Neo-Diagnostik - Modernisierung klinischer Professionalität

Editorial

Lässt man die letzten 30 Jahre der Entwicklung in der Sozialarbeit/Sozialpädagogik Revue passieren, drängt sich u.a. folgender Eindruck auf: In den 70er Jahren, in der Phase des fast explosionsartigen Anwachsens der Sozialen Arbeit an Universitäten, Fachhochschulen und Fachschulen, gab es so etwas wie eine soziale Öffnung, sowohl was die Studierenden als auch was die inhaltliche Orientierung der Mehrheit der Lehrenden anbelangt. Seit Anfang der 80er Jahre, verstärkt jedoch in den 90ern ist ein Prozess der disziplinären Schließung zu beobachten. Als Indikatoren für die Öffnung können die Tendenzen gelten, die in fast allen wissenschaftlichen Disziplinen zu dem Attribut "kritisch" führten: Kritische Medizin, kritische Justiz, kritische Pädagogik, kritische Sozialarbeit - in der Psychologie gab es sogar zwei kritische Richtungen, eine mit dem großen, die andere mit dem kleinen "k" am Anfang. Kritisch hieß durchweg: die Öffnung zu gesellschaftstheoretischen und -politischen Fragen. Konkret bedeutete das z.B. in der Medizin eine starke Erweiterung der Medizinsoziologie, die Berufung sozialwissenschaftlicher KriminologInnen an juristische Fachbereiche oder die Gründung eines eigenen Fachbereiches für Kritische Psychologie in Berlin. In der Theologie gab es zunächst eine intensive Beschäftigung mit der Befreiungs-, dann mit der Feministischen Theologie. Die sozialwissenschaftliche Orientierung wurde in der Erziehungswissenschaft dominierend und führte in der Sozialarbeit zu einer gesellschaftskritischen Abrechnung mit der "Methoden-Dreieinfältigkeit" und zu ersten Ansätzen alternativer Handlungskompetenz.

In dem Maße aber, wie die "universitäre Sozialpädagogik" (wie sie sich heute in Abgrenzung zur Fachhochschul-Sozialpädagogik selbst tituliert) in die Phase der Selbstrekrutierung kam, begann die soziale Schließung. Zeitgleich mit der Verkündigung des Endes der "großen Erzählungen" (d.h. der Verkündigung des Endes vor allem materialistischer und kritischer Theorie) verloren kritische Positionen an Einfluss. Es vollzogen sich zwei auf den ersten Blick widersprechende Bewegungen: Auf der einen Seite wurden "Pluralisierung" und "Individualisierung" zu den beliebtesten Bezugspunkten aller sozialwissenschaftlichen Disziplinen - wohl auch um deutlich zu machen, dass man auf der Höhe postmoderner "kleiner Erzählungen" angelangt sei -, auf der anderen Seite wurde die kurzzeitig in den Hintergrund geratene Suche nach dem jeweils "Eigentlichen" wieder intensiviert. Während die "universitäre Sozialpädagogik" letztlich beim "pädagogischen Bezug" landete (trotz vehementer Versuche der Bielefelder Schule, mit der Dienstleistungsdebatte dagegenzuhalten), suchte eine schwerpunktmäßig an den Fachhochschulen entwickelte "Sozialarbeitswissenschaft" ihr Heil in der Fixierung auf "soziale Probleme". Natürlich gab es innerhalb und zwischen beiden Richtungen auch Streit. So versuchte jüngst Jürgen Reyer einen "Vatermord" an Hans Thiersch als dem Protagonisten einer kritisch-sozialwissenschaftlichen Orientierung, und die "Kampfkraft" der SozialarbeitswissenschaftlerInnen erschöpft sich in endlosen Systematisierungen dessen, was diese alles leisten könne, wenn sich alle an sie hielten. Richard Sorg hat diese Diskussion in "standpunkt:sozial" sorgfältig nachgezeichnet.

In einem allerdings scheinen sich alle Tendenzen und "Lager" der Sozialen Arbeit einig zu sein: Um sich von den anderen Professionen abzugrenzen, die in Gestalt von Bezugswissenschaften schon immer Konkurrent und Bestandteil Sozialer Arbeit zugleich waren, aber auch von ihnen anerkannt zu werden, gilt es, ein sowohl professionelles als auch disziplinäres Element praxisnah, aber theoriegesättigt als Fixpunkt der Gemeinsamkeit zu finden. Das scheint mit dem, was sich um Begriff und Inhalt von "Diagnose" rankt, gelungen zu sein. Natürlich ist damit nicht die psycho-soziale Diagnose gemeint, die mehr zuschreibt als erklärt und die "von oben herab" gemacht wird, sondern jene, die sensibel deutend Lebensgeschichten von KlientInnen verstehbar macht.

Zu den Beiträgen im Einzelnen

An diesem Punkt setzt dieses Heft an. Die Thesen zur "Neo-Diagnostik" wurden von Timm Kunstreich an Kolleginnen und Kollegen mit der Bitte verschickt, dazu Stellung zu nehmen. Zunächst war die Redaktion unsicher, ob dieses Experiment gelingen würde. Die Leserin und der Leser mag sich nun selbst ein Urteil bilden: Die Resonanz war beachtlich. Im Anschluss an die Thesen veröffentlichen wir einen Briefwechsel, den Timm Kunstreich mit Burkhard Müller, Maja Heiner und Marianne Meinholdt zum Thema geführt hat. Es folgen - mit engerem oder weiterem Bezug zu den Thesen - Positionen von Silvia Staub-Bernasconi, Christian Schrapper, Lothar Böhnisch und Helga Cremer-Schäfer.

Renate Schumak sowie Wilfried Manke und Helmut Quitmann, denen der Thesentext ebenfalls vorlag, beziehen sich aus ihrer Praxis heraus auf die Fragen von Diagnostik. Während Renate Schumaks Praxisreflexionen die Arbeitsmarktpolitik des aktivierenden Staates mit einer subjekttheoretischen Position der Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten kontrastiert, versuchen Wilfried Manke und Helmut Quitmann das zusammenzuführen, was bislang getrennt ist: Diagnose und Dialog.

Mark Schrödter macht in dem ersten der beiden abschließenden grundlagentheoretischen Artikel die Position stark, dass eine klassifizierende Diagnose in der Sozialen Arbeit unumgänglich und unhintergehbar sei. Holger Ziegler bestreitet das und bettet die Diskussion um die Diagnose in den Diskurs um Macht und Wissen ein - als ein Beispiel spezifischer Gouvernmentalität.

Wir als Redaktion hoffen, dass in der Spannbreite der Positionen so viel Anregung steckt, dass diese Diskussion in einem weiteren Heft fortgeführt werden kann - und das heißt auch: dass die Widersprüche vertieft, aber auch die Optionen vervielfältigt werden können. Alle Leserinnen und Leser sind dazu herzlich eingeladen.