Paradoxien der Gleichheit
Editorial
Über Menschenrechtsverletzungen wird in unseren Medien eifrig berichtet und es scheint so, als habe der Umfang dieser Berichterstattung zugenommen. Wird aber damit auch eine Zunahme von Verletzungen der Menschenrechte angezeigt? Es ist wohl eher anzunehmen, daß ein Wechsel in der Betrachtung und Benennung politischer Ereignisse stattgefunden hat und zugleich eine taktische Verwendung der Begriffs 'Menschenrechte' um sich greift.
Bei jeder Anerkennung neuer Staaten aus dem Bereich der ehemaligen Sowjetunion oder des ehemaligen Jugoslawien stellten die westlichen Staaten allemal die Bedingung der Anerkennung und Einhaltung 'fundamentaler Menschenrechte' als unabdingbare Voraussetzung. Wie selbstverständlich setzen sich die westlichen Staaten als Hüter der Menschenrechte in Szene, unbeeindruckt von gegenteiligen Erfahrungen vieler Menschen in diesen Ländern oder von einschlägigen Berichten von Asyl-Hilfe-Gruppen, amnesty international oder Menschenrechtsorganisationen.
Aber nicht nur staatlicherseits, auch aus Kreisen oppositioneller Gruppen, sozialer Bewegungen und organisierter Minderheiten ist eine zunehmende Verwendung der Kategorie 'Menschenrechte' zu verzeichnen. In der politischen Linken dagegen war diesem Thema wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden.
Anlässe genug, diese Thematik näher zu untersuchen. Unter dem Titel "Citizenship, Human Rights and Minorities. Rethinking Social Control in the New Europe" hat die EUROPEAN GROUP FOR THE STUDY OF DEVIANCE AND SOCIAL CONTROL (1) im Herbst vergangenen Jahres eine Tagung in Padova (2) Italien, organisiert, deren wichtigste Beiträge zum Thema wir in dieser Ausgabe dokumentieren.
Die zunehmende Inanspruchnahme von Rechten, von Menschenrechten, sozialen und politischen Rechten durch soziale Bewegungen stand im Mittelpunkt des Einleitungsreferats von JUDY FUDGE (Judy Fudge, York University, Toronto, Canada (3). Sie untersuchte die Linien eines neuen Politikverständnisses oppositioneller Gruppen in USA, Kanada und Europa unter dem Oberbegriff: Politik auf der Basis von Rechten. Sie verzeichnet einen Verzicht von Kategorien wie Klasse oder Produktionsverhältnisse und ein Einschwenken auf Diskurse der 'Civil Society' in Begriffen des Rechts, insbesondere der Rechte spezifischer Gruppen wie Frauen, soziale Bewegungen oder organisierte Minderheiten. Der Rekurs auf Menschenrechte steht für die allgemeine Form universal geltender Rechte für Menschen aller Art.
Die Grundlage dieses Ansatzes verortet Judy Fudge in der Hoffnung und in dem Vertrauen seiner Träger, die Einforderung und das Einklagen liberaler demokratischer Rechte könne die hegemonialen Mächte bewegen, das Verlangen marginalisierter Gruppen anzuerkennen. Sie rechnen infolge dessen mit der Implementierung ihrer Forderungen in das rechtsstaatliche Regelwerk und damit auf gesellschaftliche Veränderung.
Zu dieser beschriebenen Position stellen sich zwei prinzipielle Fragen. Ist es, erstens, richtig, anzunehmen, die funktionale Übereinstimmung zwischen moralisch fundierten Rechtsansprüchen und dem als Rechtsstaat verfaßten herrschenden System bedeute, daß Politik auf dieser Basis schon gesellschaftsverändernd sei? Zweitens: Gibt es bestimmbare Träger, Personen oder Gruppierungen, die aus und mit der moralischen Beanspruchung von Rechten selbständig politische Strategien der Veränderung entwickeln können? Die Verfechter einer Politik auf der Basis von Rechten bejahen beide Fragen und zielen mit ihren Bemühungen auf gesetzliche und verfassungsrechtliche Verankerungen der Forderungen von Initiativen und sozialen Bewegungen. In der BRD steht die Politik der GRÜNEN weitgehend für dieses Politikverständnis.
Soziale Bewegungen gruppieren sich um spezifische Probleme, um Teilprobleme im Kontext gesamtgesellschaftlicher Problemlagen. Ihre Träger sind Gruppen von Menschen, assoziiert nach besonderen Interessen und Identitäten. Gegenüber älteren Formen klassenbewußter Politik liegt ein Vorteil dieses Ansatzes in der Respektierung der Vielfältigkeit besonderer Betroffenheiten spezifischer Gruppen, ihrer Geschichte und ihrer gesellschaftlichen Lage. Allerdings gerät dabei die Hegemonie der kapitalistischen Produktionsweise leicht aus dem Blickfeld. Nach wie vor generiert die Trennung zwischen Produktionsmittelbesitzern und Arbeitskräften Ungleichheit und Unterdrückung, wenngleich dieses Verhältnis nicht als alleiniger Produzent von Ungleichheit und Differenz anzusehen ist. Politik auf der Basis von Rechtsansprüchen kanalisiert politische Widersprüche, ohne die zugrundeliegenden Mechanismen von Unterdrückung und Unterwerfung in Frage zu stellen, geschweige denn zu bekämpfen. Politik dieser Art gerät in die Gefahr, das Ausmaß zu verdecken, in dem Kapital und Staat, ihren jeweiligen immanenten Gesetzmäßigkeiten gemäß, Fragmentierung und Ungleichheit in der Zivilgesellschaft stetig verschärfen. Indem die Verfechter einer Politik der Rechtsansprüche den universellen Aspekt des liberalen Diskurses hervorheben, unterschätzen oder negieren sie die Tatsache, daß dieser Diskurs untrennbar mit der Hegemonie der herrschenden Klasse verquickt ist.
Diese Bedenken zu einer Politik, die sich auf moralisch und interessenmäßig begründete Rechtsansprüche beruft, sollen nicht in Abrede stellen, daß es richtig ist, Rechte zu erkämpfen und zu verteidigen. Es geht um ihre kritische Analyse und ihre Einbettung in weitergefaßte politische Strategien.
Die Beiträge im ersten Abschnitt dieses Heftes untersuchen unter verschiedenen Gesichtspunkten die rechtstheoretischen und rechtspolitischen Dimensionen der Kategorie 'Menschenrechte'.
Maura de Bernart, Bologna, hebt ein fundamentales Paradox in der westlichen Konzeption von Menschenrechten hervor: sie sind kategorial universell ausgelegt, aber in ihren praktischen Realisierungen in Form sozialer, ziviler und politischer Rechte an die Rechtssysteme nationaler Staaten und die Zugehörigkeit zu einem dieser nationalen Systeme gebunden. Staats-Bürgerschaft wird zur Voraussetzung der Gewährung von Menschenrechten. Dieser Widerspruch läßt sich nur über einen gänzlich neuen Denkansatz lösen, der die westliche Sichtweise überwindet und die Ebene realer Begegnung von Individuen in ihrer jeweiligen kulturell verankerten Unterschiedlichkeit anerkennt.
Leopoldina Fortunati, Padova, verknüpft in kritischer Absicht die politischen Diskurse, die auf allgemeine Demokratisierung einerseits und auf Frauenemanzipation andererseits abzielen. Frauen führen ihren Kampf um Emanzipation noch im zugeschriebenen Rahmen eines Minderheitenstatus, ohne faktisch eine solche zu sein. Erst im Gelingen ihres Kampfes aber kann der Anspruch auf eine wirkliche Demokratisierung der Gesellschaft eingelöst werden.
In einer detaillierten Analyse untersucht John Edwards, London, die vor allem im angelsächsischen Raum diskutierten Verhältnisse und Brüche zwischen Gruppen- und Individualrechten. Stützungsmaßnahmen und Förderprogramme für unterprivilegierte Minderheiten basieren häufig auf Konzepten der Entschädigung für erlittenes Unrecht oder auf Prinzipien der Chancengleichheit, womit aber die zentrale Frage nach den Ursachen für Unrecht und Unterprivilegierung und deren Aufhebung selten gelöst ist. Für die bundesdeutsche Debatte um Quoten und Förderpläne gibt dieser Artikel einige bedenkenswerte Anregungen.
Einflußreiche Strömungen des Rechtsdenkens in der Tradition der sozialistischen Arbeiterbewegung und des Marxismus, die letztlich bestimmend für die Rechtspraxis in den Ländern des sog. Real-Sozialismus waren, klassifizierten Menschenrechte als Produkte des bürgerlichen Staates und somit als mit diesem zu überwindende Kategorie. Volkmar Schöneburg, Potsdam, zeichnet die Entwicklungslinien dieser Rechtsauffassungen nach und zeigt auf, welche fatalen Konsequenzen die These zeitigte, der 'reale' Sozialismus sei die Einlösung der Menschenrechte schlechthin.
Christopher Pollmann, Strasbourg, zeigt mit rechtstheoretischen und rechtspolitischen Überlegungen, inwieweit der so häufig beklagte Widerspruch zwischen der verkündeten Gültigkeit von Menschenrechten und ihrer so häufigen Verletzung im konkreten Einzelfall nur scheinbar existiert. Die Widersprüche sind häufig in den Texten selbst angelegt. Auf die internationale Ebene bezogen resultiert Pollmanns Untersuchung in der Feststellung, daß die verkündeten Menschenrechtskonventionen faktisch die weltweite Vorherrschaft westlicher Staaten objektivieren.
Der zweite Teil dieses Themenschwerpunktes enthält drei Berichte über aktuelle länderspezifische Problemlagen.
Vincenzo Ruggiero, London, beschreibt die delikate Lage ehemaliger Mitglieder der Roten Brigaden, die bis heute in Frankreich politisches Asyl gefunden haben.
Flüchtlinge, vor allem aus afrikanischen Ländern, die nach Italien einreisten, um dort Asyl zu finden, aber schon an den Grenzstationen als 'Inadmissable Passengers' abgefangen wurden, hinterließen, als einzige Spur ihres Hierseins, Graffitis an den Wänden ihrer kurzzeitigen Internierung. Maura de Bernart hat sie gesammelt, übersetzt und kommentiert (entnommen aus Pace, Diritti dellùomo, Diritti dei popoli (Padova), Anno V-N. 1/1991).
Markus Scholter und Hans Jörg Trenz, Saarbrücken, haben akribisch zusammengestellt, wie in der westdeutschen Rechtsprechung die soziale und politische Konstruktion des sog. "Asylmißbrauchs" schrittweise juristisch vorbereitet und legitimiert worden ist. Ein hochaktuelles Dokument zur deutschen Zeitgeschichte, zugleich aber auch ein passendes Beispiel zur Exemplifizierung der vorangehenden theoretischen Analysen dieses Heftes.
Anmerkungen:
(1) Die EGSDSC ist eine Gruppe kritischer Sozialwissenschaftlerlnnen und Praktikerinnen aller Berufsbereiche mit Aufgaben sozialer Kontrolle aus allen Ländern Europas, die sich jährlich zu einer Tagung treffen. Die WIDERSPRÜCHE arbeiten mit dieser Gruppe zusammen und haben Beiträge zu mehreren Konferenzen dokumentiert. Vgl. Heft 19: Archipel Knast, Heft 39: Neue Mauern in Europa, Heft 42: Annäherungen an Europa.
(2) In der Universität Padova, einer der ältesten Europas, trafen sich über 100 Leute aus 12 Ländern Europas. Eine Publikation aller Beiträge, in englischer Sprache, ist in Vorbereitung.
(3) Eine erweiterte Fassung des Referats liegt vor in: Judy Fudge & Harry Glasbeek The Politics of Rights. A Politics with little Class, in Social & Legal Studies (SAGE, London, Newsbury Park and New Delhi), Vol. l (1992), 45-70).