Ökologische Sozialpolitik? Eine Auseinandersetzung
Editorial
Schon wieder ein Heft über Sozialpolitik - werden sich vielleicht unsere geneigten Leser(innen) fragen?!
Ja, es geht wieder um Sozialpolitik, aber eine neue Runde ist eingeläutet. Sie kann dramatisch, entscheidend, interessant werden - je nach Blickpunkt und Beteiligung. Wir sind in einer neuen Runde der gesellschaftlichen Entwicklung, sowohl, was auf der Ebene der staatlichen Politik vorgeht, als auch, was die oppositionellen Bewegungen und Repräsentationen ins Spiel bringen.
Eine Alternative zum neuen-alten Herrschenden ist nötiger denn je, sie ist aber auch zunehmend möglich. Um beides, um die Verhältnisse der herrschenden sozialen Sicherheit, wie wir sie begreifen, und um die Alternativen geht unsere Auseinandersetzung.
Eine Alternative in der Sozialpolitik - wieso nötiger denn je?
Christlich voran
Da hat also eine Mehrheit dem "Aufschwung" ihr Vertrauen ausgesprochen. Daß dies Aufschwung für die Profite bedeutet, zuallererst Frieden und Freiheit für AKWs, Kabel und Beton, wird kaum verschwiegen. Daß die Arbeitslosen sich in Geduld zu üben haben, dafür gibt es ja den anderen, den ideellen Aufschwung. So war es in Kohls Regierungserklärung zu hören.
Die ganze Wert-Sauce der 50er Jahre, samt Fleiß, heiliger Familie und höherem Lebenssinn - aus Leistungswillen natürlich - schwappt über das zerklüftete, sozialpolitische Terrain. Doch es bleibt nicht beim Trost durch Höheres. Den Bürger muß man zum Glück der I ein wenig zwingen: Massiver Sozialabbau, bei den Renten, bei den Arbeitslosen-Leistungen, in Sozialhilfe und Ausbildungsförderung entlastet nicht nur den Kapitalaufschwung, sondern hat auch noch den Vorteil, daß klargestellt wird, wer eigentlich zu "uns" gehört, - zu den "Willigen". Für den bösen Rest dreht man ja auch schon am Demonstrationsrecht; schließlich hat ein Blüm einen Zimmermann dabei. Und was solche Aufweichungen wie Scheidungsrecht und § 218 betrifft, da sind die Schuldigen schon ausgemacht.
Kohl hat uns also sein Menü, nein, zeitgemäß einfach und deftig: seinen Eintopf serviert: Profitaufschwung als Grundrezept, mit kräftiger Spar-Einlage, reichlich Werte zugegeben und gewürzt mit populistischer Repression. Und Bild-Boenisch rührt ja auch schon mit, der ja erfahren ist im Demagogischen und im Abschießen von Un-Werten...
Verschlissenes Orange
Der "Aufschwung" hat das Vertrauen, erstmal. Da kann der Vogel noch so aufgeregt flattern und einige grüne Federn spreizen. Die SPD war und ist keine Alternative, sie ist es nicht einmal mehr für den sozialpartnerschaftlichen Facharbeiter.
Sie ist die Partei des Ein-bißchen-mehr-oder-weniger; etwas mehr Staatsnachfrage in der Austeritäts-Mischung, bitteschön, etwas weniger Raketen. Die SPD hat nicht begriffen, daß ihr ganzes "Modell" gescheitert ist: Daß ihre Modernisierungsstrategie zur Weltmarktanpassung, staatlichem "Abfedern" der sozialen Opfer und ökologischen Trümmer und von Haushaltssanierung, gerade immer mehr in das Gleis Sozialabbau und Gesellschaftsspaltung führte, in dem eben nur die CDU so richtig weiterfahren kann. Das "Keynesianische Modell" ist bankrott; der "Fortschritt", von dem man einst ein wenig abhaben konnte, walzt in der Krise seine Basis nieder und kein soziales Pflästerchen kann mehr helfen.
Und die "neuen Strategien" der SPD, wie der "2. Arbeitsmarkt"? Inseln in den Rationalisierungswellen, billig dazu und im schicken Selbsthilfe-Look.
Der grüne Floh, der sticht
Die einzige Opposition zum "Modell Deutschland" auf der parlamentarischen Bühne, das sind die Grünen. Fundamentalismus hin, Ökoreformismus her - die Grünen haben sich im vergangenen Jahr entwickelt, und zwar deutlich nach links. Ich denke vor allem an die Wirtschaftspolitik: Ihr Konzept, welches Arbeitszeitverkürzung, ökologischsoziale Arbeitsbeschaffung und Selbstverwaltung kombiniert, ist sicher noch nicht in allem spruchreif. Aber es skizziert die einzig ernstzunehmende Alternative zum zerstörerischen Export- und Modernisierungsmodell.
In der Entwicklung der Grünen hat sich gezeigt, daß, ausgehend vom "ökologischen Konflikt", auf die herrschende Produktionslogik, auf die Qualität der Technologie und Vergesellschaftungsrationalität zu kommen ist - in Kritik und Alternativentwürfen.
Das "Soziale" war bis vor Kurzem eine Fehlstelle. Leicht konnten die Grünen in die mittelständische oder A14-Ecke gedrängt werden. Das geht nun nicht mehr.
Grünsoziale Gehversuche
Die Grünen haben sich an einer sozialpolitischen Alternative versucht; es gab eine Tagung, einen Reader "Die Zukunft des Sozialstaats", es gibt Thesen: Die "ökologische Sozialpolitik" redet vom "Umbau" des Sozialstaats, gegen Abbau oder blinde Verteidigung des sozialstaatlichen Status Quo.
Die "ökologische Sozialpolitik" geht daran, eine qualitative Kritik an der bürokratisch-kompensatorischen Form der sozialen Sicherheit zu formulieren. Sie versucht eine Alternative, die Selbsthilfe und "umgebaut"-selbstverwaltete, gesellschaftliche Sicherheit verbindet, beides nicht gegeneinandersetzt. Sie versucht, in Kritik und Alternativen über den sozialpolitischen Tellerrand hinauszusehen, die herrschende Produktionslogik in den Blick zu bekommen.
Sicher ist noch vieles unklar, vieles erst so hingeworfen auf dem grünen Umbau-Plan. Aber wir sehen die Schritte.
Roter Faden auf grünem Grund
Wir, die "Widersprüche" versuchen, eine unabhängige sozialistische Position zu formulieren. Das bedeutet einerseits, daß wir unabhängig von vorschnellen Einigungszwängen und parlamentarischen Seriositäts-Überlegungen die Möglichkeit haben, zu diskutieren. Andererseits zwingt es uns dazu, genauer hinzusehen, radikaler in der Kritik zu sein und weniger selbstgewiß, denn begründet zu argumentieren, uns einzumischen in die gewundenen Prozesse der Organisierung - ohne das eindruckheischende Etikett auf dem Jackett.
In den letzten zwei Jahren hatten wir so (auch) die Sozialpolitik am Wickel. Einmal in der Diskussion in den "Widersprüchen" selbst, zum anderen sind wir eingestiegen in Auseinandersetzungen, Organisierungsversuche (mit der "Initiative Soziale Sicherheit") und Aktionen (unser Flugblatt "Aufstehen gegen den Sozial-Spar-Staat"). In der Sozialstaatsdebatte in den "Widersprüchen" bestand der rote Faden in:
- der Analyse des Sozialstaats, aus dem Prozeß der "kapitalistischen Vergesellschaftung der Reproduktion" begriffen (Heft 1);
- in der Auseinandersetzung mit den verschiedenen Gesichtern des Sozial-Spar-Staats (Heft 2);
- in der Kritik der sozialstaatlichen Rationalität, dem Ineinander von "Hilfe und Herrschaft" in Methoden, Techniken (Heft 3);
- in der Diskussion über die "Wende in Familien- und Frauenpolitik, über die "Mütterfallen" (Heft 6);
- und im Versuch, aus der Sackgasse - "Krise der sozialstaatlichen Vergesellschaftung" und "Spaltung der Gesellschaft" - Auswege in Richtung Selbstverwaltung, "alternative Hegemonie" einzuschlagen (Heft 4/5). Ein Kristallisationspunkt war und ist die Kontroverse um Selbsthilfe (Heft l, 2, 4/5).
Einige unserer Versuche, wie z. B. die Perspektive einer "sozialen Garantie", von Mindest-"Soziallohn" und Mindestrente mit egalitärem Ziel (gegen die selektierende Logik der bürokratischen Sicherheit), treffen wir im grünen "Umbau"-Projekt wieder. Nicht ohne Genugtuung sehen wir Wirkungen und Wechselwirkungen in der sozialpolitischen Debatte.
Widersprüche
Auch deshalb ist uns die "ökologische Sozialpolitik" der Grünen eine Auseinandersetzung wert, die sich einläßt, streitet und vorantreiben will. Denn, so wichtig der Schritt bei den Grünen zum "Umbau" ist, so wacklig sind noch Gerüst und Basis des Projekts, welches ja hoch hinaus will:
- Wir sehen, daß die Grünen noch viele Probleme mit der sozialen Basis einer Alternative haben, sei es im Betriebsbereich, sei es in Sozialinitiativen. Wo programmatisch mittlerweile Bögen geschlagen sind, existieren oft noch keine politischen, personellen: in Form von Einmischungen, Übergangsforderungen, Kampf um Kräfteverhältnisse. Und bisweilen schlägt die "Ferne" in Arroganz um. Zu frisch sind manche Bekehrungen...
- Wir sehen, damit zusammenhängend, Tendenzen einer "ökologischen Technokratie", wo "strategisch" oder vorschnell "realpolitisch" auf eine alternative Staatlichkeit gesprungen wird, soziale Prozesse und Bewegungen übersprungen werden. In der Debatte verstehen wir uns als linkes Korrektiv, durchaus mit Sympathie und mit Übereinstimmungen. Aber wir stehen nicht unter den Identitätszwängen des neuen Beteiligten im parlamentarisch-politischen Spiel. Wir wünschen uns, daß unsere Widersprüche zur Herausbildung einer Alternative, zum gesellschaftlichen "Umbau" beitragen, jenseits gruppen- und parteimäßiger Trennungen, trotz und gerade wegen der erreichten parlamentarischen Höhen.
Beiträge
In diesem Heft dokumentieren wir noch einmal die "Thesen zu einer ökologischen Sozialpolitik" der Grünen:
"Umbau statt Abbau des Sozialstaats", in der überarbeiteten Fassung. Daran schließt sich eine ausführliche Kritik an:
"Umbaupläne, noch in Arbeit" von Niko Diemer. Hier wird das "Umbau"-Projekt in seinen analytischen Grundlagen verfolgt ("Wachstum", sozialstaatliche Reparatur) und es werden die Stärken und Schwächen der "ökologischen" Alternative untersucht:
Erstens wird in der Auseinandersetzung deutlich, daß die Grünen jetzt nicht mehr Selbsthilfe gegen Staat, "Groß" gegen "Klein" ausspielen und Herrschaftskritik gegen Widerstand (gegen Sozialabbau) ausspielen lassen. Aber es zeigt sich auch, daß die Analyse von "Wachstum" zu kurz greift, manches in den Forderungen hilflos geraten läßt und manchen Forderungen technokratische Züge aufprägt. Oft setzen die Grünen doch sehr auf die "ökologische Vernunft", als sei mit ökologischer Zusammenschau oder "Gesamtrechnung" so einfach durchzukommen.
Zum zweiten zeigt die Kritik, daß einige der grünen Perspektiven (z. B. egalitäre soziale Absicherung statt sozialstaatliche Selektion; Integration statt Ausgrenzung) schon weit an eine Alternative heranreichen. Und die ist angesichts forcierter Sparpolitik und grassierender "Selbstverantwortung" bitter nötig.
"Gründe für eine ökologische Sozialpolitik" fuhrt Michael Opielka in seinem Beitrag anschließend aus. Er leitet den grünen "Umbau" aus einer "sozialistischen", feministischen" und "ökologischen" Linie her und setzt die Umbau-Perspektive sowohl der "Wende", als auch der Hilflosigkeit der Verteidiger des Sozialstaats entgegen.
Als vierten Beitrag "Alternative Sozialpolitik als antihegemoniale Strategie" veröffentlichen wir einen Diskussionsbeitrag des AKS Hamburg, der im Rahmen einer Zusammenarbeit mit der GAL-Fachgruppe Soziales entstanden ist.
Er untersucht im ersten Teil die "Logik" des Sozialstaats und deren Krisenmechanismen, die, Spaltungen, Ausgrenzungen, aber auch Privilegierungen hervorbringen.
Der zweite Abschnitt beschäftigt sich mit den "Agenten" des Sozialstaats, also den Leuten, die die Leistungen vermitteln. Zum Schluß versucht der AKS, anhand von drei Kriterien eine "Art Meßlatte" für alternative Sozialpolitik zu entwickeln.
Redaktion "Widersprüche" Offenbach, Juli 1983