Schöner Wohnen? Wohnungspolitik zwischen Markt und sozialer Daseinsvorsorge
Editorial
"Wohnen darf nicht länger Ware sein" - wer erinnert sich noch an diesen programmatischen, 1974 erschienenen Titel in der Sammlung Luchterhand? (Lienhard Wawrzyn/ D. Kramer) Offensichtlich existierte schon damals eine politische Debatte darüber, was der Markt kann, wie der Staat im Rahmen der Daseinsvorsorge im Interesse der Bürgerinnen und Bürger per Gesetz eingreifen und staatliche Wohnungsbestände schaffen oder erhalten sollte. Wohnungspolitik war und ist Teil der Sozialpolitik, schlicht deshalb, weil alle Menschen Raum zum Wohnen brauchen, ob sie arm oder reich, einheimisch oder zugewandert sind, ob sie jung oder alt, benachteiligt oder privilegiert sind. Staatliche Wohnungsbaupolitik war in den rasant wachsenden Städten des 19. Jahrhunderts zunächst Hygiene- und Gesundheitspolitik. Erst mit Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelten sich Rechtssysteme, mit denen Mieter vor der Willkür der Hausbesitzer geschützt wurden. Wohnungsbau in kommunaler Verantwortung und als Teil sozialstaatlicher Vorsorge begann nach dem ersten Weltkrieg und fand im sozialen Wohnungsbau Deutschlands im Wiederaufbau der 1950er und 60er Jahre seinen Höhepunkt. Während in anderen Ländern, v.a. in Großbritannien, das Wohneigentum auch für "kleine" Leute im Vordergrund stand, förderte die Bundesrepublik die Objekte, die Wohnungen.
Eine Wohnung zu haben, in der man anständig und gesund leben kann, einer Familie Heimat zu sein und es nicht weit zur Arbeit zu haben oder als ältere Menschen sicher und versorgt bleiben zu können, ist ein Essential sozialer Daseinsvorsorge und damit staatliche Aufgabe, die nur bedingt dem Markt überlassen werden kann und darf. Mit Wohnungen Geld zu verdienen ist ein Teil kapitalistischer Wirtschaftsweise, die, wie andere Wirtschaftszweige auch, durch Regeln und Gesetze eingehegt wird. Dort aber, wo Menschen mit geringem Einkommen günstige Wohnungen benötigen, muss der Staat selbst auf dem Markt präsent sein und Wohnungen bereitstellen oder über Subventionen niedrige Mieten ermöglichen. Dafür schafft er sich Wohnungsbaugesellschaften in verschiedenen Rechtsformen. Heute ist der staatliche soziale Wohnungsbau fast zum Erliegen gekommen. Der Skandal um die 'Neue Heimat' ist fast vergessen. Die Mieterbewegung hat sich enorm professionalisiert. Häuser werden heute weniger besetzt, dafür aber mehr besessen. Die Objektförderung ist auf Subjektförderung umgestellt worden, die die Mieten qua staatlicher Transferleistungen subventioniert.
Die Geschichte des sozialen Wohnungsbaus und der Auseinandersetzungen um den Besitz von Wohnungen begleitet die Geschichte der Bundesrepublik. Insofern verwundert es, dass die WIDERSPRÜCHE als Zeitschrift für den Reproduktionsbereich in ihrer 30 jährigen Geschichte bisher kein Heft über das Wohnen herausgebracht haben. Selbst die Hausbesetzungen der 1980er, die neuen Mieterbewegungen und die aufkommenden neuen Wohnungsgenossenschaften der 1990er konnten uns nicht animieren, sich mit diesem wichtigen Segment des Sozialstaates zu beschäftigen. Die komplizierten Fragen des "unvollkommenen" Wohnungsmarktes wurden meist unter Stadtentwicklungsfragen subsumiert (z.B.: Die Stadt als Beute, Frankfurt, 1999). Und natürlich spielte die Wohnraumversorgung für besondere Zielgruppen, z.B. Alte, Arme, Obdachlose, Jugendliche, Flüchtlinge, immer mal wieder eine Rolle in der sozialpolitischen Debatte. Aber die grundlegenden Auseinandersetzungen mit den vielfältigen Aspekten des Wohnens liefen eher in den Fachabteilungen der Ökonomie, der Architektur, des Städtebaus und der Stadtplanung.
Erst als im Zuge der durch die Steuerpolitik des Bundes herbeigeführten Verarmung der Kommunen etliche Stadtkämmerer daran gingen, den kommunalen Wohnungsbestand an Privatinvestoren zu verhökern, entwickelte sich bei den Bürgerinnen und Bürgern im Kampf dagegen wieder ein Bewusstsein davon, warum es sinnvoll und nötig ist, dass der Staat selbst auf dem Wohnungsmarkt aktiv ist, eigene Bestände vorhält, durch gezielte Förderung den Markt steuert und über Mietgesetze und Rahmenplänen der Profitmaximierung Grenzen setzt. Etliche dieser Kämpfe konnten gewonnen werden (z.B. Freiburg), in anderen Regionen wurden große Bestände privatisiert (Dresden, Ruhrgebiet). Viele Städte haben ihre Wohnungsunternehmen in Aktiengesellschaften umfunktioniert, in denen die Stadt dann die Mehrheit hält - solange sie es kann oder will. Und in etlichen Städten gibt es wieder einen deutlichen Wohnungsmangel, während, v.a. im Osten, große Bestände leer stehen oder sogar abgerissen werden müssen.
Gleichwohl dreht sich die Debatte heute eher um die Veränderung städtischer Räume durch Privatisierung, Aufwertung und Verdrängung, um ökologische Fragen, um Flächenverbrauch und Zersiedelung der Landschaften und um ein 'Recht auf Stadt', als dass das Wohnen an sich qualifiziert betrachtet würde. Dem wollen die WIDERSPRÜCHE mit dem vorliegenden Heft, im bescheidenen Maße, abhelfen. Um die stadtpolitischen Debatten qualifiziert führen zu können, braucht es politisch-ökonomische Grundlagen und eine historische Einordnung der aktuellen Entwicklung. Und es geht schließlich auch um die politischen Perspektiven: wie kann eine Dekommodifizierung gelingen, die dem Markt möglichst viele Wohnungen entzieht, über staatliche Aktivitäten, über private Projekte, Eigentumserwerb, Genossenschaften?
In einem der nächsten Hefte wenden wir uns dann den sozialpolitischen Implikationen der Veränderungen des Wohnungsmarktes für spezielle Zielgruppen zu und gehen der Frage nach, ob und entsprechend wie der Wohlfahrtsstaat mit seinen Instrumenten auf dem Wohnungsmarkt agieren kann.
Zu den Beiträgen im Einzelnen
Andrej Holm bietet einen Grundkurs in der politischen Ökonomie der Wohnungsversorgung. Im Anschluss an die Marxsche Kritik der Politischen Ökonomie stellt er die besondere Ware Wohnung und die Besonderheiten des Wohnungsmarktes vor. Die Unterschiede zur gesellschaftlichen Verfasstheit der Ökonomie anderer Waren und Märkte werden betont, da, neben den Produktionskosten, Faktoren wie Lage, Angebotssegment, Knappheit und die Rolle von Wohnungen als zinstragendem Kapital wesentlich sind. Wohnungsmärkte werden von Andrej Holm als unvollkommene bzw. systematisch versagende Märkte beschrieben, deren Funktionieren politisch von lokalen Immobilien-Verwertungskoalitionen beeinflusst wird. Politische Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten sieht Holm in Schritten der Dekommodifzierung und Vergesellschaftung der Wohnungsversorgung.
Dirk Schubert betrachtet vor diesem Hintergrund die Verschiedenheit der Wohnungsmärkte in Deutschland zwischen Leerstand in schrumpfenden Regionen und Städten einerseits und Wohnungsnot in ökonomisch wachsenden Regionen und Städten anderseits. Er beschreibt die aktuelle Lage auf dem Wohnungsmarkt ausgehend von den staatlichen Wohnungspolitiken in der ehemaligen BRD und DDR. Die Konflikte eines von Leerstand beeinflussten Wohnungsmarktes analysiert er beispielhaft an Halle, die eines von Knappheit geprägten Wohnungsmarktes am Beispiel von Hamburg. In beiden Konflikten fragt er nach den politischen Handlungsmöglichkeiten im Sinne einer sozialen Wohnungspolitik, die Disparitäten der Wohnungsversorgung auszugleichen bestrebt ist.
Volker Busch-Geertsema wendet sich in seinem Text einer konkreten und in den so genannten entwickelten kapitalistischen Ländern verbreiteten Zuspitzung der Wohnungsfrage zu, der Wohnungslosigkeit. Als Alternative zur Tradition einer sozialpädagogischen Individualisierung und Personalisierung der Wohnungslosigkeit, stellt er den politischen Ansatz des "housing first" vor. Er berichtet über die Forschungsergebnisse zu klassischen Angeboten des Wohnungslosenhilfesystems, in dem in unterschiedlichen Varianten abgestufter Hilfen der Übergang zur Normalsituation des Wohnens als Mieter vorgegeben wird. Den damit verbundenen negativen sozialen und bürger- und zivilrechtlichen Nebenwirkungen gegenüber plädiert er, ebenfalls auf Basis reichhaltiger Forschungen für eine Kombination aus unmittelbarem Zugang in normale Wohnungen und Mietverhältnisse und einer abgestimmten Begleitung der Wohnungssuchenden.
Den in den bisherigen Texten schon angesprochenen sozialen Gruppen, denen der Zugang zu Wohnraum vom Markt erschwert wird, widmet sich auch das Interview mit Leo Penta. Am Beispiel der Geschichte der Arbeitersiedlung Nehemia im New Yorker Stadtteil Brooklyn wird nachvollziehbar, wie es Initiativen von Community Organizing geschafft haben, aus einer weitgehend von der herrschenden Ökonomie zerstörten Gegend ein Viertel zu machen, das seine BewohnerInnen als lebenswert betrachten. Thematisiert werden dabei Fragen der Rolle gemeinschaftlichen Eigentums und radikaldemokratischer Einmischung genauso wie die Frage, wie "house" und "home" als zusammenhängende Aspekte der Aneignung von Wohn- und Lebensverhältnissen begriffen werden können.
Der Bedeutung verschiedener sozialer Akteure im Feld von Konflikten um die Qualität des Lebens in der Stadt widmet sich Peter Birke in seinem Beitrag. Er fragt nach den Dimensionen solcher Konflikte am Beispiel Hamburg. Dabei untersucht er die Ursachen der inzwischen nicht allein in Hamburg existenten Netzwerke, die sich "Recht auf Stadt" nennen. Er betrachtet die Bezüge dieser von vielfältigen Akteuren geprägten Konfliktartikulationen auf den sozialen Raum Stadt , fragt nach der Rolle von Wohnen und Mieten in diesem Konflikt und plädiert für eine Reflexion des gängigen Begriffs der Gentrifzierung und für ein auf politisch begründeter Solidarität erweitertes Rechts auf Stadt, das auch diejenigen Positionen einbezieht, die sich bisher nicht in der Sprache und den Formen der "Bewegungs-Aktiven" ausdrücken.
Die Redaktion