstverständlichkeiten ohne ihre Lehr-Lern-Arrangements jeweils immer wieder neu zu legitimieren und auszuhandeln. ZIEHE spricht in diesem Zusammenhang von drei "Gratiskräften", welche Schule bislang vor abweichenden Realitätsdeutungen entlastet haben:
ein unbefragter Bildungskanon, der sich auf ein ideologisch geschlossenes Weltbild berufen konnte,
ein relativ unproblematisches Generationen- und Autoritätsverhältnis, welches ein eindeutig hierarchisiertes und anerkanntes Rollenhandeln aller Schulbeteiligten festlegte,
und schließlich ein selbstdisziplinierender Identitätsentwurf autoritär-sozialisierter Kinder und Jugendlicher, für die Entsagung und Unlusttoleranz selbstverständliche Bestandteile ihrer Lebensgeschichte waren.
Der gegenwärtige gesellschaftliche Modernisierungsprozeß ist nun dabei, diesen klassischen pädagogischen Legitimationssockel aufzuweichen. Der noch pädagogische Freiheit und Willkür verheißende Bildungskanon fiel technokratischen Curriculumkunstruktionen mit detaillierten Lernzielvorgaben und Evaluierungsmöglichkeiten nach Maßgabe wissenschaftlicher Erkenntnislogik zum Opfer, neue Schulverfassungsgesetze führten zu verrechtlichten und bürokratisch gesteuerten Interaktions- und Partizipationsformen. Die sich gesamtgesellschaftlich ausbreitende Generationskrise nagt zusehends am "natürlichen" Autoritätsverhältnis zwischen Lehrer und Schüler. Konnte sich Schule bislang noch auf den gesellschaftlich dominanten autoritären Sozialcharakter in dem Sinne verlassen, daß die Schüler fremdbestimmtes Lernen letztlich akzeptierten, mehren sich heute die Anzeichen offener Rebellion gegenüber diesen Lernzumutungen. Auf den in die Schule hineinschwappenden Kältestrom reagiert eine zunehmende Zahl von Schülern mit narzißtisch besetzten Subjektivitätsansprüchen bei gleichzeitiger Abwehr äußerer Realitätsanforderungen. Subjektive Verletzbarkeiten führen dazu, daß Kinder und Jugendliche immer weniger bereit sind, psychische Energie in gegenständlich-inhaltliches Lernen zu investieren, solange dieses nicht zur Bewältigung von Beziehungs- und Alltagsproblemen taugt. (27)
Schüler stellen heute sehr viel intensiver die Frage nach dem subjektiven Nutz- und Unnutzwert schulischen Lernens:
Soll ich mir das eigentlich zumuten?
Geht es mich etwas an?
Kann ich hier überhaupt lernen?
Was bringt es mir für mein gegenwärtiges Leben?
Lohnt es sich denn überhaupt noch, sich anzustrengen?
Lernen wird immer anstrengender angesichts der Schwierigkeiten, es in den persönlichen Lebensentwurf zu integrieren. Die ausbleibende "Gratisproduktion" soziokultureller Gewißheiten hinterläßt ein Vakuum, das nunmehr der Lehrer durch eigene Anstrengungen und vermehrten persönlichen Einsatz zu kompensieren hat. (28) Die Zukunftslosigkeit und Zukunftsangst vieler Jugendlicher hat ihre realistischen Gründe, denn drohende Arbeitslosigkeit, Naturzerstörung, Technologieentwicklung und Kriegsgefahr signalisieren düstere Zeiten. Die Schule, von Curriculum-Planern aufgefordert, Schüler zur Bewältigung zukünftiger Lebenssituationen zu befähigen, soziale Chancen nach der individuellen Leistungsfähigkeit zu verteilen und Loyalitäten gegenüber einer demokratisch verfaßten Gesellschaft zu sichern, ist angesichts der von Jugendlichen besonders sensibel wahrgenommenen gesellschaftlichen Krisenentwicklungen maßlos überfordert. Die sich zuspitzende Arbeitsmarktlage überschreitet immer weiter jene Schwelle, vor der sich bislang noch der disziplinierende Effekt schulischen Lernens satt und selbstgefällig ausruhen konnte. Wo selbst größte Anstrengungen und höhere Bildungsabschlüsse keine gesicherte Lebenszukunft versprechen, wo sich Traditionsbestände allmählich auflösen und den "Auraverlust" (ZIEHE) der Schule ankündigen, steht diese "nackt" und mit leeren Händen vor ihrem Klientel. Es gibt nicht mehr allzuviel anzubieten, für das es sich lohnen würde, Entbehrungen und Mühsal auf sich zu nehmen.
Was also liegt näher, daß Schüler und auch Lehrer mit gutem Recht dabei sind, Schule als Lernraum aufzuwerten. Der gegenwärtige pädagogische Büchermarkt ist angehäuft mit Publikationen über "interpretative Schulforschung", "naive Unterrichtstheorien", "Schulalltag" und "Schulleben". Sie alle machen deutlich, auf welche Weise Lehrer und Schüler mit der Institution umgehen, wie sie die Widersprüchlichkeiten interpretieren und welche Überlebenstechniken sie anwenden, um "Schule zu halten". Es wird einerseits sehr genau und realistisch der schulische Zwangscharakter eingeschätzt und kritisiert, gleichzeitig aber auch auf positive Möglichkeiten, Schule dennoch auszuhalten, hingewiesen. Im Alltagsbewußtsein ist Schule dennoch in zwei Milieus dichotomisch aufgeteilt: In eine Welt, die kontrolliert, einengt und fremdbestimmt und in eine Welt mit unkontrollierten, lustbetonten und lebensgeschichtlich bedeutsamen Erlebnisqualitäten. Schule ist somit gleichzeitig bedrängender Lernraum und befreiter Lebensraum, wo eigentlich "immer was los ist", Freundschaften geknüpft und gekündigt werden, wo man sich auf Toiletten und in Pausenecken treffen kann, heimlich rauchen, Wände beschriften, auf sich aufmerksam machen, Lehrer überlisten, mogeln und andere Schülertaktiken ausprobieren kann. Für viele Schüler ist diese "Hinterbühne" das eigentliche und einzige Lebenselexir in der Schule, die sie dementsprechend sorgsam gegenüber der "Vorderbühne" des offiziellen Schulgeschehens abschirmen. (29)
Die "Kolonisierung" und "Entauratisierung" der schulischen Lebenswelt hat den desintegrativen Folgeeffekt, daß die bislang pädagogisch inszenierte Einheit zwischen dem offiziellen Regelsystem der Schule und ihren alltäglichen Aneignungsformen durch die Schüler immer mehr entkoppelt wird und vor allem den Schülern eine Art "Doppelleben" auferlegt. Dieses erhöht zwar die Möglichkeiten für die Schüler, das Ereignis Schule ganz anders zu interpretieren, als es das offizielle Regelsystem nahelegt, jedoch vertreibt es damit auch noch die letzten Restbestände einer wie auch immer pädagogisch verzerrten kommunikativen Alltagspraxis auf dem unterrichtlichen Lernprozeß. Gemeint ist folgendes: Der normale alltägliche Umgang mit der Institution Schule ist bei Lehrern und Schülern dadurch charakterisiert, daß sie versuchen, die Funktionsregeln der Schule mit ihren eigenen Handlungsregeln zu vereinbaren, um Schule überhaupt erst aushaltbar und sinnstiftend zu erleben. Das Alltagswissen über Schule integriert damit zum einen ein Funktionswissen, was zur kompetenten Teilnahme am schulischen Regelsystem, zum anderen ein Deutungswissen, was zu seiner Akzeptanz befähigen soll. So entsteht im täglichen Umgang mit Schule ein "grober Rechtfertigungsrahmen, der erlaubt, die Einzelhandlungen mit der institutionellen Umwelt zu harmonisieren." (30)
Wenn ich von Doppelleben und Entkopplung spreche, meine ich die zunehmenden Schwierigkeiten der Schüler, ihr Funktionswissen mit entsprechenden Deutungsmustern zu besetzen. "Person" und "Rolle" erweisen sich als inkompatibel und werden voneinander abgespalten. Um die Schule auszuhalten entwickeln Schüler (und im geringen Ausmaß auch Lehrer) ihre "privaten, gruppen- und ortsspezifischen Zusatzregeln," "kleine ökologische Nischen und persönliche Depots," die im strengen Kontrast zum eigentlichen Lern- und Organisationszweck der Institution stehen. (31) Somit ist auch Schule von sozialer Spaltung und Ausgrenzung betroffen: Eine offizielle Kultur, mit der Haupthandlung auf der Vorderbühne und eine inoffizielle Subkultur mit Nebenhandlungen auf der Hinterbühne, wo Schüler ihre vom offiziellen Regelsystem vernachlässigten Kommunikations- und Selbstverwirklichungsbedürfnisse zu befriedigen versuchen. Die Kolonisierung der schulischen Lebenswelt vollzieht endgültig und radikal die Trennung von "Arbeit" und "Interaktion" der kommunikativen Verarmung der Unterrichtsarbeit entspricht die Arbeitsverarmung kommunikativen Handelns.
Die Notwendigkeit eines pädagogischen Umbaus der Schale
Schule hat ihren Anspruch, als idealer Lernort zu gelten, faktisch verloren. Was in ihr tatsächlich gelernt wird, geschieht nicht aufgrund offizieller Lehrpläne und didaktischer Konstruktionen. Gelernt wird nicht wegen, sondern trotz der Schule und gegen sie. Der Legitimationsmechanismus "funktionaler Duplizität" kann nicht mehr beliebig erneuert werden: gesellschaftliche Krisenerscheinungen und systemische Imperative dringen immer offener in die Schule ein und durchlöchern immer weiter die Reste eines hilflos ausgeworfenen pädagogischen Abfangnetzes. Ein möglicher Vergleich: Die pädagogischen Legitimationsfunktionen ähneln dem wohlfahrtsstaatlichen System der sozialen Sicherheit. Ebenso wie deren Netz die durch den kapitalistischen Produktionsprozeß entstehenden dysfunktionalen Nebenfolgen loyalitätswirksam abfangen soll, um den "inneren Frieden" zu bewahren, erhält die Pädagogik die Aufgabe, identitäts- und motivationszerstörende Auswirkungen schulischer Lernbedingungen abzumildern. In beiden Fällen sollen Protest verhindert, unzufriedene Geister durch eine Palette systemkonformer Entschädigungen und Ersatzbefriedigungen stumm gemacht werden. Die Analogie kann noch weitergetrieben werden: Die Löcher im sozialen Sicherungsnetz als Folge einer immer rabiateren Kapitalpolitik provozieren auch Widerstand gegen den wachsenden Sozialabbau. Da eine Wiederherstellung des "alten" Sozialstaates objektiv kaum mehr möglich ist, von vielen Kritikern aber auch gar nicht erwünscht wird, stellt sich die Frage nach seinem grundsätzlichen "Umbau" mehr denn je. Auch in der Schule wird die analog zur Sozialstaatskrise interessierende Frage, in welcher Richtung sich die pädagogische Krise zu entwickeln vermag, bedeutsam. Kommt es zu einer Repädagogisierung im alten Sinn, die sich zur Wiederherstellung "funktionaler Duplizität" eignet, oder aber zu einem pädagogischen Umbau, der das Legitimationsgefüge der Schule im Interesse der Schüler und außergewöhnlicher Lernmöglichkeiten verändert?
Ohne Zweifel gibt es eine Reihe von Maßnahmen mit dem Anspruch, den Schulalltag befriedigender zu gestalten. Dazu gehört etwa:
das Prinzip des "sozialen Lernens", wie es vor allem die Gesamtschulen vertreten,
die ebenfalls dort eingerichteten Tutorstunden, die Lehrern zur freien pädagogischen Verfügung stehen,
die Ausweitung von Projektzeiten, in Hamburg immerhin als "3. Säule" neben Pflicht- und Wahlpflichtunterricht anerkannt,
zusätzliche Angebote an außerunterrichtlichen Neigungskursen,
sozialpädagogische und schulpsychologische Betreuungsmaßnahmen,
diverse Versuche zur kommunikativen Belebung des Schullebens durch bauliche Veränderungen, aktive Pausengestaltung, Freizeitangebote, Ausstellungen, Schul- und Klassenfeste,
zaghaft demokratisierte Schulverfassungen zur Erweiterung von Mitbestimmung und institutioneller Autonomie.
Dies alles hört sich vielversprechend an. Dennoch ist nicht zu übersehen, daß die meisten Maßnahmen zusätzlich neben den weiterhin als unverzichtbar geltenden Lehr- und Lernverpflichtungen existieren. Dies erhöht nicht nur den Mehrarbeitsaufwand von Lehrern und Schülern, sondern verfeinert möglicherweise noch die kompensatorischen Bemühungen der Schule, ihre entfremdeten Lehr- und Lernbedingungen etwas erträglicher zu machen. Die pädagogische Gestaltung des Schullebens verfehlt aber ihre kritische Funktion, wenn sie sich in den Randzonen dauerhaft einnistet und die "Dollpunkte" schulischer Haupthandlungen unberührt läßt. Ein pädagogischer Umbau der Schule, der affirmativen Repädagogisierungsversuchen widersteht, kann nur gelingen, wenn er den täglich zu erleidenden Unterricht verändert. Sicherlich: Ein erster Schritt hierzu ist der Aufbau eines mit dem herrschenden Unterrichts- und Schulbetrieb konkurrierenden autonomen Erfahrungsbereiches. Das kontrastierende Nebeneinander "unfreier" und "freier" Lernbedingungen könnte in einem zweiten Schritt den Appetit erweitern, Schüler und Lehrer sensibler und rebellischer machen gegenüber etablierten Lehr-Lern-Verfahren und sie ermutigen, dem Organisationszweck der Schule zuwiderhandeln. Ein dritter Schritt wäre schließlich erreicht, wenn es gelänge, die noch in Nebenhandlungen erworbenen Lern- und Handlungskompetenzen auch auf der "Vorderbühne" massiv zur Geltung zu bringen. (32)
Das kritische Erkenntnis- und Praxisinteresse eines solchen Umbauprojektes orientiert sich an den Prinzipien der Subjekt-, Alltags- und Erfahrungsoffenheit, die es im Kontext emanzipatorischer Erziehung, schulkritischer Didaktik und bildungspolitischer Auseinandersetzung durchzusetzen gilt. Emanzipatorisches Lernen, verstanden als zunehmende Selbstverfügung der gesellschaftlichen Subjekte über sich und ihre Umwelt, als Behauptung gegenüber fremdbestimmten Herrschaftsansprüchen und als Anstrengung, auch unter gegebenen widerständigen gesellschaftlichen und schulischen Bedingungen, Identität zu wahren und fortzuentwickeln, muß durch die "Entschulung der Schule" (von HENTIG) unterstützt und befördert werden: Schule muß sich gegenüber ihrer Umwelt öffnen, ihr Lehr- und Lernmonopol aufgeben und es auf andere Lernorte verteilen, Laienpädagogen Einlaß gewähren, Team-Kleingruppen-Modelle einrichten, Partizipationsmöglichkeiten und schulische Autonomierechte erweitern.
Politik ist kein Pädagogikersatz - Pädagogik ist kein Politikersatz
Möglicherweise erwecke ich mit meinem Plädoyer zur "inneren Schulreform" bei manchem gestandenem Linken den Verdacht, es nun nur noch pädagogisch zu versuchen, politische Überlegungen beiseite zu schieben. Ich denke, daß dies ein Mißverständnis ist. Ich bin in der Tat der Auffassung, daß das "alte" Politisierungsprojekt u. a. daran gescheitert ist, weil viele von uns - ich schließe mich ausdrücklich mit ein - glaubten, Pädagogik ließe sich hinreichend aus gesellschaftstheoretischen und politischen Erkenntnissen ableiten. Bildungspolitik gerät aus dieser Perspektive immer mehr zum Pädagogikersatz, ein Schicksal, das wir im übrigen mit technokratischen Reformplanern zu teilen hatten. Genauso wehre ich mich aber auch dagegen, Pädagogik nunmehr zum Politikersatz verkommen zu lassen. Eine Veränderung der Schule in dem von mir skizzierten Sinn beruht sicherlich auf einer primär pädagogischen Argumentation, aber sie bedarf der Unterstützung durch nur politisch herzustellende Strukturveränderungen. Wofür ich plädiere ist, daß Schulkritik und -Veränderung auf jeder Argumentations- und Handlungsebene pädagogisch begründbar bleiben müssen. Dies ist sicherlich auch ein pragmatisch-strategisches Interesse: Linke Vorstellungen und Forderungen können sehr viel glaubwürdiger vertreten werden, wenn sie ein pädagogisches Interesse zum Ausdruck bringen. Ich denke jedenfalls, daß wir diese pädagogische Kompetenz bislang zu wenig beachtet haben, so daß dieser Bereich in den letzten Jahren zunehmend von konservativen Erziehungsmutigen besetzt werden konnte. Hier gilt es also, verlorengegangenes Terrain zurückzugewinnen.
Das Hauptargument für einen pädagogischen Umbau erschöpft sich jedoch noch nicht darin. Das Leiden von Lehrern und Schülern an der Schule hat erschreckend zugenommen. Subjektive Verletzbarkeiten, die sich in Lernunlust, Verhaltensauffälligkeiten, Schulflucht, Teilzeitarbeit, vielfältigen Wegtauch-Syndromen bis zum Selbstmord ausdrücken, sind Reaktionen auf identitätsbelastende gesellschaftliche Entwicklungen, die immer weniger mit herkömmlichen, den schulischen Organisationszweck heiligenden pädagogischen Mitteln beantwortet werden können. Wenn sich die Schulpädagogik nicht zur offenen Inhumanität instrumentalisieren lassen will, muß sie sich entgegen anderslautenden Funktionen auf ihre emanzipatorischen Aufgaben besinnen, dazu beitragen, Schule auch anders zu wollen, sich zum ständigen Ärgernis von Schulbürokraten und effizienzbesessenen Verschulungsingenieuren entwickeln, Sand in das Getriebe der kolonialisierten Lebenswelt der Schule streuen. Politisch sollte darum gekämpft werden, daß der als Unterwanderung beginnende Umbau mit ausreichendem Baumaterial versorgt wird, damit am Ende nicht nur halbfertige Ruinen herumstehen. Vor allem aber ist darauf zu achten, daß bei allem Umbauelan die Schule nicht wieder pädagogisch zugemauert werden darf. Also nicht zu hoch, nicht zu undurchlässig, nicht zu perfekt bauen, denn es gibt noch wichtigere Dinge, als in der Schule zu leben.
Anmerkungen:
S. Bernfeld: Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung. Frankfurt/M. 1967
Z. B. J. Beck: Lernen in der Klassenschule. Reinbek 1974 und K.J. Tillmann: Unterricht als soziales Erfahrungsfeld. Frankfurt/M. 1976
Vgl. A Bammé/M. Deutschmann/E. Holling: Von der Psychoanalyse zur Sozialpsychologie der Schule als Institution. In: Probleme des Klassenkampfes, H. 3/1978
C. Offe: Bildungssystem und Beschäftigungssystem. In: Deutscher Bildungsrat. Gutachten und Studien der Bildungskommission. Stuttgart 1975, S. 218
H. Fend: Theorie der Schule. München 1980, S. 229
P. Bourdieu/J.C. Passeron: Abhängigkeit in der Unabhängigkeit. Die relative Autonomie des Bildungssystems. In: K. Hurrelmann (Hrsg.), Soziologie der Erziehung. Weinheim u. Basel 1974, S. 124 ff
J. Habermas: Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus. Frankfurt/M. 1973, S. 12
T. Allert: Legitimation und gesellschaftliche Deutungsmuster. In: R. Ebinghausen (Hrsg.), Bürgerlicher Staat und politische Legitimation. Frankfurt/M. 1976, S. 225 f
Vgl. C. Offe: Strukturprobleme des kapitalistischen Staates. Frankfurt/M. 1972
Vgl. R. Döbert/G. Nunner-Winkler: Adoleszenskrise und Identitätsbildung. Frankfurt/M. 1976, S. 146
T. Allert, a.a.O., S. 230
Vgl. J. Hirsch: Der Sicherheitsstaat. Das "Modell Deutschland", seine Krise und die neuen sozialen Bewegungen. Frankfurt/M. 1980
Vgl. u. a. Th. Leithäuser: Formen des Alltagsbewußtseins. Frankfurt/M. 1976
K. Horn/J. Schülein: Interaktionsformen im organisierten Kapitalismus und ihre politische Bedeutung. In: Th. Leithäuser/W.R. Heinz (Hrsg.), Produktion, Arbeit, Sozialisation. Frankfurt/M., S. 100
A. Heller: Das Alltagsleben. Frankfurt/M. 1978, S, 15
Ebd., S. 14
J. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 2, Frankfurt/M. 1981, S. 171 ff
Th. Ziehe/H. Stubenrauch: Plädoyer für ungewöhnliches Lernen. Reinbek 1982, S. 26
Ebd., S. 28
K. Horn: Bemerkungen zur Situation des 'subjektiven Faktors' in der hochindustrialisierten Gesellschaft kapitalistischer Struktur. In: ders. (Hrsg.), Gruppendynamik und der 'subjektive Faktor'. Frankfurt/M. 1972, S. 32
Th. Ziehe/H. Stubenrauch a.a.O., S. 36
Vgl. H. Häsing u. a. (Hrsg.): Narziß. Ein neuer Sozialisationstypus? Bensheim 1979, sowie Th. Ziehe: Pubertät und Narzißmus. Fankfurt/M. 1975
Th. Ziehe: ,Ich werde gleich unheimlich aggressiv'. Probleme mit dem Narzißmus. In: H. Häsing u. a. (Hrsg.), a.a.O., S. 36
W.-D. Narr/C. Offe: Einleitung. In: dies. (Hrsg.), Wohlfahrtsstaat und Massenloyalität. Köln 1975, S. 32
P. Bourdieu/J.C. Passeron a.a.O., S. 146
H. v. Hentig: Spielraum und Ernstfall. Stuttgart 1969, S. 11
Vgl. Th. Ziehe: Warum das Lernen heute schwieriger geworden ist. In: päd. extra H. 1/1980, S. 33 ff
Vgl. Th. Ziehe/H. Stubenrauch a.a.O., S. 132
Vgl. G.-B. Reinert/J. Zinnecker (Hrsg.): Schüler im Schulbetrieb. Reinbek 1978
H. Schulte/F. Thiemann: Alltagswelt als subjektive Konstruktion. In: Bildung und Erziehung H. 5/1979, S. 432
J. Zinnecker: Die Schule als Hinterbuhne oder Nachrichten aus dem Unterleben der Schuler. In: G.B. Reinert/J. Zinnecker a.a.O., S. 30 u. S. 95
Vgl. auch Arbeitsfeld Schule Hamburg: Von der verwalteten zur autonomen Schule. In: Widersprüche H. 3/1982, S. 59 ff