Krise des Gesundheitswesens? Ist die Schulmedizin heilbar?

Editorial

Über Produktionsbedingungen zu reden ist gute linke Tradition. Daß dabei über die individuellen Arbeitsbedingungen bei der Theorieproduktion recht selten gesprochen wird, hat auch seine guten Gründe: Wer will schon, daß sein Hinweis auf psychische Überlastung durch Nachtdienste oder 'Doppelbelastung' mit Kleinkindern u.ä. von potentiellen Kritikern als Todstellreflex mißverstanden wird? Statt kritischer Auseinandersetzung hervorzurufen, würde man nicht mal ernstgenommen.

Über die Arbeitsbedingungen in der WIDERSPRÜCHE-REDAKTION müssen wir hier allerdings kurz schreiben:

Als 1981 die WIDERSPRÜCHE gegründet wurden, lösten sie die Informationsdienste der Arbeitsfelder ab. In der politischen Begründung dieses Schrittes hieß es u.a.:

"Ein politischer Lernprozeß, in dem Erfahrung, Begriff und Eingriff einander nicht äußerlich bleiben, muß den Kern unseres Politikbegriffs ausmachen. Weder idealistische Aufklärung..., noch eine vermeintliche Authentizität des Bedürfnisses können politische Perspektiven und Identität füllen.

In diesem Sinne muß aber auch der eigene Lernprozeß Gegenstand unserer Politik bleiben. Es bleibt eine Stärke des Arbeitsfeldansatzes, daß er die Fragen nach unserer Emanzipation immer wieder aufwirft, daß Bedürfnisse und Lebensgeschichten nicht Schranken der Politik sind, sondern deren Verwurzelung." (WIDERSPRÜCHE Heft 1)

In den gut vier Jahren, die seitdem ins Land gegangen sind, ist dieser konkrete Anspruch - in aller Kleinheit - durchaus eingelöst worden: Wir haben diskutiert und gestritten, wir haben Veranstaltungen gemacht (u.a. auf den Gesundheitstagen in Hamburg, München und Bremen, zum Mindesteinkommen, die Initiative zum Bildungstag wird von uns wesentlich mitgetragen), Hefte produziert und viel dabei gelernt. Gerade das Aufeinandertreffen von Leuten, die politische - wie Berufsarbeit im Bildungsbereich, Sozialarbeit und im Gesundheitswesen machen, ist sehr fruchtbar und u.W. weiterhin in der BRD einzigartig.

Aber wir haben Sorgen: Während unsere Probleme mit ,Wo-men-power' im Schul- und Bildungsbereich sich deutlich entschärft haben, werden sie für den Gesundheitsbereich zunehmend ernster: Aufgrund lebensgeschichtlicher Entwicklungen (nicht politischer, das sei ausdrücklich vermerkt!) wird unsere personelle Decke für diesen Arbeitsbereich immer kürzer, wir kriegen langsam kalte Füße! Wir brauchen dringend Verstärkung durch Gesundheitsarbeiter! Wir wollen und werden keinem Zeitungsprojekt im Gesundheitswesen Konkurrenz machen, aber es wäre schade, wenn aufgrund personeller Ausdünnung dieser Bereich in den WIDERSPRÜCHEN künftig nicht mehr ausreichend repräsentiert wäre - für die Zeitung und auch für die linke Politik in diesem Arbeitsbereich.

Die Entstehung dieses Heftkonzeptes hatte aber noch eine andere Schwierigkeit - den Gegenstand selbst. Die WIDERSPRÜCHE-Redaktion hatte im Heft 11 (April 1984) einen Entwurf alternativer Sozialpolitik vorgelegt unter dem Titel "Verteidigen, kritisieren und überwinden zugleich!" In der Folge hatten wir uns die Aufgabe gestellt, dieses Konzept für verschiedene Arbeitsfelder zu konkretisieren und damit zu prüfen. Ein erster Versuch für das Arbeitsfeld Gesundheitswesen war ein Aufsatz von Niko Diemer im WI-DERSPRÜCHE-Heft 14 (Feb. 85). Bei den Diskussionen um das vorliegende Heft entzündete sich die Kritik insbesondere an zwei Problemstellen dieses Artikels:

  1. Die Übertragung des Krisenbegriffs von einem Modell kapitalistischer Modernisierung (dem Keynesianismus) auf die Sozialpolitik schlechthin und insbesondere auf das Gesundheitswesen. Alfred Cassebaum (Mitglied der Redaktion des ,Dr. med. Mabuse') führt seine Kritik im ersten Artikel dieses Heftes aus, so daß an dieser Stelle nicht weiter referiert werden soll. Für die Konzeption des Heftes hatte es aber Auswirkungen, daß nicht der Umgang mit der 'Krise', sondern deren Feststellung für das Gesundheitswesen bereits umstritten waren. Der Schwerpunkt wurde von der Konkretisierung eines Konzeptes noch einmal zu seiner Infragestellung verschoben. Daß wir dann überhaupt weitermachen konnten, verdankt sich dem zweiten Kritikpunkt an den o.g. Artikel:
  2. Der Begriff der Produzentenmedizin. Wer um alles in der Welt sind die 'Produzenten'? Ist dies nicht nur eine Leerformel angesichts der theoretischen Zwiste um das revolutionäre Subjekt? Sind sie krisenlösend oder auslösend? Sind sie durch eine materielle/materialistische Bestimmung im Produktions-/ Reproduktionsprozeß faßbar? Alle diese Fragen sind uns unklar geblieben, aber das Gesundheitswesen, dieser Unbegriff aus lauter zugerechneten Eigenschaften, hat eben auch einen Vorteil: Den der überbordenden Praxis. Trotz aller theoretischen Unklarheiten waren wir uns darin einig, daß in diesem Zusammenhang über Selbsthilfe zu reden wäre, die es gerade in diesem Arbeitsbereich reichlich vorzufinden gibt.

Als Leitfragen für das Heft ergaben sich: Welche Krise? Welches Selbst hilft sich und wogegen? Was kann oben nicht mehr? Was will unten nicht mehr?

Die Unübersichtlichkeit ist sicher z.T. dem Gegenstand geschuldet, z.T. aber auch jener theoretischen Schwierigkeit, die Habermas als ,neu' einstuft.

Nach so viel Reden über die Produktionsbedingungen wollen wir nun kurz die Produkte in diesem Heft vorstellen:

Alfred Cassebaum fragt: Crisis? What Crisis? Er geht den Produktionsbedingungen einer scheinbaren Krise im Gesundheitswesen nach und kommt zum Schluß, daß sie weitgehend von oben gemacht ist: Von Seiten der Herrschenden wird in diesem Bereich nicht wirklich bedrohliche Gegenwehr erwartet. Doch diese Rechnung muß nicht aufgehen...

Im folgenden Artikel von Thea Kimmich und Reinhard Laux wird der Versuch unternommen, den Vernetzungen von Hilfe und Herrschaft im medizinischen Denksystem wie in dessen empirisch meßbarer Praxis nachzugehen. Auf die potentielle Nützlichkeit des akkumulierten medizinischen Wissens der letzten 200 Jahre, wäre es nicht an die vorfindliche Hegemonie gebunden, zielt die Frage "Ist die Schulmedizin heilbar?"

Während dieser Beitrag mehr zur Verteidigung bestehender gesundheitspolitischer Rechte aufruft, befaßt sich Helmut Hildebrandt im folgenden Aufsatz mit den schmerzlich wenigen Ansätzen, die eher auf Überwindung der herrschaftlichen Funktionen im Gesundheitssystem eingestellt sind. Er sieht zwar auch eher, daß die oben nicht mehr wollen, insistiert aber darauf, daß es 'unten' einige gibt, die nicht mehr wollen, wohl aber können. Wie sagte kürzlich eine Genossin in der Redaktion: "Wir sind die Dennoch-Akrobaten!"

Warum die Produzentengesundheitspolitik so schwierig ist, erhellt der Beitrag von BILAG: Es gibt z.Zt. Wichtigeres als Gesundheit. Eine sozialpsychologische Argumentation, die unterstreicht, wie wichtig der Aufbau einer alternativen Hegemonie wäre.

Daß es kleine Ansätze dazu gibt, denen man keinen schlechteren Gefallen erweisen kann, als sie jetzt zu hoch zu jubeln, zeigt der folgende Beitrag, Ausschnitt einer Diskussion über Selbsthilfegruppen: Emanzipation oder Affirmation? Der Leser wird bald feststellen, daß beide Elemente zu Recht mit SHG in Zusammenhang gebracht werden, zumal sich im politischen Feld sehr unterschiedliche Interessen um sie ranken.

Wie schwierig eine konkrete politische Verankerung emanzipativer Ansätze im Rahmen von Lokalpolitik ist, stellen Ingrid Schubert und Reinhard Fuß am Beispiel der eigenen Erfahrungen mit der "Staatsknete-Diskussion" in München dar. Gleichzeitig dokumentiert aber gerade dieser Beitrag, wie bitter nötig die konkrete Politik vor Ort die Theorie hat, um nicht den schmalen Grad zwischen Handwerkelei und Kritizismus zu verfehlen.

Eine solidarische Kritik an z.T. verfrühten Umsetzungen in aktuelle Politik formuliert Rolf Schwendter in einer Auseinandersetzung mit dem gesundheitspolitischen Programm der Grünen. Er konstatiert einen Doppelcharakter der Forderungen, der sich von der berühmten 'Deklaration von Alma-Ata' über das gesundheitspolitische Programm der Grünen bis in die Gesundheitsbewegung hinein verfolgen läßt: Der Widerspruch zwischen "Hegemonie des abstrakten Individuums" (mit all seinen technokratischen, expertokratischen Implikationen der sozialen Kontrolle) einerseits und "Subjektivismus des Wohlbefindens" auf der anderen Seite. Die Parallele zu unseren Schwierigkeiten bei der Konzeption dieses Heftes drängen sich auf.

Um nicht den Eindruck zu erwecken, wir beurteilten die Situation als hoffnungslose Aporie, am Ende dann noch einmal Rolf Schwendter, der zur Vorbereitung eines erneuten Gesundheitstages 1987 in Kassel aufruft.

Bis dahin wollen auch wir in der Diskussion ein Stückchen weiter sein - hoffentlich mit einigen neuen Redaktionsmitgliedern!

Hamburg, im Dezember 1985, die Redaktion