Kritische Solidaritäten

Editorial

Das Editorial zum Heft 132 mit dem Titel "Soziale Arbeit: kritisch - reflexiv - radikal" haben wir mit der Selbstkategorisierung der Widersprüche als "Archiv für Praktiken der Kritik und des dialogischen Nachdenkens über eine Politik des Sozialen" eingeleitet. In dieser Hinsicht haben wir damals hervorgehoben, dass es "zur Praxis dieses »Archivs« gehört <...>, von Zeit zu Zeit über den Gegenstand der Kritik <...> nachzudenken" (ebd.). Die Zeit dafür scheint wieder gekommen zu sein. Dieses Mal geht es jedoch nicht allein um Kritik, sondern auch um Solidarität und deren Zusammenhang.

Dass dieser Zusammenhang keine Selbstverständlichkeit ist, haben Luc Boltanski und Eve Chiapello im Kontext ihrer Analyse des "neue Geist des Kapitalismus" (2003) verdeutlicht. Dabei unterscheiden sie zwischen einer "Künstlerkritik", welche Freiheit von Zwängen und Bevormundung sowie Autonomie und Selbstverwirklichung akzentuiert, und einer "Sozialkritik", die auf Gleichheit, Solidarität und Sicherheit abzielt. Von daher scheint nicht jede Kritik mit Solidarität einherzugehen. Im Gespräch mit Yann Mulier Boutang haben sie "für eine Erneuerung der Sozialkritik" (Boltanski/Chiapello 2007: 171) plädiert, könne doch "die Künstlerkritik, wenn sie von den Gleichheits- und Solidaritätserwägungen der Sozialkritik nicht abgemildert wird, sehr schnell das Spiel eines besonders zerstörerischen Liberalismus bedienen" (ebd.). Stephan Lessenich (2009) hat in diesem Zusammenhang jedoch ein Gegeneinander-Ausspielen von "Künstler- oder Sozialkritik" als "falsche<.> Alternative" problematisiert und für eine dialektische Aufhebung dieses scheinbaren Gegensatzes plädiert. Demnach sei "die künstlerkritische Forderung nach einem <...> selbstbestimmten Leben" (ebd.: 241) nicht nur explizit aufzunehmen, sondern nur "mit der sozialkritischen Frage nach systematisch ungleich verteilten Möglichkeitsbedingungen" (ebd.) zu validieren.

Wenn Boltanski/Chiapello von "Solidaritätserwägungen der Sozialkritik" reden, dann sicher bewusst im Plural. So beginnt schon der Artikel zu Solidarität im "Wörterbuch der Soziologie" von 1969 mit dem Hinweis, dass das Wort Solidarität "leich allen Wörtern, die gesellschaftliche Verhältnisse der Menschen bezeichnen, <...> keine einheitliche Bedeutung" (Vierkandt 1969: 944) hat. Lessenichs dialektische Aufhebung von Künstler- und Sozialkritik hat in diesem Zusammenhang einen historisch frühen Vorläufer im Postulat von Marx und Engels (1978: 424 f.), dass "die originelle und freie Entwicklung der Individuen" (ebd.) nicht nur bedingt ist "in der universellen Betätigungsweise der Individuen auf der Basis der vorhandenen Produktivkräfte" (ebd.), sondern auch "in der notwendigen Solidarität der freien Entwicklung Aller" (ebd.).

Zwar stellt auch für Adorno Solidarität "die ehrwürdigste Verhaltensweise des Sozialismus" (1986: 56) dar. Der skizzierten Tradition von Marx und Engels folgend sieht damit auch er in "der Abschaffung der Monade durch Solidarität, zugleich die Rettung des Einzelwesens angelegt, das gerade in seiner Beziehung aufs Allgemeine erst ein Besonderes würde" (ebd.: 153). "Weit entfernt davon ist" (ebd.) für ihn jedoch "der gegenwärtige Zustand" (ebd.). Vielmehr zeigt sich für ihn in seinen darauf bezogenen "Reflexionen aus dem beschädigten Leben" Solidarität als "polarisiert in die desperate Treue derer, für die es keinen Weg zurück gibt, und in die virtuelle Erpressung an jenen, die mit den Bütteln nichts zu schaffen haben mögen, ohne doch der Bande sich auszuliefern" (ebd.: 58). Deshalb ist dann aus seiner Perspektive "ür den Intellektuellen <...> unverbrüchliche Einsamkeit die einzige Gestalt, in der er Solidarität etwa noch zu bewähren vermag" (ebd.: 27).

Heißt das, dass praktische Solidarität gar nicht mehr möglich ist? Wie können Intellektuelle dann aber der von Boltanski/Chiapello beschriebenen Gefahr der Künstlerkritik entgehen und wie der Kritik von Marx und Engels (1970) an der "kritischen Kritik", die ständig den Unterschied zwischen sich als aufgeklärte und den dummen Massen reproduziert? Zudem haben doch beide in der "Deutschen Ideologie" überzeugend dargelegt, dass selbst "Formen und Produkte des Bewußtseins nicht durch geistige Kritik <...>, sondern nur durch den praktischen Umsturz der realen gesellschaftlichen Verhältnisse, aus denen diese idealistischen Flausen hervorgegangen sind, aufgelöst werden können" (1978: 38).

Entsprechend hat auch Paulo Freire verdeutlicht, dass Solidarität nicht nur "verlangt, daß man in die Situation derer eintritt, mit denen man solidarisch ist" (1975: 36). Vor dem Hintergrund von Hegels Parabel von Herr und Knecht davon ausgehend, dass "Unterdrückte<.> dadurch charakterisiert sind, daß sie dem Bewußtsein des Herren unterworfen sind" (ebd.: 37), besteht auch für Freire "echte Solidarität mit den Unterdrückten darin, an ihrer Seite zu kämpfen, um jene objektive Wirklichkeit zu verändern, die sie zu derartigen «Wesen für ein Anderes» gemacht hat" (ebd.).

Was aber bedeutet dies für Professionelle in der Sozialen Arbeit? Und wie lässt sich Solidarität und Kritik in der Praxis Sozialer Arbeit in dieser Hinsicht aufeinander beziehen? Verkleistert jedoch die Rede von der Solidarität nicht nur das Machtgefälle zwischen Professionellen in der Sozialen Arbeit und den Nutzenden ihrer sozialen Dienstleistungen? Droht diese Solidarität nicht allzu schnell in Paternalismus umzuschlagen?

Zu den Beiträgen im Einzelnen

In seinem den Themenschwerpunkt einleitendem Beitrag geht Albert Scherr der Frage nach, wie die Idee der Solidarität so gefasst werden kann, dass sie nicht nur Traditionen beschwört, sondern als eine zeitgemäße und emanzipatorische Form der Auseinandersetzung mit den gegenwärtigen Verhältnissen begriffen werden kann. Dabei geht es ihm nicht allein um das voraussetzungsvolle Projekt von Solidarität im Sinne eines solchen emanzipatorischen politischen Begriffs. Vielmehr fordert er eine kritische Rückbesinnung auf das universalistische Moment von Solidarität als humaner Fähigkeit ein.

Im Anschluss setzt sich Joachim Weber kritisch mit verschiedenen Begriffen und Verständnissen von Solidarität auseinander. So meint Solidarität in einer sozialen Marktwirtschaft etwas anderes, als in der katholischen Soziallehre, ebenso in familiären und kollektiven Zusammenhängen oder in gesellschaftsorganischen. Auch lässt sich eine kämpferische von einer politisch qualifizierten Solidarität unterscheiden.

Deutet Weber am Schluss seines Beitrages die Konsequenzen für Soziale Arbeit an, arbeitet Marcel Schmidt dies im Anschluss an ihn unter dem Begriff "metaphilosophischer Sozialer Arbeit" als ein Modell gleichermaßen gesellschaftskritisch-solidarischer, wie subjektive Verwirklichung ermöglichender Professionalität aus. Dabei leitet er aus Lefebvres konkreter Utopie eines Rechts auf Urbanität ein "solidarisches Mandat für Residuen" professioneller Sozialer Arbeit ab.

Ist darin schon das Verhältnis von Solidarität und Kritik mit angesprochen, widmet sich der Beitrag von Michael May diesem explizit. Ausgehend von in jüngerer Zeit lauter werdenden Forderungen nach einer deutlich kritischeren Positionierung Sozialer Arbeit auch gegenüber Lebensformen ihrer Adressat*innen, die sich z.B. xenophobisch oder antisemitisch artikulieren, fragt dieser nach den Maßstäben einer solchen Kritik. In Auseinandersetzung mit dem Capability Approach, der solche Maßstäbe zu operationalisieren beansprucht, plädiert er dafür, "dass Solidarität und Kritik in der Sozialen Arbeit sich nicht auf konkrete gesellschaftliche Individuen richten, sondern jeweils auf Vermögen bzw. functionings, die aufgrund mangelnder capabilities oder sogar herrschaftlicher Blockierungen oder Enteignungen sich bisher nicht assoziierend verwirklichen konnten".

Helga Cremer-Schäfer greift in ihrem Beitrag Bertolt Brechts Begriff der "Freundlichkeit" auf, der in der Wissenschaft, wie auch der Sozialen Arbeit im Unterschied zu Parteilichkeit und Solidarität sehr selten als eine "Haltung" oder Form der Genossenschaft von Ungleichen thematisiert wird. Sie legt dar, wie dieser Begriff von Freundlichkeit nicht nur Kritik institutionalisierter Herrschaft voraussetzt, sondern zugleich auch Bedingung dafür ist, dass in "finsteren Zeiten" wissenschaftliches und alltägliches Befreiungswissen sich nicht verflüchtigt. In dieser Weise sucht sie Freundlichkeit als ein Arbeitsbündnis zu verstehen, das einigermaßen vernünftige Interaktionen zwischen Ungleichen ermöglicht.

Zum Abschluss des Themenschwerpunktes setzt sich Nicoletta Rapetti mit Problemen gegenseitiger Solidarisierung unter behinderten Menschen auseinander und wie diese aktuell ver- bzw. behindert werden und dadurch ihren gesellschaftskritischen und emanzipatorischen Stachel verlieren. Kritisch wird hinterfragt, ob es überhaupt wünschenswert ist, drin zu sein in der Gesellschaft und nicht mehr an ihren Rändern, wenn damit auch das Gemeinschaftsgefüge untereinander mitsamt der politischen Kraft zerbricht. Zudem wird der Frage nachgegangen, wie Solidarität von anderen kommen kann, wenn doch schon innerhalb von benachteiligten Gruppen nur schwer Solidarität herzustellen ist.

Schließlich wird im Forumsbeitrag Karin Kersting die «Bürgerlichen Kälte» in der Pflege durch den unauflösbaren Widerspruch in den Anforderungen an Pflegende analysiert: Pflegende sollen den hohen pflegefachlichen Anspruch (Stichwort: Patientenorientierung) bei der Versorgung und Betreuung der ihnen anvertrauten Menschen verwirklichen und zugleich sehen sie sich aufgrund der ökonomischen Zwänge im Pflegealltag genötigt, schnell zu arbeiten. Mit der Metapher der «Bürgerlichen Kälte», wie sie in der Kritischen Theorie von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer geprägt worden ist, wird erklärt, wie Pflegende, Auszubildende und Lehrende diesen Widerspruch in ihrem Arbeitsalltag aushalten können und zugleich zur Stabilisierung einer normativ inakzeptablen Praxis beitragen.

Literatur

Adorno, Theodor W. 1986: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben: Zwergobst. In: Tiedemann, R. (Hrsg.): Gesammelte Schriften. Frankfurt a.M.

Boltanski, Luc/Chiapello, Ève 2003: Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz

- 2007: Für eine Erneuerung der Sozialkritik. im Gespräch mit Yann Mulier Boutang. In: Raunig, G./Wuggenig, U. (Hrsg.): Kritik der Kreativität. Republicart, Band 6. Wien, S. 167-180

Freire, Paulo 1975: Pädagogik der Unterdrückten. Bildung als Praxis der Freiheit. 2. Aufl. Reinbek

Lessenich, Stephan 2009: Künstler- oder Sozialkritik? Zur Problematisierung einer falschen Alternative. In: Dörre, K./Lessenich, S./Rosa, H. (Hrsg.): Soziologie - Kapitalismus - Kritik. Eine Debatte. Band 1923. Frankfurt a.M., S. 224-242

Marx, Karl/Engels, Friedrich 1970: Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik. Gegen Bruno Bauer & Consorten. MEW Band 2. Berlin, S. 7-223

-1978: Die Deutsche Ideologie. Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten Feuerbach, B. Bauer und Stirner, und des deutschen Sozialismus in seinen verschiedenen Propheten. MEW, Band 3. Berlin

Vierkandt, Alfred 1969: Solidarität. In: Bernsdorf, W. (Hrsg.): Wörterbuch der Soziologie. Stuttgart, S. 944-946

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