Alternative Sozialpolitik als antihegemoniale Strategie
Im Herbst letzten Jahres vereinbarten der AKS Hamburg und die Fachgruppe Soziales der Grün-Alternativen Liste Hamburg (GAL), gemeinsam Kriterien zu entwickeln für qualitative Entscheidungen im Bereich der Sozialpolitik: Denn angesichts der Restriktionen im sozialen Sektor und unter dem Zwang, sich politisch für sehr unterschiedliche z. T. sich widersprechende Interessen entscheiden zu müssen und wollen, wurde deutlich, daß Kriterien für Alternativen fehlen. In der Folgezeit entstand deshalb das vorliegende Papier, das wir als erste Grundlage für die weitere inhaltliche Arbeit mit der GAL-Fachgruppe verstehen.
1. Krise des Sozialstaates
Wenn heute vom Sozialstaat die Rede ist, dann auch im gleichen Atemzug von dessen Krise. Will man die vielen Aspekte dieser Krise - Arbeitslosigkeit, Rentenabbau, "Selbstbeteiligung" usw. - nicht nur beschreiben, sondern auch politisch angehen, muß man sich zunächst über das Funktionieren dieses Sozialstaates im Klaren sein.
Wir untersuchen deshalb zunächst die "Logik" des Sozialstaates, um uns dann die verschiedenen Krisenmechanismen anzusehen, die Spaltungen, Ausgrenzungen und Privilegierungen hervorbringen. Besonders beschäftigen wollen wir uns danach mit den "Agenten" des Sozialstaates - den Leuten, die in den Apparaturen die "Leistungen" vermitteln (Teil 2).
Auf dieser Basis starten wir dann den Versuch, Umrisse einer alternativen Sozialpolitik zu entwickeln (Teil 3). Nach eher allgemeinen Überlegungen zu "Arbeit" und "sinnvoller Tätigkeit" versuchen wir eine "Meßlatte", d. h. drei Kriterien für Alternative Sozialpolitik, zu entwickeln.
Logik des Sozialstaats
Begriffe wie: staatsmonopolistischer Kapitalismus, kapitalistischer Staat, Spätkapitalismus heben in unterschiedlicher Weise das gleiche hervor: den enorm angestiegenen Grad der Vergesellschaftung von Produktion und Reproduktion - ohne daß damit die kapitalistische Produktionsform ihre Identität als private Aneignung gesellschaftlich produzierter Werte verloren hätte. Ebenfalls kommt in diesen Begriffen zum Ausdruck, daß die Waren nicht mehr "naturwüchsig" zu Markte gehen, sondern daß es immer mehr und weitreichenderer Interventionen des Staates bedarf, die Tauschbarkeit der Waren zu erhalten, wiederherzustellen oder zu verbessern. Besondere Bedeutung kommt dabei der Ware Arbeitskraft zu, weil sie der einzige wertschaffende Wert ist. Grundlegend für die Lebensverhältnisse der Menschen im Kapitalismus ist deshalb ihre Stellung im/zum Produktionsprozeß, d. h. unter den Bedingungen "freier" Lohnarbeit: die Fähigkeit, ihre Arbeitskraft zu tauschen. Sowohl die Voraussetzungen zum "freien Tausch" (z. B. Qualifikation der Arbeitskraft) als auch die Herstellung dieser Voraussetzungen selbst (z. B. Erstellung einer entsprechenden Infrastruktur) werden zunehmend über staatliche Interventionen vermittelt (z. B. Schul-/Ausbildungssystem) bzw. sind Gegenstand intervenierender Tätigkeit (z. B. Erhaltung der Arbeitskraft: Arbeitsschutzgesetze, bzw. ihre Wiederherstellung: Gesundheitswesen).
All diese Einwirkungen auf die Ware Arbeitskraft und auf die - zum Leidwesen des Kapitals - davon untrennbaren Menschen, wollen wir Sozialpolitik nennen. Die Konsequenz sozialpolitischer Aktivitäten war/ist die Entwicklung eines differenzierten "sozialen Sektors" (Sozial-, Bildungs- und Gesundheitsbereich). Damit sind auch politische und soziale Erwartungen der Menschen an Sozialstaat, Sozialpolitik und sozialen Sektor entstanden. Entsprechend muß sich der Sozialstaat um eine den "sozialen Frieden" sichernde Realisierung dieser Ansprüche bzw. um einen Ausgleich von Ansprüchen bemühen. Dies heißt, daß Sozialstaatlichkeit und Sozialpolitik in ihrer Logik zwar primär und ursächlich ökonomischen Prinzipien unterworfen sind (Reproduktion von Arbeitskräften), daß sie zum anderen aber ganz wesentlich an nicht-ökonomische Prinzipien, an Gebrauchswert-Kriterien wie: Lebenschancen und Lebensqualität gemessen werden!
Zwischen diesen - widersprüchlichen - Polen balanciert der Sozialstaat und seine Sozialpolitik hin und her. Die Grenzen und damit die Spannweite bürgerlicher Sozialpolitik werden gut charakterisiert durch die zehn Abschnitte des "Sozialberichts 1973", Höhepunkte sozialdemokratischer Sozialpolitik:
- Verbesserung der Arbeitsbedingungen und Arbeitsbeziehungen
- Arbeitsmarktpolitik
- Ausländerbeschäftigung
- Vermögensbildung
- Ausbau der sozialen Sicherung
- Rehabilitation
- Familien- und Jugendpolitik
- Raumordnungs-, Städtebau- und Wohnungspolitik
- Internationale Sozialpolitik
- Instrumente vorausschauender Sozialpolitik
Die mit diesem Programm verbundene "Sozialstaats-Illusion" der Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums wurde von uns damals schon theoretisch, von der SPDCDU-FDP Politik danach praktisch zerstört. Wenn wir heute von der Krise des Sozialstaats sprechen, meinen wir damit nicht, daß der Sozialstaat selbst Reaktion auf die permanente Krisenhaftigkeit der Kapitalakkumulation ist, sondern daß etwas Neues in dieser Krise liegt, was sie von früheren Krisen unterscheidet.
Zwar war es schon immer Eigenart des kapitalistischen Produktionsprozesses, vorgefundene soziale Milieus aufzulösen. Zugleich entwickelten sich immer neue sozialstaatliche "Lösungen", die daraus entstandene Risiken kompensierten (z. B. Sozial- und Krankenversicherung). Das Neue der jetzigen Krise liegt darin, daß die traditionellen sozialstaatlichen Vermittlungen nicht mehr "greifen", sondern - im Gegenteil - selbst zur Ursache weiterer Desintegration werden. Damit ist nicht nur der absolute und relative Leistungsabbau gemeint, sondern die Wirkungsmechanismen selbst: So bringt die Rationalisierung und Intensivierung der Arbeit neue Formen sozialer Ausgrenzung hervor, die als Dauerarbeitslosigkeit, Krankheit, "Dequalifikation", Abwandern in die "zweite Ökonomie" mit den traditionellen Mitteln der Sozialverwaltung nicht mehr gelöst werden können, sondern zum Teil sogar verschärft werden: Umschulung und ABM beschaffen eben keine Arbeitsplätze, sondern verschieben die Arbeitslosen von einer Kategorie in die andere. So ist die sinnlich wahrnehmbare Atomisierung der Lebenswelten in Wohnsilos und Supermärkte auch staatlicher Infrastrukturplanung geschuldet. So produzieren Schulen, Irrenanstalten und Krankenhäuser selbst wiederum eigene Sozialisationsprobleme, denen mit neuen Institutionen - Beratungsstellen, Sozialstationen usw. - abgeholfen werden soll. Anders formuliert: Die "Logik" der (Industrialisierung) Institutionalisierung sozialpolitischer Maßnahmen stößt an ihre Grenzen. Zweifel, ob das alles so weitergehen kann, wird deshalb ja nicht nur von uns geäußert:
Die konservative Kritik am Sozialstaat hat das Anspruchsdenken der Bürger und die Aufgeblätheit/Ineffektivität der Verwaltung zum Ziel. Propagiert wird der Rückzug des Staates aus möglichst vielen Bereichen öffentlicher, sozialer Verwaltung, um Selbsthilfe und Eigenverantwortlichkeit zu stärken. Der mündige Bürger wird propagiert, der nicht mehr im Anspruchsdenken gefangen ist.
Grüne Kritik am Sozialstaat sieht die Probleme z. T. ähnlich wie die konservative. Die soziale Versorgung macht den Bürger abhängig, sie entmündigt ihn. In der Folge verlieren dadurch die Menschen die Fähigkeit zu selbständiger, gemeinschaftlicher Initiative. Deshalb sollte der Staat sich zurückhalten, da seine Bürokratie durch Abgehobenheit und Anonymität weitere Probleme schafft. Die Bürokratie macht die Menschen zu beherrschbaren Objekten. Auf ihrer Tagung: "Die Zukunft des Sozialstaates" (Januar'83) sind die Grünen mit ihrer Kritik am Sozialstaat allerdings ein ganzes Stück weitergekommen:
- Die Analyse vom und Kritik am Sozialstaat ist grundsätzlicher geworden und bezieht die Logik des Sozialstaates mit ein;
- Staat und Staatstätigkeit werden nicht mehr an und für sich verteufelt und verworfen, sondern es wird die spezifische, herrschaftliche Form unserer Gesellschaft kritisiert;
- Schlagworte wie: Dezentralisierung, Eigenverantwortlichkeit, Nachbarschaftlichkeit sind nicht mehr die ausschließlichen Alternativen zur Krisenlösung, sie werden nun eingebettet - damit relativiert - in einen gesellschaftlich umfassenden Forderungs-Katalog unter der Leitlinie: Umbau statt Abbau!
Krisenmechanismen: Spaltungen, Ausgrenzungen
Die bisher formulierte Kritik bleibt zu allgemein, wenn wir nicht genau untersuchen, wie und mit welchen Mitteln Sozialpolitik umgesetzt wird.
Sozialpolitik so gesehen erscheint uns als ein Bündel von Gesetzen, Ausführungsbestimmungen, Dienstanweisungen, Geldauszahlungen, Geldeinzahlungen, Drohungen, Mahnungen, Einweisungen etc. etc.
Dieses ganze diffuse Bündel wollen wir "Organisationsmittel" nennen und unter drei verschiedenen Gesichtspunkten versuchen zu strukturieren:
- unter dem Gesichtspunkt ihrer gesellschaftlich erwünschten Funktionen,
- unter dem Gesichtspunkt des Zugangs zu ihnen, der Berührung mit ihnen,
- unter dem Gesichtspunkt der inhaltlichen Bereiche, in denen sie sich finden lassen.
- In ihrer gesellschaftlich beabsichtigten Wirkung lassen sich die Organisationsmittel nach drei Funktionen gliedern, wobei diese selten auf die bzw. in den verschiedenen Bereichen sozialpolitischer Maßnahmen gleich verteilt sind. Zum einen erfüllen sie eine kompensatorische Funktion, d. h. sie sollen zerstörerische Wirkungen der Tauschbarkeit der Ware Arbeitskraft kompensieren, ohne das System als solches anzugreifen. Es müssen also Organisationsmittel bereit stehen, die individuell erscheinende, durch die kapitalistische Arbeitsorganisation verursachte Defizite, Mängel u. dgl. mehr ausgleichen und gleichzeitig keine Gefährdung des Gesamtsystems ermöglichen, also aus - oder abgrenzen, spalten, individualisieren. (Beispiel: staatliche psychosoziale Beratungsangebote, Arbeitslosengeld (-hilfe, Wohngeld, Sozialversicherungen, Kindergeld...)
Zum anderen haben die Organisationsmittel eine subsidiäre, unterstützende Funktion, d. h. sie stellen Tauschfähigkeit und -möglichkeit der Arbeitskraft bei Ausfall wieder her und entwickeln sie weiter (Beispiel: Umschulung, Weiterbildung als Anpassung an veränderte Arbeitsbedingungen, Rehabilitationsmaßnahmen, Kindertagesheimangebot als Aufbewahrung noch nicht schulpflichtiger Kinder...)
"Last not least" sollen die Organisationsmittel die kapitalistische Gesellschafts- u. Arbeitsordnung legitimieren (legitimatorische Funktion). Sie müssen daher so gestaltet sein, daß sich eine Mehrheit der Bevölkerung mit dem System und seiner Sozialpolitik identifizieren kann bzw. sich zumindest nicht zur Wehr setzt. Sie müssen also formale Gleichheit gewähren - Chancengleichheit und Mitbestimmung -, müssen das Prinzip der Individualität und Leistung beinhalten - jeder kann, wenn er will -, müssen schließlich vorherrschenden Warencharakter unterstützen - umsonst gibts nichts, was nichts kostet ist auch nichts wert - ... (Beispiele: Vorschulerziehung, Mieter- und Sanierungsbeiräte, JoA-Klassen...)
- Der Zugang zu den Organisationsmitteln, also die Möglichkeit freiwillig oder unfreiwillig mit ihnen in Berührung zu kommen, hängt dabei ab von der sozialen Lage der Menschen als Ware Arbeitskraft einerseits (z. B. kinderreich, arbeitslos, obdachlos, krank), von den zur Verfügung stehenden Organisationsmitteln sowie der Definition ihrer Zugangsmöglichkeiten andrerseits. Sie stellen sich dar in Form von
- Eigeninitiative als Zugang durch Selbstmeldung (z. B. Kindertagesheim, Haus der Jugend...)
- Auffälligkeit als Zugang aufgrund einer Meldung durch einen anderen Teil des Staatsapparates (z. B. Polizei, Justiz, sozialer Dienst ...)
- Pflichten und Rechte als Zugang aufgrund von rechtlichen Normierungen (Schulpflicht, Sozialversicherungspflicht...)
- Inhaltlich lassen sich die Organisationsmittel in vier Bereiche unterteilen, die jeweils eine für jeden Menschen existenziell wichtige Bedeutung haben:
- Bereich der Qualifikation/Sozialisation (1)
- Bereich Wohnen (2)
- Bereich Soziale Sicherung (3)
- Bereich Soziale Kontrolle (4).
(1) Bereich: Qualifikation/Sozialisation
Zwar gelten für Herstellung und Erhaltung der Qualifikationsstruktur und der dominanten Chrakterstrukturen im Schwerpunkt je verschiedene Organisationsmittel, zugleich enthält jede Qualifikation aber auch Aspekte der Sozialisation - und umgekehrt. Dieser Bereich ist grundlegend für die aktuelle und potentielle Verwertung der Arbeitskraft. In jeder Biographie ist die Art der Qualifikation die "unabhängige Variable", von der die individuellen Reproduktionsmöglichkeiten abhängig sind. Die Organisationsmittel, die das Arbeitsförderungsgesetz (AFG) bereitstellt, sind kompensatorisch, sofern sie ein Überleben ohne Lohnarbeit zeitweise ermöglichen (Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe). Maßnahmen der Umschulung und Weiterbildung haben eher subsidiären Charakter, weil sie die Arbeitskraft an die Nachfrage des Kapitals anpassen sollten. Ihr zentraler legitimatorischer Charakter liegt auf der Hand: Arbeit ( = Lohnarbeit) als dominante Existenzform wird zur quasi natürlichen Lebensform stilisiert - mit allen dazugehörigen ideologischen Attributen: Jeder kann arbeiten, wenn er sich nur bemüht usw. Betrachten wir die gesellschaftlichen Wirkungen dieser AFG-Organisationsmittel, so können wir eine Anzahl von Ausgrenzungen und Spaltungen feststellen: Die Spaltung in Arbeitsplatzbesitzer und Arbeitslose (Blüms und Geißlers Ansatz der "neuen sozialen Frage"), die Sortierung in Arbeitswillige und Arbeitsscheue (Mißbrauchsdebatte), die Ausgrenzung von Ausländern (nur wenn sich kein Deutscher für einen Arbeitsplatz meldet, bekommt ein Ausländer ihn), die Ausgrenzung "ausbildungsunwilliger" bzw. "ausbildungsunfähiger" Jugendlicher, die Degradierung besonders der Frauen zur "stillen" Reservearmee des Kapitals usw.
Natürlich werden alle diese Wirkungen nicht vom AFG verursacht, sondern von der Anarchie der kapitalistischen Produktion. Die Kanalisierung und Legitimierung dieser sozialen Zustände jedoch erfolgt durch die Arbeitsverwaltung.
Ein weiteres Beispiel: Das Schul- und Ausbildungssystem. Besteht die subsidiäre Funktion dieses Systems in der Bereitstellung ausreichend qualifizierter Arbeitskräfte, die über die richtigen "Sekundärtugenden" (Fleiß, Pünktlichkeit, Leistungswille...) verfügen, so liegt die kompensatorische Funktion in der "leistungsgerechten" Selektion der Arbeitskräfte durch die Hierarchien des Ausbildungssystems (durch Schul- und Hochschulformen, durch gestufte Ausbildungsgänge usw.). Die legitimatorische Wirkung liegt insgesamt darin, daß dieses System es der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung ermöglicht, sich mit der Verteilung der Qualifiksationschancen zu identifizieren (z. B. Leistungs- und Aufstiegsideologie der Chancengleicheit usw.).
(2) Bereich: Wohnen (Wohngebiet, Verkehrswesen)
In der ersten Ausbauphase nach dem Krieg stand die kompensatorische Funktion des Wohnungsbaus ganz im Vordergrund: Aufbau der zerstörten Wohnungen und Eingliederung der Vertriebenen. Auf ihr basierte zugleich die legitimatorische Funktion ("sozialer Wohnungsbau"). Die subsidiäre Funktion lag vor allem im Aufbau einer autogerechten Verkehrsinfrastruktur, damit die Waren besser zum "Markt" kommen konnten (Arbeitskräfte und andere Waren). In dem Maße, wie die Auswirkungen dieser Politik - Zerstörung der Städte, Neubau-Slums, Zerstörung der Umwelt, hohe Mieten - deutlicher wurden, mußten neue Organisationsmittel gefunden werden, die die daraus resultierenden Konflikte regulierten. So sieht z. B. das neue Städtebauförderungsgesetz erstmals die "Beteiligung der Bürger" an Planungen vor, vor allem aber wurde die Planungsautorität der Staatsapparate erweitert, damit die konfligierenden Funktionen besser, d. h. hier: vor allem vorausschauender reguliert werden sollen.
Die Kapitalisierung des Wohnungsmarktes (neue Mietgesetze, Wohnungsbauförderung) sowie die an den Verwertungsinteressen des Kapitals orientierte Energie- und Verkehrsinfrastruktur setzen den staatlichen "Bemühungen" nicht nur Grenzen. Vielfach ist es umgekehrt: Die staatlichen Organisationsmittel sind die Kanäle, in denen das Kapital pulsiert: Energieunternehmen (AKW), Verkehrspolitik (hohe Preise des öffentlichen Nahverkehrs, Ausbau der Straßen, Reduzierung der Deutschen Bundesbahn, Startbahn West, Kanalbau...), Sanierungspolitik ("alternative Zerbauung" der Städte), privater Wohnungsbau (Schaffe, schaffe, Häusle baue..., Abschreibungen) u. ä. sollen Kapital anziehen, nicht gesellschaftliche Bedürfnisse befriedigen. Der ruinöse Wettbewerb der Kommunen um Industrieansiedlung, die Verslumung der Sanierungsgebiete, die "Monokultur" der bereinigten Stadtquartiere (nur Schlafen, Kaufen oder Arbeiten) produziert "arme" und "reiche" Regionen, Obdachlosigkeit und Unwirtlichkeit.
(3) Bereich: Soziale Sicherung
Die Organisationsmittel der sozialen Sicherung (von der Sozialversicherung über die Gesundheitspolitik bis zur Familienpolitik) kompensieren weitgehend die Risiken, die mit dem Verlust der Fähigkeit, seine Arbeitskraft zu tauschen, einhergehen (Krankheit, Arbeitslosigkeit, Alter, Kinder-haben, Kind-sein). Sie wirken subsidiär, wenn sie die Tauschfähigkeit wieder herstellen. Gerade die Tatsache, daß viele Errungenschaften der sozialen Sicherung Erfolge der Arbeiterbewegung (Parteien und Gewerkschaften) sind, erhöht zugleich den legitimatorischen Wert "(Sozialstaats-Illusion)". Galt dieser Bereich lange als das Paradepferd sozialer Befriedung, so ist in den letzten Jahren durch die Folgen intensivster Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft vor allem die schlechte und teure Gesundheitsversorgung immer stärker in den Bereich staatlicher "Reformmaßnahmen" gerückt.
Bei diesen "Reformen" geht es allerdings weniger um tatsächliche Verbesserungen, sondern in erster Linie um Ausgrenzungen, Reduzierungen, Umverteilungen zu Lasten der Versicherten. Konkret geschieht das dadurch, daß die Organisationsmittel so geändert werden, daß
- der Kreis der Anspruchsberechtigten verringert wird (z. B. Streichung des Schüler-BaföG, Streichung von Teilen der Weiterbildung im AFG),
- die Mittel pro Anspruchsberechtigten gekürzt werden (z. B. Renten, Sozialhilfe),
- "Eigenbeteiligung" eingeführt wird (Krankenhaus, Rezepte, Kuren),
- die Bestimmungen zur Erlangung von Leistungen heraufgesetzt werden (Arbeitslosengeld, -hilfe, Sozialhilfe),
- Umverteilungen in den Haushalten stattfinden (Bund gegen Kommunen, Sozialhilfe statt BaföG oder Arbeitslosenhilfe, Bund gegen Arbeitslosen-, Kranken- und Rentenversicherung: Verringerung des Bundesanteils, Erhöhung des Krankenkassenanteils).
Begleitmusik dieser "Reformen" ist die Denunzierung der Betroffenen als "Leistungserschleicher" und die Zumutung, "den Gürtel enger zu schnallen", damit die "Anspruchsmentalität" verschwinde. Die Betonung der Löcher und nicht der Maschen des sozialen Netzes spaltet die Gesellschaft ein weiteres Mal: In den Kern der Leistungsfähigen, Gesunden, Abgesicherten und in den "Rand" der Unfähigen, Unwilligen , Faulen und gespielten Kranken.
(4) Bereich: Soziale Kontrolle
Dieser Bereich ist zunächst ein allgemeiner, denn soziale Kontrolle wird auch in den anderen Bereichen ausgeübt. Will man die Tatsache sozialer Kontrolle weder auf bloße Herrschaftssicherung reduzieren noch als überall vorfindbaren Sachzwang verharmlosen, sondern als historisch formbestimmte verstehen, dann ist es gerechtfertigt, Teile der Sozialen Kontrolle als eigenen Bereich hervor zu heben. Gemeint sind die Staatsapparate: Parlamente, Justiz, Militär, Polizei und Verwaltungen aller Art. Sicherlich wirken auch diese Teile kompensatorisch und subsidiär, ihre zentrale Funktion ist aber die der Legitimation, d. h. die der Aufrechterhaltung der Massenloyalität. Die Mittel, die dazu verwandt werden, können repressiv sein. Tatsächlich sind sie es aber meistens nur potentiell, denn die Wirkung der Bürgerlichen Rechtsform beruht ja gerade darauf, "den Schein der Gleichstellung aller Mitglieder der Gesellschaft durch eine universelle, die Klassengrenzen nicht berücksichtigende Geltung von Rechtsnormen" zu erzeugen (Werkentin u. a. 1972, S. 226): Durch die Sicherung der zentralen Rechtsinstitute wie Privateigentum, Vertragsfreiheit und Rechtsstaatsprinzip, wird deren "Charakter als Privilegierung herrschender Klassen nicht unmittelbar preisgegeben, (sondern damit wird in erster Linie eine Sphäre des 'freien Wirtschaftens' abgesichert und erhalten), die nunmehr die wesentlichen Vermittlungen des gesamtgesellschaftlichen Reproduktionsprozesses leisten soll" (dies. S. 226). Dieser Schein der Rechtsförmigkeit ist die Bedingung für die Kriminalisierung, Psychiatrisierung und Ausgrenzung oppositioneller Minderheiten aller Art, aber z. T. auch die Basis der Gegenwehr: Verteidigung der Grundrechte, Abschaffung des § 218 StGB, § 175 StGB etc. Statt weiterer Einzelfallbeispiele für die einzelnen Bereiche lohnt ein Blick auf die Zusammenhänge dieser Bereiche - und wem diese nützen.
"Zentrumsgruppen" und "Randgruppen"
Die Wirkungsweise der sozialpolitischen Organisationsmittel in den genannten Bereichen verschleiert die bestehenden Klassengrenzen und stabilisiert diese zugleich. Hervorzuheben sind zunächst Gruppen, die von der Funktionsweise kapitalistischer Sozialpolitik direkt oder indirekt profitieren.
Sie könnten - im Gegensatz zu den "Randgruppen" - "Zentrumsgruppen" genannt werden. Der Begriff "Bourgeoisie" wäre zu allgemein und zu wenig bestimmt. Kommt die Diskussion über die Konstitution der Arbeiterklasse in den letzten Jahren auch wissenschaftlich wieder in Gang, so wird die Bourgeoisie noch immer eher impressionistisch beschrieben - z. B. im Kursbuch 42. Kennzeichnend für diese Gruppen ist, daß sie nicht nur Träger legaler politischer und ökonomischer Gewalt sind, sondern daß sie auch durch die Struktur der genannten Bereiche privilegiert sind bzw. durch sie ihre Privilegien erhalten. Sie lassen sich kurz charakterisieren durch
- hohe Qualifikation - bei den ökonomisch zentralen Gruppen auch Verfügung über Eigentum an Produktionsmitteln;
- relative Unabhängigkeit von und/oder "Nutznießer" des Ausbildungssystems;
- Unabhängigkeit in den Bereichen "Wohnen" und "soziale Sicherheit" (nicht ob jemand eine Wohnung hat oder sozial abgesichert ist, spielt hier eine Rolle, sondern deren qualitative Verbesserung).
- Im Bereich "sozialer Kontrolle" können sich diese Mitglieder - entweder durch Privilegien in anderen Bereichen oder weil sie an der Spitze entsprechender Hierarchien stehen - faktisch sozialer Kontrolle entziehen. (vergl. den sog. Flickskandal)
Für diese Gruppen gelten ganz abstrakt die Vorschriften des Bundessozialhilfegesetzes genauso, wie für den Sozialhilfeempfänger die Kartellgesetzgebung.
Spezielle Organisationsmittel, die für bestimmte ökonomische "Zentrumsgruppen" gedacht sind, haben aufgrund deren objektiver Lage kaum eine Wirkung. Als Beispiel sei das Kartellgesetz genannt: Abgesehen davon, daß diese Gruppen massiv auf die Ausarbeitung dieses Gesetzes Einfluß genommen haben und auch abgesehen davon, daß diesen Gruppen qualifizierte Stäbe zur Vefügung stehen, deren Aufgabe es ist, eben dieses Gesetz "legal" zu umgehen, sind der Wirksamkeit solcher Gesetze objektive Grenzen gesetzt: Unter dem Imperativ "wirtschaftlichen Wachstums" ( = relativ reibungslose Kapitalakkumulation) kann eine zu "scharfe" Gesetzgebung - z. B. Kriminalisierung der Kartellvergehen - ebenso dysfunktional wirken wie eine zu "schlaffe". Im ersten Falle würde der Imperativ direkt verletzt werden (Folge z. B.: Abziehung von Kapital aus den betroffenen Branchen) - im zweiten Falle würde zwar kurzfristig der Profit erhöht werden, auf die Dauer aber würde das politisch-ökonomisch dysfunktionale Konsequenzen haben (z. B. zu hohe Arbeitslosigkeit). So gesehen ist die jetzige Regelung sehr funktional, denn - wie schon durch die vielen vorgesehenen Ausnahmen im Gesetz deutlich - beschränkt sie sich im wesentlichen auf "Kontrolle" des Monopolisierungs- und Konzentrationsprozeses. Politisch-ökonomisch bedeutet das Sicherung der langfristigen Profitinteressen, politisch-legitimatorisch ein Konsens über die Herstellung von "Benimm"-Regeln der konkurrierenden Kapitalgruppen.
Tatsächlich erreicht von den Organisationsmitteln der Sozialpolitik werden diese Gruppen in der Regel nur, wenn sie es wünschen, d.h. durch Zugang aufgrund eigener Initiative (z. B. Vorschulen) oder aufgrund von Rechten (z. B. Befreiung von der Sozialversicherungspflicht) oder Pflichten (Schulpflicht). Dieser Gruppe von "Spitzensportlern" in bezug auf ihre Tauschfähigkeit (und den entsprechenden materiellen und ideologischen Attributen) folgt der "Breitensport" "durchschnittlich" gefährdeter Tauschbarkeit. Die Gefährdung ist dabei je nach Bereich unterschiedlich: (1) Bereich Qualifikation/Sozialisation: Gruppen, die wegen geringer, schlechter, nicht mehr nachgefragter Qualifikation und/oder die wegen unzureichender Sozialisation, bezogen auf die geforderten Fähigkeiten eines Lohnarbeiters, nur eingeschränkt in der Lage sind, ihre Arbeitskraft zu tauschen.
(2) Bereich Wohnen: Gruppen, die in schlechten/zu kleinen Wohnungen, Gartenlauben, Lagern und/oder in Regionen mit unzureichender Infrastruktur wohnen.
(3) Bereich soziale Sicherung: Gruppen, die nicht/ noch nicht/ noch nicht wieder/ nicht mehr in der Lage sind, ihre Arbeitskraft zu tauschen, und/oder durch die "Netze der sozialen Sicherung" erst beim Existenzminimum aufgefangen werden (Ausgesteuerte, Früh-, Sozialrentner, Invaliden).
(4) Bereich sozialer Kontrolle: Gruppen, die unter starker sozialer Kontrolle leben (z. B. Sozialhilfeempfänger), bzw. leben müssen (z. B. Anstaltsinsassen).
Gemeinsames Kennzeichen dieser Gruppen ist es, daß sie Defizite im Hinblick auf die aktuelle oder potentielle Tauschfähigkeit aufweisen. Durch die konkrete Ausprägung der Organisationsmittel, die zur Behebung oder Regelung dieser Defizite zur Verfügung stehen, werden diese als individuelle Reproduktionsprobleme definiert und nicht als kollektive, objektiv verursachte Systemprobleme. So gilt das "Haben" und die Regelung eines dieser defizitären Merkmale durchaus als "normal": z. B. individuelle Arbeitsvermittlung bei Arbeitslosigkeit; Suchen einer besseren Wohnung, wenn man eine schlechte hat - oder: "Leistungsversagen" in der Schule. Treffen jedoch die defizitären Merkmale aus mindestens zwei Bereichen auf eine Gruppe zu, so wird diese gemeinhin als "Randgruppe" angesehen: z. B. nicht "alt" - also aus dem Arbeitsprozeß ausgegliedert- macht jemand zum Marginalen, sondern z. B. "alt" und "arm"; nicht "geschieden" allein, sondern "geschieden" und "kinderreich" und "arbeitslos" machen jemanden zum Sozialhilfeempfänger. Aus dem Zusammentreffen jeweils unterschiedlich vieler solcher Merkmale läßt sich eine "Pyramide" erstellen und auch quantifizieren.
Die genaue Quantifizierung von "Randgruppen" dieser Art über die Untersuchung solcher Merkmale kann hier nicht geleistet werden, wenngleich - umgekehrt - bei den schon als "Randgruppen" definierten Gruppen wie Lagerbewohnern, Problemfamilien, ethnische Minderheiten etc. gerade diese Merkmale vorgefunden werden. Geht man weiter davon aus, daß beim Vorhandensein eines Merkmals (vor allem: nicht-nachgefragte Qualifikation) die Wahrscheinlichkeit steigt, daß weitere defizitäre Merkmale in anderen Bereichen hinzukommen, so läßt sich ermessen, welch großer Teil der Bevölkerung existenziell, d. h. in seiner Tauschfähigkeit, bedroht ist.
2. Die Agenten des Sozialstaates
Wir haben uns jetzt mit den allgemeinen und den speziellen Organisationsmitteln des Sozialstaats beschäftigt und so getan, als ob sie quasi technisch - "seelenlos" durchgesetzt würden, als ob die "Megamaschinen" des Staates automatisch funktionierten. Das tun sie natürlich nicht. In den Apparaten des Sozialstaates arbeiten einige Millionen Menschen. Keine Branche hat in den letzten Jahrzehnten derartige Zuwächse an Arbeitsplätzen - beschäftigten Menschen - gehabt, wie die Reproduktionsagenturen des Staates (dabei schließen wir die sogenannten halbstaatlichen wie gesetzlichen Krankenversicherungen mit ein). Wir können die Agenten des Sozialstaats grob in zwei Kategorien einteilen: Die einen verwalten im engeren Sinne die Daten, Mittel, Vorschriften, Anweisungen u. ä., die anderen wirken direkt auf andere Menschen ein - auf Patienten, Klienten, Auffällige, Antragsteller usw. Diese "Einwirker" sind in ihrer überwiegenden Mehrheit Lohnarbeiter des Staates, in ihrer - qualitativ allerdings bedeutenden - Minderzahl Selbständige (Ärzte, Psychologen, Rechtsanwälte). Zu den Lohnarbeitern, die irgendetwas vermitteln (Gesundheit/Krankheit - Erziehung/Anpassung - Abweichung, Behinderung/Normalität - Kriminalität/Sicherheit), gehören vor allem Ärzte, Schwestern, Pfleger in Krankenhäusern, Lehrer, Sozialarbeiter, Richter, Staatsanwälte und Polizisten. Auch wenn nicht alle zur Sozialpolitik im engeren Sinne gehören, sollten wir sie hier in ihren funktionalen Zusammenhängen sehen. Der wichtigste ist: Die Hegemonie bürgerlich-kapitalistischer Verkehrsformen zu sichern (siehe unsere Ausführungen zu Zentrums- und Randgruppen). Als Anhalt für die Bedeutung dieser Gruppen von "vermittelnden" Lohnarbeitern folgende Statistik (bürgerlich: Dienstleistungsberufe):
Absolutzahlen in Tsd.
Relativzahlen
Jahr
1950
1961
1970
1950
1961
1970
Grenzschutz-, Polizeibedienstete
114,0
133,6
603,2
0,48
0,50
2,29
Übrige Sicherheitswahrer
31,9
42,4
52,3
0,14
0,16
0,20
Anwälte, Richter, Vollzugsbeamte
44,5
64,6
72,9
0,19
0,24
0,28
Publizisten, Bibliothekare, Dolmetscher
39,7
42,9
63,2
0,17
0,16
0,24
Künstler, Artisten, Berufssportler
76,5
56,5
69,6
0,32
0,21
O,26
Dekorateure, Innenarchitekten, Fotografen
45,2
70,2
84,4
0,19
0,27
0,32
Ärzte, Zahnärzte, Tierärzte
107,1
119,5
141,2
0,46
0,45
0,54
Apotheker
17,1
22,6
26,0
0,07
0,09
0,10
Krankenschwestern, Krankenpfleger
181,6
2l6,7
273,5
0,77
0,82
1,04
Sprechstundenhelfer, MTA, Masseure u. ä.
56,0
98,2
188,5
0,24
0,37
0,71
Erzieher, Sozialarbeiter, Sozialpädagogen
68,0
96,8
154,7
0,29
0,37
0,59
Lehrer
249,2
317,1
461,6
1,06
1,20
1,75
Übrige geistes- und naturwissenschaftliche Berufe
9,2
11,3
39,4
0,04
0,04
0,15
Seelsorger, Seelsorgehelfer
74,5
67,2
51,8
0,32
0,25
0,20
Friseure, Kosmeriker und andere Körperpfleger
142,7
212,8
231,4
0,61
0,80
0,88
1257,3
1572,5
2513,7
5,35
5,93
9,55
aus: Badura/Gross, Sozialpolitische Perspektiven, München 1976
Die hegemonielle Aufgabe dieser Gruppen besteht im wesentlichen in zweierlei:
- Die Herstellung und Erhaltung "spontaner" Zustimmung der Bevölkerungsmehrheit gegenüber den herrschenden Orientierungen und Ideologien in ökonomischen (freie Marktwirtschaft), politischen (Parlamentarismus) und kulturellen Bereichen (Individualismus).
- Ausübung des staatlichen Gewaltmonopols, das "'legal' die Disziplin derjenigen Gruppen gewährleistet, die weder aktiv noch passiv ihre 'Zustimmung' geben" (GRAMSCI, 1967, S. 228): Kriminelle, Verrückte und antihegemoniale Gruppen.
Geht man von dieser Aufgabenbestimmung aus, so liegt der verbreitetste methodische Fehler in der Analyse der heilenden, pädagogischen und helfenden Berufe darin, an ihren scheinbaren und tatsächlichen "Gebrauchswerten" (nämlich Gesundheit, Erziehung und Hilfe) anzusetzen, also an der
"Spezifik ihrer Tätigkeiten ... und nicht im ganzen System der Beziehungen, in dem sie und damit Gruppen, die sie repräsentieren, als Teil des Gesamtkomplexes der gesellschaftlichen Beziehungen ihren Platz finden. Alle Menschen sind Ärzte, Pfleger, Lehrer, Sozialarbeiter, Therapeuten usw., könnte man deshalb sagen; aber nicht alle Menschen haben in der Gesellschaft die Funktion von Ärzten, Pflegern, Lehrern, Sozialarbeitern, Therapeuten usw." (GRAMSCI, 1967, S. 225 - Textvariante: im Original steht "Intellektuelle" statt "Ärzte, Pfleger...").
Der soziale und politische Ort der sozialpolitischen Staatsapparate und deren Agenten sind die beiden "Geschosse des Überbaus":
1 Etage: Die bürgerliche Gesellschaft mit ihren "privaten" Organisationen, wie Kirchen, Verbänden, Vereinen, Versicherungen aber auch Familien, Bürgerinitiativen usw.
2. Etage: Die politische Gesellschaft oder Staat, also Verwaltung, Regierung, Justiz, Polizei, Militär, Bildungswesen usw.
Diese beiden Geschosse sind im staatsinterventionistischen Kapitalismus zu einem komplexen Hochhaus geworden, das direkt mit allen Etagen der Produktion verbunden ist, denn nur so kann die politische, ökonomische und kulturelle Hegemonie noch gewährleistet werden. Genausowenig wie die Hegemonie von einer personal identifizierbaren Bourgeoisie durchgesetzt wird (Gramsci spricht vom herrschenden Block - wir können heute vom "Modell Deutschland" mit seinen herrschenden Blöcken sprechen), können antihegemonielle Positionen nur der (Fach-)"Arbeiterklasse" zugesprochen werden.
Der Grabenkrieg um die Hegemonie in unserer Gesellschaft läuft quer durch alle Produktionsstätten, Verwaltungen, Schulen, Einrichtungen. All diese Apparate sind durch die gleiche grundsätzliche Organisationsform gekennzeichnet: die Bürokratie. Wenn auch die Organisationssoziologie viele Varianten der Bürokratie herausgefunden hat, so bleiben doch die wesentlichen Kennzeichen dieselben:
- Hierarchisierung mit der zentralen Verfügungsgewalt an der Spitze;
- Trennung der Produzenten von der Verfügung über das Produkt;
- Zerteilung und Aufteilung der Arbeit in Abteilungen und Hierarchieebenen;
- Unpersönlichkeit des Ablaufs der Arbeit.
In den bürokratischen Agenturen der Sozialpolitik (und nicht nur dort) gilt: Wer den höchsten Status hat innerhalb der Hierarchie, hat die höchste Kompetenz (Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit) und umgekehrt: wer Kompetenz haben möchte, muß seinen Status verbessern. Entweder über individuellen Aufstieg oder durch Höhergruppierung ganzer Gruppen - z. B. Lehrer. Das Dogma der Einheit von Handlungskompetenz und Status macht es unmöglich, die Probleme von Effizienz und Kontrolle anders zu lösen als durch Hierarchisierung und Spezialisierung. Sieht man jedoch in der Handlungskompetenz den Aspekt der gesellschaftlich notwendigen Arbeit und im Status den der herrschaftlich notwendigen Kontrolle, so liegt es nahe, beide Aspekte zumindest analytisch zu trennen. Anzusetzen wäre dann an den fortschrittlichen Inhalten der Handlungskompetenz: anderen Menschen etwas beibringen, ihnen helfen, sie zu heilen.
Bürokratisch heißt das entsprechend:
- alle Tendenzen zu horizontaler Kooperation und Kommunikation zu unterstützen;
- Hierarchien informell oder außerinstitutionell zu umgehen (Initiativen, politische und gewerkschaftliche Gruppen);
- Gleichberechtigte Zusammenarbeit mit Betroffenen bzw. deren Gruppen, ebenfalls innerhalb (was schwerer ist) als auch außerhalb der Agentur (z. B. Sonderschullehrer in Behinderten- oder Sozialhilfegruppen).
Warum sollte es nicht möglich sein, daß ein Sozialarbeiter Aufgaben von Erziehern übernimmt - und umgekehrt? Das gleiche gilt für den Arzt und für den Pfleger, den Sozialarbeiter und Gefängniswärter, für das pädagogische Personal wie für das technische Verwaltungs- und hauswirtschaftliche Personal. Das würde zwar eine Reihe von Statusinkonsistenzen mit sich bringen, ist aber nicht nur denkbar, sondern schon in einer ganzen Reihe von Modellen verwirklicht: zu denken wäre hier vor allen Dingen an die demokratische Psychiatrie in Italien und an die Schule von Barbiana, an die Tvind-Schule in Dänemark und bei uns - allerdings bescheidener - an bestimmte Formen der Drogentherapie, der selbstverwalteten Jugendzentren, einige Ansätze reformierter Heimpädagogik und an Gemeinschaftspraxen. Es liegt auf der Hand, daß so verstandene Handlungskompetenz nicht die Kompetenz Einzelner sein kann, sondern nur das Ergebnis koordinierten Zusammenwirkens und Zusammenhandelns.
Aus allen Untersuchungen sozialpolitischer Einrichtungen/Organisationen wissen wir - zumal wenn es sich um totale Institutionen (Krankenhäuser, Knaste) oder um tendenziell totale Handlungssituationen (wie in der Jugend- und Familienfürsorge) handelt -, daß ihre Wirkung auf die Betroffenen in erster Linie nicht von der Kompetenz oder Inkompetenz des Einzelnen abhängt, sondern von ihren tatsächlichen Wirkungszusammenhängen: den "heimlichen Methoden" dieser Einrichtungen. Ebenfalls wissen wir von allen erfolgreichen Gegenmodellen, von der therapeutischen Gemeinschaft bis hin zu Ansätzen stadtteilorientierter Sozialarbeit, daß neben der weitgehenden Aufgabe der Hierarchie und traditioneller Arbeitsteilung es unabdingbar ist, alle Aspekte des pädagogischen Handelns bzw. der therapeutischen Einwirkung mit zu berücksichtigen: von der Lage einer Einrichtung über die architektonische Gestaltung bis hin zu dem täglichen Ablauf der Versorgung, Reinigung usw. Natürlich ergeben sich damit auch neue Probleme der Kontrolle; diese liegt wesentlich im kollektiven Entscheidungsprozeß selbst und ist damit ein Stück Abbau von Herrschaft. Daß gerade dieser Punkt bei den Verbänden, Finanziers und sonstigen Trägern auf schärfsten Widerstand stößt, ist erklärlich.
3. Umrisse einer Alternativen Sozialpolitik
"Arbeit" und "sinnvolle Tätigkeit"
Die Reduktion von Arbeit im Kapitalismus auf Lohnarbeit ("Arbeit sans phrase") bezeichnet den stummen Zwang der Verhältnisse und die reale empirische Bedeutung von Arbeit zugleich. Es gibt keine stoffliche, ökonomische, kulturelle oder soziale Tätigkeit, die nicht auch in bestimmten Zusammenhängen Lohnarbeit sein kann (Tischler-Hobby, Musik-Musikant, Autofahren-Kraftfahrer, Mutter-Erzieherin, Kochen-Koch, Nähen-Schneider...). Lohnarbeit erscheint dabei als individuelles Arbeitsvermögen. Denn durch die Lohnform, durch Konkurrenz der Lohnarbeiter untereinander, durch Trennung der Lebenssphären, durch Intensivierung und Zeittakt fällt es subjektiv schwer, ist es häufig unmöglich, Arbeit als sinnvolle Tätigkeit zu erfahren. Durch den Produktionsprozeß selbst und/oder die bürokratische Organisation der Arbeit erscheint diese als isolierte, auf und über Sachen bezogene. Diese Verkehrung wird deutlich, wenn wir uns einem im Kapitalismus immer eher "subversiven" Aspekt von Arbeit zuwenden: dem der Kooperation: Arbeit beinhaltet auch immer eine stoffliche und/oder kommunikative Beziehung der Arbeitenden untereinander (die häufig in informellen Bahnen verläuft und "unbewußt" geschieht). Aus den "human-relations"-Untersuchungen u. ä. wissen wir, daß dieser Tatsache manipulativ Rechnung getragen wird, um darüber noch zu höherer Leistung zu gelangen.
Hier liegt u. E. der Ansatzpunkt, "befreite Arbeit" nicht in die Phantasien einer (wenn auch konkreten) Utopie zu verlagern, sondern an den subjektiven, heute gemachten, wenn auch konflikthaften Erfahrungen anzusetzen. "Arbeit" in der Bedeutung von sinnvoller, kooperativer Tätigkeit könnten wir dann vom aufgeherrschten Zwang der Lohnarbeit trennen und heute schon viele Ansätze sinnvoller Tätigkeiten beschreiben:
- die Arbeit in Initiativen
- horizontale Kooperation in den Betrieben
- kollektive Lern- und Erziehungsprozesse
- gebrauchswertorientiertes Produzieren
- Beziehungsarbeit in subjektiv verarbeiteten Zeitperspektiven, Haus-Arbeit
- Tätigkeiten mit neuen Zeit- und Mittel-"Ökonomien"
- ...
Auf der Basis eines hier nur angedeuteten Arbeitsbegriffes kommen wir dann vielleicht von einer Alternativen Sozialpolitik zu einer Alternative zur Sozialpolitik. Das würde auch bedeuten, die Zweiteilungen von Ökonomie und Politik, von Öffentlichkeit und Privat und deren Folgen neu zu durchdenken und andere Formen der Vergesellschaftung zu entwickeln als die der Verstaatlichung und Bürokratisierung. Solche Ansätze würden gegen die alle gesellschaftlichen Bereiche durchzogene Hegemonie der reelen und formellen Subsumption unter das Kapital gerichtet sein. Ansätze einer derartigen antihegemonialen Vergesellschaftung wollen wir hier skizzieren.
Versuch der Entwicklung einer "Meßlatte" Alternativer Sozialpolitik
Wie unser Teil l zeigt, fällt es uns viel leichter, in der Tradition der Bestanderhaltung des Systems zu denken und zu kritisieren, als diese Zusammenhänge "umzudrehen". Wie am Beispiel des Arbeitsbegriffes skizziert, kommt es darauf an, nach den Brüchen, Widerständen und gegenläufigen Entwicklungen zu suchen und zu fragen, wie diese unterstützt bzw. politisch ausgeweitet werden können. Eine derartige "Umdrehung" versuchen wir anhand der drei Funktionen sozialpolitischer Maßnahmen:
- Die "kompensatorische" Funktion hatten wir definiert als die Neutralisierung der zerstörerischen Wirkungen der "Tauschbarkeit" (Schutz vor Krankheit, Alter, Armut, bei Kindsein, Kindhaben...). Das heißt umgekehrt: Die Betroffenen sollen trotz "Nicht-Tauschbarkeit" ihrer Arbeitskraft "leben" können! Geld, Medikamente, soziale Beziehungen sind also die "Gebrauchswerte" dieser Funktion, wenn wir mal die damit zusammenhängende Individualisierung und Personalisierung der meisten Maßnahmen beiseite lassen. Gebrauchswertorientierung als positiver Ansatz- (Kontra-)punkt bedeutet also: Erziehen, Haushalten, Heilen, Altwerden, Gesundwerden, Arbeiten, (ohne Lohnarbeit) usw. den "kompensatorischen" Lösungen gegenüberzustellen.
- Die "subsidiäre" Funktion ist nicht so sehr Gegensatz, sondern eher (historisch gesehen) Weiterentwicklung der "kompensatorischen". Wir hatten sie als die verwertungskonforme Reorganisation und Weiterentwicklung der Bedingungen der Tauschbarkeit definiert. Hier geht es also nicht um die (letztlich) ausgrenzende, sondern um die ins herrschende System und die herrschende Logik integrierende Funktion. "Subsidiäre" Funktion ist damit gleichbedeutend mit der enormen Ausweitung der reproduktiven Staatsapparate. Ausweitung in diesem Sinne bedeutet bürokratisierte und hierarchisierte Arbeitsteilung unter den "Agenten des Sozialstaats" auf der einen Seite, Zurichtung, Zerstückelung der Betroffenen in "Klienten" und "Fälle" auf der anderen Seite.
Wollen wir nun den positiven Ansatz- (und Kontra-)punkt der "subsidiären" Funktion herausarbeiten, so müssen wir den herrschaftlichen Status der "offiziellen Reproduktionsarbeiter" (bestimmt durch ihre Funktion in Hierarchien und Bürokratien) trennen von ihrer Handlungskompetenz (der Fähigkeit zu erziehen, zu heilen, zu beraten, also: gesellschaftlich notwendige Arbeit zu tun)! Diese Entkoppelung von Status und Kompetenz und die unbedingte Einbeziehung der Betroffenen sind Voraussetzungen für eine demokratische, kollektive Kontrolle contra sozialstaatlich-herrschaftlich-hierarchische Versorgung und Zurichtung der Menschen.
- Beide Momente: Gebrauchswertorientierung und demokratische kollektive Kontrolle können noch vom herrschenden Legitimationsmuster vereinnahmt werden und z. B. als "Neuorganisation Sozialer Dienste" oder als "gemeindenaher Psychiatrie" zur Effektivierung umgepolt werden, wenn nicht dieser "legitimatorischen" Funktion die einer alternativen hegemoniellen Orientierung entgegengestellt wird. Sie beinhaltet die Frage nach der realen Verfügungsgewalt über die Problemdefinition und über die Mittel ihrer Durchsetzung. Sie bedeutet die Politisierung der anstehenden Fragen und ihre Vernetzung in einem antihegemonialen pluralistischen Block. Was das konkret bedeuten kann, wird deutlich, wenn wir diese drei Kriterien in den vier (im Teil l beschriebenen) Bereichen von Sozialpolitik versuchen anzuwenden:
1. Bereich: Qualifikation/Sozialisation
schon existierende Ansätze:
- Arbeitsloseninitiativen
- Alternative Produktion
- alternative Krippen, Kindergärten, Schulen, Freizeit
- Ausländer-Initiativen
Beispiele für wichtige Forderungen:
- Mindesteinkommen (statt Arbeitslosengeld/hilfe und Sozialhilfe)
- Staatsfinanzierung ohne inhaltliche Auflagen
- Beseitigung rechtlicher Schranken (Ausländergesetz, Schulgesetz, AFG)
2. Bereich: Wohnen
schon existierende Ansätze:
- Mieter-Initiativen
- Umwelt-Initiativen
- Stadtteilkultur und -freizeit
- Stadthausgruppen
- Hausbesetzungen
Beispiele für wichtige Forderungen:
- Vergesellschaftung von Grund und Boden
- genossenschaftlicher Wohnungsbau
- öffentlicher Nahverkehr
3. Bereich: Soziale Sicherung
schon existierende Ansätze:
- Sozialhilfe-Initiativen
- Graue Panther
- Gesundheits-, Psychiatrie-, Behindertenselbsthilfeinitiativen
- Sozialpolitische Initiativen (AKS, Aufschrei, ISS)
Beispiele für wichtige Forderungen:
- Mindestrenten
- Neuorganisation des Versicherungs- und Gesundheitswesens
4. Bereich: Soziale Kontrolle
schon existierende Ansätze:
- Friedensbewegung
- Grüne, Alternative
- Frauenbewegung, Frauenhäuser
Beispiele für wichtige Forderungen:
- Abschaffung der Knäste und der geschlossenen Einrichtungen
- Vergesellschaftung der Polizeifunktion
- Abrüstung, soziale Verteidigung
- Aufhebung der Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer Geschlechterzugehörigkeit, aufgrund ihrer Nationalität
- Aufhebung der hierarchischen Bewertung von "produktiver" und "unproduktiver" Arbeit
Gerade dieser letzte Bereich zeigt, daß die Einteilung der Bereiche selbst der Logik kapitalistischer Sozialpolitik gefolgt ist. Formulieren wir Alternativen, so sprengt fast jedes dieser Beispiele den Rahmen "seines" Bereiches. Ebenfalls zeigen viele Beispiele - denkt man sie zuende - wie z. B. die Friedens-, Frauen- oder Umweltschutzbewegung, daß sie zur "Machtfrage" drängen, d. h., die Frage nach der nicht-kapitalistischen Vergesellschaftung und damit nach der Abschaffung des Wertgesetzes stellen. Diesen zentralen Punkt haben wir bewußt zurückgestellt, obwohl er überall hineinspielt.
Aber ob diese Frage irgendwann tatsächlich gestellt werden kann, hängt davon ab, wie wir heute eine umfassende antihegemoniale Orientierung entfalten können.
Literatur:
- Bernhard Badura/Peter Gross: Sozialpolitische Perspektiven, München 1976
- Antonio Gramsci: Bürokratisierung der Klassenverhältnisse im Spätkapitalismus, in Meschkat/Negt (Hrsg.): Gesellschaftsstrukturen, Frankfurt/M. 1973, S. 92-279
- Timm Kunstreich: Staatsintervention und Sozialarbeit, Kriminologisches Journal 4/1976, S. 263-279
- Falko Werkentin u. a.: Kriminologie als Polizeiwissenschaft oder: Wie als ist die neue Kriminologie! Kritische Justiz 3/1972, S. 211-252
An diesem Artikel haben mitgearbeitet: Frank Düchting, Claus Ehlers, Wolfgang Ehrhardt, Eva Frohnmeier, Michael König, Timm Kunstreich, Manfred Liebold, Barbara Rose, Gerd Stehr.