Raum-Effekte. Politische Strategien und kommunale Programmierung
Editorial
Meine Wände, Meine vier Wände. Ich brauch meine vier Wände für mich. Rio Reiser
Bereits 1996 hatte die Redaktion der WIDERSPRÜCHE in einem Schwerpunktheft sozialräumliche Perspektiven diskutiert. In Nachfolge des Manifests von neun Oberbürgermeistern bundesrepublikanischer Großstädte, die 1994 gegen die damaligen Steuerreformpläne der konservativ-liberalen Bundesregierung protestierten, hatte die Redaktion in Kooperation mit dem Arbeitskreis 'Frankfurter Sozialpolitik' der Sozialpolitischen Offensive Frankfurt (AK) die Krise der kommunalen Sozialpolitik (Heft 60) kritisch beleuchtet. Karl Koch vom Frankfurter AK hatte damals im Editorial vermerkt, dass "die Zukunft des Städtischen eher auf eine Zunahme sozialer Problemlagen und eine soziale Spaltung der Stadtgesellschaft hin(weist), die sich dann über kurz oder lang auch sozialräumlich stärker zeigen wird." Eine wieder zunehmende "soziale Spaltung" der bundesrepublikanischen Gesellschaft sei also feststellbar und dementsprechend politisch zu skandalisieren, von einer räumlichen Abbildung, einer "sozialen Segregation" im sozialen Raum könne allerdings noch nicht gesprochen werden, so Koch damals.
Fünf Jahre später scheint die Diagnose die Prognose eingeholt zu haben - zumindest, wenn man vielen sozialwissenschaftlichen und sozialpolitischen Analysen glauben will. Eine wachsende Zahl von AutorInnen geht inzwischen davon aus, dass Segregationsprozesse die deutschen Städte und Gemeinden spalten. Die Annahme "sozialräumlicher Exklusion" hat dementsprechend auch in die Wissensbestände der Ministerialbeamten in Bonn und Berlin wie bei den MitarbeiterInnen der Brüsseler EU-Bürokratie Einzug gehalten (vgl. bspw. Programm "Die soziale Stadt" des Bundesbauministeriums; Programmteil "XENOS - Leben und Arbeiten in Vielfalt" des vom Familienministerium aufgelegten Programms "Jugend für Toleranz und Demokratie"; Sozialpolitische Aktionsprogramme der EU und des Europäischen Sozialfonds).
Was tun? Als sozialpolitische Gegenstrategie zur wachsenden "sozialräumlichen Spaltung" wird von politischer Seite die Wiederbelebung der Quartiere, Stadtteile und Nachbarschaften innerhalb der zu identifizierenden "segregierten Wohnareale" vorgeschlagen (vgl. die WIDERSPRÜCHE-Hefte 75 und 76). Eine zentrale Rolle spielt in solchen Vorschlägen, bspw. im E&C-Programm des Familienministeriums, die Sozialpädagogik als "sozialraumorientierte Aktivierungsinstanz". Die Gruppe spacelab hatte in den WIDERSPRÜCHEN bereits 1997 gewarnt, dass 'sozialraumorientierte Aktivierungsstrategien' Gefahr laufen, durch die Aufnötigung von 'Entwicklungsprogrammen' räumliche Segregationsprozesse erst ordnungspolitisch zu fixieren (Heft 66). Bestes Beispiel für einen solchen Prozess ist die aktuelle Ausmessung und Einteilung der Bundesrepublik in "benachteiligte" und "nicht-benachteiligte" Areale: Glaubt man den Machern des Bundesprogramms "Die Soziale Stadt", sind aktuell 270 besonders benachteiligte Stadtteile auszumachen und sozialpolitisch wie sozialpädagogisch zu bearbeiten. Die Liste der betroffenen Stadtteile ist für jede und jeden im Internet einsehbar: Wer sich also darüber informieren möchte, ob ihr/sein Wohnraum einem "benachteiligten Areal" zugeschlagen wurde oder nicht, möge einfach nachsehen. Der Kommentar des zuständigen Arbeits- oder Sozialamtsmitarbeiters bei einem Beratungsgespräch: "Ach, Sie wohnen in XX", wird dann nicht mehr ganz so überraschend kommen.
Es ist daher notwendiger denn je, den aktuellen sozialpolitischen und sozialpädagogischen Aktivierungsstrategien kritisch nachzugehen. Diesen Versuch unternehmen die AutorInnen der Schwerpunktbeiträge dieses Heftes. Dabei stand die Redaktion vor der Situation, dass einerseits nur wenige analytische Rekonstruktionsversuche vorliegen, auf die zurückgegriffen werden kann und andererseits sozialraumorientierte Handlungskonzepte bereits in verschiedensten Projekten konzipiert sind und realisiert werden - wenn auch auf höchst unterschiedliche Arten und Weisen. Deshalb hat die Redaktion eine zweifache Vorgehensweise gewählt. In vier Theoriebeiträgen aus dem Kreis der WIDERSPRÜCHE-Redaktion wird unterschiedlichen Perspektiven der Realisierung sozialraumorientierter Politiken und kommunaler Programmierungen nachgegangen. Michael May problematisiert die aktuelle Debatte um Sozialraumorientierung vor dem Hintergrund fast vergessener theoretischer Modelle, Holger Ziegler das Zusammenspiel von kriminalpräventiven und aktivierenden Dimensionen, Fabian Kessl geht der präventiven Ausrichtung sozialraumorientierter Konzeptionen nach und Michael Lindenberg der Frage der paradoxen Intervention der aktuell in einigen Städten implementierten Sicherheitskonferenzen. Daneben wurden drei AkteurInnen, die in Tübingen, Freiburg und Lübeck an sozialraumorientierten Projektkonzeptionen bzw. deren Realisierung beteiligt sind, gebeten, in einen Dialog mit der Redaktion einzutreten: Matthias Hamberger, Peter Marquard und Susanne Samelin haben sich darauf eingelassen. Ihre ganz unterschiedlichen Reaktionen auf die Fragen der Redaktion wurden nachträglich in den dokumentierten "virtuellen Meinungsaustausch" überführt.
Die Redaktion