Neue Mauern in Europa? Soziale Politik in der EG

Editorial

In Vorbereitung unseres Themas "Sozialpolitik in Europa" haben wir heftig diskutiert, um herauszufinden, welche Grundlinien in der Entwicklung einer europäischen Sozialpolitik in den verschiedenen Sozialpolitiken erkennbar seien. Daß wir zu keinem einheitlichen Ergebnis gekommen sind, zeigt die Konzeption dieses Heftes: Es gleicht - darin ganz Abbild der Realität - eher einem Flickenteppich, in dem darüber hinaus noch große Stücke fehlen: einige dieser Lücken hoffen wir auf der Konferenz über: "Soziale Gerechtigkeit und europäische Transformationen: Prozesse der Marginalisierung und der Partizipation - Veränderungen in der Sozialpolitik" (vom 4. - 8. September 1991) zu schließen, die wir gemeinsam mit der European Group for the Study of Devience and Social Control in Potsdam durchführen werden. Dieses Heft dient zugleich als Vorbereitung für die Konferenz.

Ein Gespenst geht um in Europa. Nein, nicht das von 1847, sondern das von 1991: Das gemeinsame Haus Europa - also ein Gespensterhaus. Wenn man sich diesem Phantombild von weitem nähert, sieht man, daß es auf einem festungsartig umgrenzten Gelände steht, das von einem Netz von Röhren gespeist wird (Weltmarkt), die Kraft aus den ausgemergelten Kontinenten Asien, Afrika und Lateinamerika ziehen. Nähert man sich dem Haus, kann man diese "Pfeiler" nicht mehr sehen, statt dessen fällt auf, daß das Haus ein Doppelhaus ist: Die linke, westliche Hälfte im Stile der Postmoderne blendend weiß mit Thermopenscheiben renoviert, die rechte, östliche Hälfte mit abgeplatzter Fassade und herausgebrochenen Fenstern - offensichtlich wird dort renoviert. Betritt man die linke Haushälfte, geht man zunächst von Salon zu Salon eingerichtet in den Farben der Nationalstaaten Westeuropas. Diese Salons sind so groß und prächtig, daß man fast den Eindruck hat, es gebe nur sie in dieser Haushälfte. Geht man jedoch durch eine der Tapetentüren, fällt einem wieder ein, was man von außen sah: Es gibt noch ein Tiefparterre und ein Dachgeschoß.

Hier allerdings sieht es anders aus. In den Küchen drängeln sich eine Unzahl von Menschen, in den dahinterliegenden kleinen Kammern vegetieren vor allem Frauen mit Kindern und alte Menschen. Im Dachgeschoß haben sich die eingerichtet, die wenigstens in den Salons servieren dürfen: die stets bereiten dienstbaren Geister, die es geschafft haben, aus dem Tiefparterre nach oben zu ziehen. Ein Blick auf die Pläne zur Renovierung der baufälligen Osthälfte zeigt: Hier soll das exakte Spiegelbild der westlichen Hälfte stehen - allerdings fehlt es offensichtlich an Material und es herrscht auf der Baustelle ziemliche Ratlosigkeit.

Überhaupt: Baupläne sieht man in jeder Wohnung, einige tragen das Datum 1.1.1993 und sollen den Salons offensichtlich zu noch größerer Pracht verhelfen. Sogar über die Tapeten ist man sich im Ost- wie im Westteil einig. Auf allen Sprachen steht auf ihnen: "Zivilgesellschaft". Guckt man sich hingegen die Umbaupläne für Kellergeschoß und Dachboden an - also die etwas mit Sozialpolitik zu tun haben - dann trifft man nur auf unverbindliche Skizzen, die von beeindruckender Einfachheit sind: jeder Mensch hat das Recht, seine Arbeitskraft zu verkaufen, Männer und Frauen sind gleichberechtigt (die einzigen wirklich festgeschriebenen sozialen Rechte in Europa seit 1959) und auf der anderen Seite auch viele Detailzeichnungen (Arbeitszeitregelung, "untypisch Beschäftigte", Gesundheits- und Alterssicherung), die ganz offensichtlich nicht zusammenpassen.

Werfen wir noch einen letzten Blick in die Studierstuben der jeweiligen nationalen Intellektuellengruppen: Bei der deutschen Linken findet man so gut wie keinen Hinweis auf "Europa", stattdessen viel über die Individualisierung und Unübersichtlichkeit (dabei brauchten sie nur aus dem Fenster zu sehen); bei den italienischen, englischen und französischen Linken finden sich immerhin Baupläne für einen "Euroreformismus", der so aussieht, als wollte man ein Zwischenstockwerk zwischen Tiefparterre und Salonetage legen - weiß allerdings nicht wie, da man die Salons nicht abbauen darf und das Tiefparterre nicht verändern kann. Auch wir sind - wie gesagt - nicht über Detailskizzen hinausgekommen, hoffen aber, daß wir zumindestens einige tragende Verbindungen kennzeichnen können.

Das die Dynamik kapitalistischer Modernisierung sich nur entfalten kann, wenn nicht nur die Kapitalströme, sondern auch die Warenströme ungehindert fließen können, ist eine Binsenweisheit. Die Realisierung des Binnenmarktes zielt dementsprechend auch insbesondere auf die "Verflüssigung" der Ware "Arbeitskraft". Daß an dieser besonderen Ware immer ein lebendiger Mensch hängt, hat zur Notwendigkeit nationaler Sozialpolitiken geführt und führt jetzt aus dem gleichen Grunde zu der notwendigen Etablierung sozialer Grundrechte im europäischen Maßstab. Offen ist allerdings, wie diese aussehen, welche Mindestgarantien sie enthalten, und wie mit daraus resultierenden Widersprüchen umgegagenen wird. Würde z.B. ein garantiertes Mindesteinkommen in den reichen Metropolen realisiert werden, würde dieser höher liegen als das Durchschnittseinkommen in den marginalisierten Regionen. Welche Migrationsfolgen das hätte, liegt auf der Hand.

Wie auch staatliche Administrationen in derartigen Situationen von "Rechtsansprüchen" auf administrative Willkür umschalten können und warum die Krisenideologie ein funktionales Äquivalent zum Abbau sozialer Garantien darstellt, beschreibt Adelino Zanini am Beispiel Italiens.

Eine der wenigen ausformulierten sozialpolitischen Grundsätze ist die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau. Daß diese Deklaration - genau wie in den nationalen Zusammenhängen - häufig nicht das Papier wert ist, auf dem es steht, darauf verweist die Analyse von Christa Randzio-Plath, die Frauenprogramme im EG-Maßstab fordert - mit entsprechender materieller Basis. Das derartige Programme nicht ohne politischen Druck von unten realisierbar sind, macht Christine Hey deutlich, die noch einmal den Zusammenhang von Frausein und Armut hervorhebt und von den Zielen des europäischen Frauennetzwerkes berichtet. Daß die These vom Sozialstaat als einem eindeutig verlängertem Arm des Patriachats zu kurz greift, darin ist sich Christel Eckart mit anderen Frauenforscherinnen einig. Sie plädiert deshalb wider eine Sozialpolitik verleugneter Abhängigkeiten im Geschlechterverhältnis.

Daß eine Vorstellung von Sozialpolitik, die sich ausschließlich mit den materiellen Ergebnissen und den dazugehörigen Organisationsmitteln beschäftigt, zu kurz greift, darauf haben wir immer wieder insistiert. Der Sozialpolitik kommt auch eine "moralische" Dimension zu, indem sie die Menschen in Anspruchsberechtigte und Nicht-Anspruchsberechtigte teilt. Dieser Aspekt der sozialen Disziplinierung wird durch vielfältige andere Maßnahmen unterstützt - seien es konservativ-hegemoniale Konstrukte über die Natur von Frau und Familie, seien es polizeiliche Zwangs- und Verfolgungsmaßnahmen zur Bekämpfung angeblich internationaler Kriminalität. Zu ideologisch-disziplinierenden Aspekten führt Monika Platek aus, daß die Frauen in Polen von der stalinistischen Traufe in den klerikal-reaktionären Regen gekommen sind und daß die Rolle der Frau unter beiden Regimes fremdbestimmt war und ist.

In der erweiterten Bundesrepublik wird die Frauenfrage zum wiederholten Male - nun allerdings mit neuen Akzenten - als "Abtreibungsfrage" thematisiert. Neue Aspekte aus den Erfahrungen mit dem § 218 in den fünf neuen Bundesländern stellt Ulrike Busch materialreich dar.

Über die andere Seite der Sozialdisziplinierung: die Repression, berichtet Christine Nova am Beispiel Griechenlands: Um den Polizeiapparat nach innen zu legitimieren und um Herrschaftspositionen traditioneller Art abzusichern, wird das "Modell Deutschland" polizeilicher Repression übernommen und für griechische Verhältnisse entsprechend modifiziert - eine Tendenz, die sich in vielen europäischen Ländern verfolgen läßt und die nicht zuletzt in den Abkommen von Schengen festgeschrieben wurde.

Mit diesen Artikeln haben wir sicher nur einen geringen Teil der Problematik europäischer "Integration" thematisiert. Probleme der Marginalisierung von gesellschaftlichen Gruppen nach reich und arm, die Teilung der Belegschaften in partizipationsberechtigte Kernbelegschaften und abgekoppelten Randbelegschaften, die Trennung von Forschungs- und Entwicklungsabteilungen (in den Metropolen) und Fertigungsbetrieben (an den Peripherien) werden wir hoffentlich in einem Auswertungsheft zum Kongreß in Potsdam thematisieren - ebenso wie ideologisch-politische Fragen des Eurozentrismus und die internen Verhältnisse dieser einen Welt (früher: Verhältnis erste Welt zu zweiter und dritter).

Offenbach, im Juni 1991