Noch auf Kurs? - 10 Jahre 'Neue Steuerung' in der Jugendhilfe
Editorial
Als vor ziemlich genau zehn Jahren die Lotsen der "Kommunalen Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsvereinfachung" an Bord des alten Dampfers Kommunalverwaltung gingen, um ihn gründlich zu überholen, von überflüssigem Ballast zu befreien, ihm einen neuen Anstrich zu verpassen und vor allem ein neues Navigationssystem einbauen zu lassen war vielen - Kapitänen, Offizieren wie Mannschaften und auch den Beobachtern auf dem Festland - trotz der neuen Visionen nicht so recht klar, wohin die Reise gehen würde.
Mit der "Neuen Steuerung" aber erschienen nun Horizonte erreichbar, die mit dem ollen Kahn sich niemand mehr anzupeilen getraut hätte. Mit weniger Ballast an Bord könne das Schiff schneller in den Zielhafen einlaufen und wäre wieder manövrierfähig und wendig, so das Versprechen der neuen Lotsen. Hatte der alte Dampfer bis dato immer alle Häfen abgeklappert und alles mitgenommen, was transportiert werden sollte, so sollte nun die Fracht nach Art und Menge des transportierten Stückgutes abgegolten werden, damit Frachtraum gespart werden konnte. Insbesondere die Offiziere freuten sich, dass die Reisen und Hafenliegezeiten nun von kürzerer Dauer sein würden und der alte Stückgutdampfer nun wie ein schickes Kreuzfahrtschiff daherkommen sollte: sie durften sich neue Streifen an die Epauletten heften. Die Mannschaften waren sich allerdings nicht einig, was das alles für sie zu bedeuten habe: Die einen hofften, dass sie, wenn sie nur schnell genug mit dem neuen Navigationssystem umzugehen lernten, selbst recht bald zu Maaten und Offizieren werden könnten. Andere fürchteten, dass das Schiff, sobald die See rauher werden würde, aufgrund des verringerten Ballastes leichter ins Stampfen und Schlingern geraten werde, und eine allgemeine Seekrankheit zur Folge hätte. Einer dritten Gruppe kam der Verdacht, dass sie auf einem Geisterschiff angeheuert haben, das sich recht bald als Fluch des Atlantik erweisen könnte, weshalb sie bereits nach den Rettungsbooten schielten. Und schließlich waren da jene, die am liebsten gleich unter Deck geblieben wären, um den Moment abzuwarten, an dem die Lotsen das Schiff wieder verlassen hätten.
Seither musste der Pott manchen Sturm mit hohem Seegang überstehen. Das war nicht einfach, denn die Generalüberholung fand nicht im Trockendock, sondern auf hoher See bei voller Fahrt statt. Dass bei derartigen Operationen kein eleganter, schneller Kreuzer herausgekommen ist, braucht nicht zu verwundern: Teile wurden herausgetrennt, neue Anbauten kamen hinzu, die nur zum Teil hineinpassten; es fehlten daher ganze Stücke, was auch kein neuer Anstrich verbergen konnte; und neben dem neuen Navigationssystem blieb auch das alte im Dienst.
Das "Neue Steuerungsmodell" war Anfang der 1990er Jahre angetreten mit dem Anspruch, aus einer rechtlich-bürokratisch geregelten "Eingriffsverwaltung" Weberscher Provenienz ein modernes "Dienstleistungsunternehmen Kommunalverwaltung" zu machen. Die Diagnose lautete auf "organisierte Unverantwortlichkeit" (Banner), denn die Verwaltung, so die damalige These der KGSt, habe sich gegenüber der Politik verselbständigt. Andererseits regiere die Politik oftmals aus populistischen Motiven und der Zyklizität der Wahlen wegen in das Verwaltungshandeln hinein. Der Umbau der kommunalen Verwaltung wurde der politischen Ebene mit dem Slogan "Steuern, nicht Rudern" schmackhaft gemacht. Der administrativen Ebene wurde Planungs- und Handlungssicherheit versprochen, wenn erst einmal "Kontrakte" über Ziele und Zielvorgaben zwischen Politik und Verwaltung geschlossen seien. Dann dürfte sie über das "Wie" der Zielerreichung bestimmen, während die politische Ebene das "Was" festlege. Und zur Orientierung der "Mitarbeiter" wurde das neue "Leitbild" "Dienstleistungsunternehmen Kommunalverwaltung" aufgestellt.
Orientiert am Muster US-amerikanischer, britischer und niederländischer Modelle sollte die staatliche Administration so umgebaut werden, dass sie "von außen nach innen" gesteuert wird, sich also an den Bedürfnissen der nun als "Kunden" definierten Bürger ausrichtet und der Nachfrageseite entsprechende "Dienstleistungen" bereitstellt. Damit verbunden waren Vorstellungen der Zusammenführung von "Fach- und Ressourcenverantwortung", der Verlagerung der Budgets bis hin auf die ausführende Ebene bei gleichzeitiger Einführung von Controlling-Verfahren. Zugleich sollten den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Verwaltungen individuelle Karrierewege eröffnet werden, in denen "Leistung" belohnt würde. Dies alles war mit dem Anspruch der Installierung und Professionalisierung des Managements verbunden, das als alleiniger Garant von Effektivität und Effizienz galt.
In einem zweiten "Bericht" diente die Jugendhilfe als Demonstrationsobjekt für den Umbau. Nicht der "input" sondern der "output" sollte die Basis der Finanzierung der Leistungen der Jugendhilfe darstellen: Nur noch das sollte bezahlt werden, was tatsächlich an Leistungen produziert wird. Allerorten entstanden nun in den Jugendämtern und den Einrichtungen Arbeitsgruppen, die die komplexen Hilfeangebote in quantifizierbare und damit abrechenbare Teilsegmente zerlegten. Diese "Produkte" sollten dann nach Vorstellung der KGSt in "Produktgruppen" zusammengefasst und als Basis für genau spezifizierte Kontrakte der Leistungserbringung und -berechnung dienen.
Mit der Zerlegung "ganzheitlicher" Leistungen in differenzierte Produkte wurden die Voraussetzungen geschaffen für die klare Konturierung in diejenigen, die die Leistung erbringen, und die, die sie einkaufen. Sie war zudem die Voraussetzung für die Einführung von konkurrenzförmigen Marktbeziehungen zwischen den "Leistungserbringern", die dann nach erfolgtem Zuschlag für ihr Angebot durch den "Finanzierungsträger" mit diesem einen Kontrakt über "Inhalt, Umfang und Qualität der Leistungsangebote" (§ 78b KJHG) abschließen müssen. Neben dem generellen Trend zur Differenzierung von leitenden und ausführenden Tätigkeiten aufgrund des allgemeinen Effizienzdrucks liegt in der Implementation von Konkurrenzmechanismen und der Notwendigkeit ihrer technischen Beherrschbarkeit durch ein spezialistisches Kontraktmanagement ein zentraler Grund für die Verschärfung der Spezialisierung und Differenzierung zwischen den verschiedenen Beschäftigten in unterschiedlichen Funktionen. Dieser Trend ist insbesondere für die USA und Großbritannien als "Managerialismus" bestimmt worden.
Die verschiedenen neoliberalen, traditionalistischen und alternativen "Diskursgemeinden" (Wollmann) der Modernisierer in den Spitzen der kommunalen Verwaltungen, den politischen Parteien und wissenschaftlichen Einrichtungen hatten zwar unterschiedliche Vorstellungen darüber, welche Mittel eingesetzt werden sollten, um der "organisierten Unverantwortlichkeit" den Garaus zu machen, dass ihr aber der finale Todesstoß versetzt werden müsse, darüber war man sich einig. Dabei hatte gerade die deutsche Verwaltung in den 1970er und 1980er Jahren eine Vielzahl von Modernisierungsprozessen durchlaufen und galt aufgrund der strukturellen Verankerung fast aller Verwaltungsakte auf der kommunalen Ebene im internationalen Vergleich als stark dezentralisiert und bürgernah. Dazu, dass zu Beginn der 1990er Jahre die Forderung nach einem unternehmensähnlichen Umbau der öffentlichen Verwaltungen Oberwasser gewinnen konnte, hat sicherlich auch der politische Erfolg der hegemonial werdenden Ideologie des Neoliberalismus in der westlichen Hemisphäre beigetragen, dem die Denunziation staatlicher Verwaltung und Leistungserbringung ("organisierte Unverantwortlichkeit") als ein probates Mittel erschien, das populäre Ressentiment gegen die "Eingriffsbehörde" zu schüren, die den Bürger als "Steuerzahler" gängele. Ein Gegenbild von einem "Dienstleistungsunternehmen", dass dem "Kunden" - und den damit verbundenen, tief verwurzelten Assoziationen - gegenüber Leistungen erbringt, konnte so auf fruchtbaren Boden fallen. Widerstand aus der zum damaligen Zeitpunkt bereits kaum noch als politische Kraft vorhandenen Linken fand sich nur vereinzelt - zu sehr war ihre Staatskritik der 1970er Jahre, die diesen schlicht als Instrument der Klassenherrschaft der Bourgeoisie betrachtet hatte, in die Nähe des neoliberalen Parolenarsenals geraten.
Grundsätzlich, so haben Lenhardt und Offe 1977 in ihrer Analyse staatlicher Sozialpolitik gezeigt, besteht zwischen der Politikformulierung und ihrer Implementierung eine systematische Differenz. Jede politische Programmatik muss noch durch den Filter der bestehenden Praxen der Akteure in einem Politikfeld, die damit verbundenen Machtpotentiale und -konstellationen, die zu Strukturen geronnenen und materialisierten Handlungen, ihre Wahrnehmungen und zur Tradition gewordenen Deutungen "hindurch". Jede Politikformulierung trifft so auf ein institutionell-politisches Feld, in dem die damit verbundene Programmatik durch die Akteure im Feld adaptiert, umdefiniert, selegiert, unterlaufen und auch explizit zurückgewiesen wird.
Wie dies geschieht, welche "Wirkung" die politische Programmatik der "Neuen Steuerung" entfalten konnte, oder auch nicht entfalten konnte, ist nur mit Blick auf die Empirie der Politikimplementierung möglich. Aus der Aufarbeitung der Ergebnisse des empirischen Zugriffs können dann neue theoretische Aussagen zum Gegenstand gemacht werden. Nach zehn Jahren liegen nun die ersten umfassenderen und systematischen Studien vor, die sich mit der Frage befassen, welche Folgen der neoliberal inspirierte Umbau der "Neuen Steuerung" für die Professionelle Ebene der Sozialen Arbeit und ihre Organisation hat, welche Handlungsoptionen gewählt wurden und welche Rahmungen professioneller "Autonomie" in der Definition der Sache sich ergeben.
Die "Widersprüche" haben diesen widersprüchlichen Prozess von Anfang an kritisch zu analysieren versucht und damit Perspektiven für Handlungsoptionen ausgeleuchtet. Schon kurz nach Veröffentlichung der KGSt-Programmatik entfaltete sich ein kritischer Diskurs in der Fachöffentlichkeit, der als ein Faktor dafür gelten kann, dass die Implementation der Politk der "Neuen Steuerung" in der Sozialen Arbeit bisher nicht an allen Stellen die Wirkung entfalten konnte, die ihr ihre Protagonisten zugedacht hatten (vgl. Widersprüche-Hefte 52, 53 und 59). An diese Tradition der Kritik haben wir in den vergangenen Jahren immer wieder angeknüpft und versucht, die Entwicklungen in den sozialen Diensten theoretisch und im Hinblick auf ihre politischen Implikationen zu erfassen. Wir freuen uns, mit diesem Heft drei empirische Untersuchungen vorstellen zu können, die die Situation in den Sozialen Diensten nach zehn Jahren "Neuer Steuerung" analysieren. Auf dieser Basis ist es möglich, das Wissen über das, was (nicht) geschehen ist zum Ausgangspunkt weiterer theoretischer und politischer Denkanstrengungen zu machen.
Zu den Beiträgen im Einzelnen
Matthias Nauerth diskutiert die Einführung "Neuer Steuerung" im Bereich Sozialer Arbeit vor dem Hintergrund eigener empirischer Arbeiten, die die "Arbeitsstelle für Rehabilitations- und Präventionsforschung" des Instituts für Soziologie an der Universität Hamburg 1999 und 2000 durchgeführt hat. Im Mittelpunkt seiner Überlegungen stehen dabei fachwissenschaftliche Fragen nach den mit den Ökonomisierungsprozessen (§ 93 BSHG) verbundenen Herausforderungen für die Soziale Arbeit. Nauerth weist darauf hin, dass die Implementierung der "Neuen Steuerung" in sozialpädagogischen Einrichtungen v.a. zu einer strukturellen und kulturellen Angleichung an ihre gesellschaftliche Umwelt geführt habe, die sich hinter dem Rücken - und durch die handelnden Akteure hindurch - vollzieht.
Auf die Einengung professioneller Ermessensspielräume durch die gesetzlichen Neuregelungen nach §§ 78 a-g SGB VIII (KJHG) deuten auch die Ergebnisse der empirischen Arbeiten im Rahmen des Bielefelder DFG-Projektes "Sozialpädagogische Professionalität in marktförmig gesteuerten Organisationskontexten" hin, die Heinz Messmer in seinem Beitrag darstellt und interpretiert. Der Einbau kontraktueller und managerieller Formen einer betriebswirtschaftlich orientierten Vertragsfinanzierung im Bereich der Heimerziehung rückt nach Ansicht Messmers den Kostenaspekt der Leistungserbringungsprozesse in den Brennpunkt der Aufmerksamkeit. Die damit erreichte Ressourcenknappheit stelle nicht nur ein materielles Problem dar, sondern beschränke professionelle Handlungskontexte auch zunehmend in der Zeit- und Sozialdimension - so erweise sich der Einbau von Machtasymmetrien bei der Aushandlung divergierender Entscheidungsrationalitäten steuerungspolitisch im Rahmen der neu gesteuerten Sozialen Arbeit in wachsendem Maße als opportun.
Mit den Entwicklungen auf seiten der freien Träger und der Wohlfahrtsverbände unter den Bedingungen zunehmender Konurrenz befasst sich der Beitrag von Heinz-Jürgen Dahme und Norbert Wohlfahrt. Sie setzen sich mit der Prognose einer zunehmenden Polarisierung der Beschäftigtenstruktur in ausführende und leitende Tätigkeitsprofile und der Taylorisierung von Arbeitsvollzügen, die auf der Basis amerikanischer und britischer Studien extrapoliert wurden auseinander. Diese können sie (derzeit) nur teilweise bestätigen. Sie zeigen auf, daß sich die managerielle Steuerung nur partiell auf die Berufsvollzüge auswirkt, da die Steuerungsverfahren nicht großflächig und tiefgreifend implementiert wurden. Sie können zudem nachweisen, daß sich eine Differenzierung und Spezialisierung innerhalb der Profession durchsetzt und schließlich eine stärkere Polarisierung zwischen einfachen und professionalisierten Tätigkeiten bei den freien Trägern abzeichnet.
Die Redaktion