Selbsthilfegruppen: Emanzipation oder Affirmation?
Zu dem folgenden Gespräch hatten sich Alfred Cassebaum (A.C.) (Assistenzarzt und Soziologe), Helmut Hildebrandt (H.H.) (Wiss. Mitarbeiter im Forschungsprojekt "Gemeindebezogene Netzwerkförderung" und gelernter Apotheker), Alf Trojan (A.T.) (Medizinsoziologe mit Schwerpunkt Selbsthilfeforschung) und Reinhard Laux (R.L.) (Kinderarzt, Mitglied der Widersprüche-Redaktion) zusammengesetzt.
Die Diskussion war für alle recht spannend und dauerte insgesamt ca. fünf Stunden. Wir geben hier einen redaktionell leicht überarbeiteten Auszug wieder, der den Themenkomplex dieses Heftes am stärksten berührt. Weitere Auszüge wollen wir in folgenden Heften im Forumsteil veröffentlichen. Der hier dokumentierte Gesprächsteil bezieht sich auf die Fragen, ob Selbsthilfegruppen (SHG) ein Ausdruck von Dissidenz sind, und auf ihre politische Funktion: Sind sie eher affirmativ oder emanzipativ?
AT (Alf Trojan): Mein Vorschlag ist, sich darüber zu einigen oder zumindest dazu zusagen, was man gerade meint, wenn man über Selbsthilfegruppen spricht, weil ich glaube, daß ein Gutteil der Diskussion von dem aneinander Vorbeireden lebt. Mein Vorschlag für eine grobe Einteilung wäre: 1. psychologisch-therapeutische Gesprächsgruppen. Das ist ein Bereich den ich jetzt gerne gar nicht thematisieren würde. Das ist sehr stark im Privaten und ich kann da nicht soviel zu sagen. Die Untersuchungen, die es dazu gibt, sind auch nicht besonders schlüssig und ich glaube, es ist für unsere Diskussion auch nicht der interessanteste Bereich. Dann gibt es 2. einen Bereich nach der anderen Seite hin, das sind die alternativen Projekte, die eben auch ganz häufig unter diese Überschrift gefaßt werden. 3. einen dritten Bereich, über den würde ich am liebsten reden, das sind die Selbsthilfegruppen, die sich zusammentun wegen bestimmter Krankheitsprobleme oder bestimmter Lebensprobleme.
AC (Alfred Cassebaum): Ich halte die Einteilung für sinnvoll und auch für politisch und theoretisch richtig und zwar deshalb, weil sie einen Einwand, der ja oft gegen die Selbsthilfedikussion vorgebracht, wird, vorwegnimmt und vorwegnehmend auch entkräftet, nämlich den Einwand, daß der Selbsthilfebegriff ein ja ziemlich mythologischer Begriff ist, unter den sehr viele heterogene Gruppierungen gefaßt werden, die im Grunde genommen, wenn man sie einer genauen empirischen, politischen, soziologischen Analyse unterzieht, nicht so viel besondere Gemeinsamkeiten aufweisen. Gleichzeitig damit stellt sich auch schon eine inhaltliche Frage in Bezug auf diese Selbsthilfegruppen. Also sie sind Krankheits-, Lebensprobleme-, Leidensbezogen. Damit knüpfen sie an - das ist ja auch eine These zur Genese von Selbsthilfegruppen - an Effizienzprobleme der therapeutisch institutionellen Versorgung, die ja für sich in Anspruch nimmt, alle Probleme abzudecken.
- Tun sie das?
- Welcher Art sind diese Effizienzprobleme?
Ist das Effizienzproblem,
a) daß die herrschenden therapeutischen Institutionen des Gesundheitswesens nicht in der Lage sind den Anspruch auf Erhaltung von Gesundheit oder Bekämpfung von Krankheit einzulösen, den sie einlösen wollen, sollen, also was ihre politische und gesellschaftliche Aufgabe ist oder als solche deklariert wird, oder
b) besteht nicht das Effizienzproblem auf einer ganz anderen Ebene und damit will ich jetzt ein bißchen auf eine Funktionsbestimmung von Sozialpolitik und Gesundheitswesen hinaus, die sich gerade nicht auf die Ideologie vom Gesundheitswesen einläßt. Ich meine damit die Theorien des Sozialstaates, die nach Offe kamen, die ja eigentlich davon ausgingen, daß das, was deklariert wird als Ziel, als Funktion von Sozialpolitik, gerade nicht das Ziel und die Funktion von Sozialpolitik ist, sondern das es eine untergründige, nicht offiziell kenntlich gemachte Funktion gibt, nämlich die "Umwandlung von passiver in aktive Proletarisierung" - und wie verhalten sich Selbsthilfegruppen zu diesem Effizienzproblem, da auf dieser Ebene das Gesundheitswesen seiner Funktion nicht mehr gerecht wird, haben sie damit nicht auch etwas zu tun? Ist es nicht eine zu euphemistische Betrachtung, zu sagen, das Gesundheitswesen kann Gesundheit nicht sichern und an dem Punkt besteht ein Effizienzproblem, daran knüpfen Selbsthilfegruppen an. Wäre es nicht viel richtiger, das ist dann auch eine Frage nach der Empirie, zu sagen, das Gesundheitswesen kann die Normalisierungsleistungen, die seine Funktion eigentlich ausmachen, nicht vollbringen, das ist ein Effizienzproblem, da springen Selbsthilfegruppen ein.
"Warum gehen Menschen überhaupt in Selbsthilfegruppen?"
AT (Alf Trojan): Man kann da jetzt in zwei Richtungen weiterreden, sozusagen in die sehr sozialstaatsbezogene, ganz allgemein theoretische oder eben zurück zur Empirie. Ich ziehs jetzt erst mal vor, zu dieser Empirie zu kommen, das ist ja auch deine erste Frage.
RL (Reinhard Laux): Kannst du auch gleich noch dazu Stellung nehmen: Ich habe in dem Bericht hier über die Tagung gelesen, (1) daß bei vielen Selbsthilfegruppen die Teilnahme zu einer höheren Inanspruchnahme von Experten führt.
AT: Also erstmal muß ich sagen, diese Eingrenzung auf Gruppen die mit dem bestehenden Gesundheitswesen zu tun haben, ist mir deswegen sehr lieb, weil ich am meisten dazu sagen kann, gerade die haben wir untersucht. Wir haben ein Spektrum von 232 Interviews, aus 65 krankheitsbezogenen Selbsthilfegruppen. Da fehlen nur zwei Extreme: das eine sind die "Krüppelgruppen", die gesagt haben, wir machen bei so etwas nicht mit, wir können uns selbst vertreten, und auf der anderen Seite fehlen sehr hierarchisch gegliederte Selbsthilfeorganisationen wie die Rheumaliga insbesondere, die dann auch in bezeichnender Weise uns geschrieben haben, "sind wir im Vorstand zu der Überzeugung gekommen, daß sich unsere Gruppenteilnehmer für die von Ihnen geplanten Befragungen nicht zur Verfügung stellen werden". Da wird schon deutlich, daß das eben große Organisationen sind, so ähnlich wie die Wohlfahrtsverbände, die sich nicht gerne in die Karten gucken lassen und deshalb Forschung ein bißchen negativ gegenüber stehen. Und es ist vielleicht wichtig zu sagen: von den "Gehörlosen" hat es eine Ablehnung gegeben, weil die gesagt haben, bei uns sind Leute im Verband, die sich noch erinnern an die Nazizeit - da kamen freundliche junge Leute und haben gesagt, es ginge um Integration und so was und nachher wurden die Kinder aus den Schulklassen rausgeholt: hier war also wirklich die Angst vorhanden, daß die Daten mißbraucht werden zur sozialen Kontrolle und zur Selektion; und bei den Krüppelgruppen mag dieses Motiv auch eine Rolle spielen. Aber ansonsten geben die Ergebnisse wirklich ziemlich breit den Bereich der krankheitsbezogenen Selbsthilfegruppen wieder. Unsere Frage war, inwieweit treten sie Selbsthilfegruppen bei aus einer Kritik am Gesundheitswesen? In Intensivinterviews hatten wir relativ deutlich dieses Motiv immer wieder gefunden.
In der großen Befragung sah es so vordergründig aus, als ob das relativ wenig wären: Beitritt wegen Versorgungsmängeln - das sagten "nur" 44% (vgl. Tab. 1). Wir hatten aber an einer späteren Stelle des Fragebogens zur Absicherung und zur Präzisierung eine weitere Frage, die lautete: Welche Mängel der Gesundheitsversorgung haben sie erfahren vor dem Beitritt zur Selbsthilfegruppe? Da ist in einem enormen Umfange Kritik an der Gesundheitsversorgung rausgekommen (vgl. Tabelle 2). Man kann die Mängel in zwei große Gruppen teilen, das eine sind Mängel, die hängen mit der mangelnden Kommunikation, mangelnden Information und mangelnden Aufklärung zusammen. Man kann das aber auch wie du das ins Spiel gebracht hast, als ein Herrschaftsproblem ansehen; das ist eben immer eine ungleiche, eine asymetrische Beziehung.
Das wichtigste Beitrittsmotiv: "lernen wollen"
Für alle diese Punkte haben immer mehr als dreiviertel gesagt, daß sie das selbst am eigenen Leibe erfahren haben. Und wichtig ist, glaube ich, für diesen Aspekt Herrschaft: "zuviel autoritäre Entscheidung" ist das zweithöchste; 82% haben dem zugestimmt.
Die zweite Kategorie von Mängeln kann man zusammenfassen unter der Überschrift "Strukturprobleme des Gesundheitswesens". Das wolltest du, glaube ich, auch mit dem Begriff mangelnder Effizienz der Versorgung ansprechen; da wird schlechte Kooperation zwischen Ärzten und anderen Berufen beklagt, zwischen Akutversorgung, Nachsorge, zwischen ambulanten und stationären Bereich. Fehlen bestimmter sozialer Dienste, unnötig starkes Abhängig-gehalten-werden - das könnte man auch noch da oben dazuzählen - und Fehlen bestimmter organ-medizinischer Versorgungsmöglichkeiten: dieser Punkt war am geringsten genannt, und das waren 49%.
Tab. 1: Häufigkeit verschiedener Beitrittsmotive bei Mitgliedern von krankheitsbezogenen Selbsthilfegruppen
Beitrittsmotive
Zustimmende Mitglieder in % (N = 232)
Von anderen Betroffenen lernen wollen
93
Bewältigung von Krankheitserscheinungen
73
Bewältigung von Alltagsproblemen
73
Beitritt wegen Versorgungsmängeln
44
Angabe von vor dem Beitritt erlebten Versorgungsmängeln (Gesamtschule)
89
Beitritt wegen Unzulänglichkeiten primärsozialer Netzwerke, d. h. Überforderung der Familie, Freunde etc.
23
Sich selbst besser kennenlernen wollen
26
Sein Leben verändern wollen
27
Quelle: vgl. Anmerkung 2
Ich meine, daß das zeigt, daß diejenigen, die in die Selbsthilfegruppen gehen, mit Sicherheit stark auch durch die Krisenprobleme in diese Selbsthilfegruppen gekommen sind. Theoretisch könnte das auch als indirekte Bestätigung der Qualität des Gesundheitswesens angesehen werden, wenn man in Betracht zieht, daß praktisch nur zwischen 1 und 5% maximal von der jeweiligen Problemgruppe in einer Selbsthilfegruppe sind.
HH: Das hieße ja, daß 95% zufrieden sind. Das glaube ich nicht.
AT: Nein, das glaub ich auch nicht. Für mich klärt sich der Widerspruch auf, wenn ich auf die anderen Beitrittsmotive der Teilnehmer (Tabelle 1) schaue: Ganz vorne an stehen: "lernen wollen", Alltags- und Krankheitsprobleme in den Griff kriegen wollen. Ich interpretiere das so, daß sich in Selbsthilfegruppen diejenigen zusammentun, die ihre Zukunft selbst gestalten wollen, die noch was Positives aus ihrem Leben machen wollen, noch nicht resigniert sind oder - szenemäßig gesagt - die noch genügend Power haben, sich aktiv zu wehren.
RL: Mal andersrum, ist es denn überhaupt richtig, daß Selbsthilfegruppen zahlenmäßig zunehmen?
AT: Ja, ich könnte das auch intensiver belegen. Mir scheint diese Aussage besonders bemerkenswert angesichts dessen, daß ja nun für die Friedenbewegung, für die Ökologiebewegung, für die Wählerstimmen der Grünen, für fast alle neuen sozialen Bewegungen schon der Tod oder zumindest der Abschied beklagt werden.
Wir haben z.B. 2 Jahre lang die Kleinanzeigen in den Zeitungen angeschaut wieviele Leute Selbsthilfegruppen suchen; das hat ungefähr um 90% von einem Jahr zum anderen zugenommen.
Außerdem hatten wir die Kontaktpersonen von 60 Gruppen gefragt, wieviele sind im Durchschnitt, im letzten Jahr ausgetreten und wieviel sind dazugekommen. Da war das so, daß 10 dazugekommen und 4 ausgetreten sind (das sind Durchschnittszahlen), also da findet offenbar ein Anwachsen der bestehenden Gruppen statt. Aber das eigentlich Schlagkräftigste ist, daß in der Kontaktstelle für Selbsthilfegruppen das auch bis jetzt weiterverfolgt wird, wo neue Gruppen entstehen - um systematisch Kontakt aufzunehmen mit denen, sonst könnten sie auch nicht vermitteln - und es gibt die "Selbsthilfezeitung" von KISS, wo sich Leute melden und eine Selbsthilfegruppe suchen. Sowohl die Zahl der Gruppen, die bekannt sind, hat zugenommen, als auch die Zahl der Anrufe von Leuten, die Gruppen suchen und, was ich am wichtigsten finde, was nämlich während der Projektzeit ein Riesenproblem war - es hat auch die Zahl der Leute zugenommen, die bereit sind, Gruppenkern zu sein, d.h. also bereit sind, mit einem oder zwei anderen und mit Unterstützung von KISS eine neue Gruppe zu gründen. Dazu sind die meisten nicht bereit; die wollen eine Selbsthilfegruppe zuerst oft wie sie ein Versorgungsangebot in Anspruch nehmen.
Weiteres Beispiel: Wir haben es auch bei einer alten etablierten Selbsthilfegruppe, den Anonymen Alkoholikern, nachvollziehen können: Ende 1969 war das so, daß es 4 Gruppen gab. Dann gab es ca. 70 am Ende er 70iger Jahre, also in einem 10-Jahreszeitraum und 1984 waren es schon ca. 120 Gruppen, ...
HH: Auf welchen Bereich bezogen?
AT: Nur anonyme Alkoholikergruppen in Hamburg; das zeigt eben, daß auch die alten Gruppen Zuwachs bekommen haben. Außerdem wachsen die Gruppen in die Breite, d.h. es gibt für immer mehr (m. W. ca. 400) verschiedene Krankheiten und Probleme Selbsthilfegruppen.
Tab. 2: Häufigkeit der Zustimmung zu einzelnen Versorgungsmängeln vor Beitritt
Mängelaussagen
Zustimmung* in %
Zu wenig Aufklärung und Information
85
Zu viel autoritäre Entscheidungen
82
Zu wenig Zeit für Kranke und Angehörige
79
Zu große Undurchschaubarkeit des Versorgungssystems
79
Zu unpersönliche Versorgung
77
Zu große Undurchschaubarkeit von Rechts- und Finanzierungsregelungen
75
Fehlende Versorgungsmöglichkeiten für psychosoziale Probleme
75
Schlechte Kooperation zwischen Ärzten und anderen Berufen
67
Schlechte Kooperation zwischen Akutversorgung und Nachsorge
63
Schlechte Kooperation zwischen ambulantem und stationärem Bereich
59
Fehlen bestimmter sozialer Dienste
58
Unnötig starkes Abhängiggehaltenwerden
56
Fehlen organmedizinischer Versorgungsmöglichkeiten
49
* Zustimmung war unterteilt in "Hätte ich damals voll" und "teilweise" zugestimmt. Dies ist hier zusammengefaßt. Es haben bei jedem Mangel jeweils 2-3mal so viele voll zugestimmt wie bei der weniger kritischen Antwortmöglichkeit "teilweise".
Die Anzahl der Antworten liegt bei allen items nur um 200: Die meisten Mitglieder der Behindertengruppen konnten diese Angaben nicht mehr für die durchschnittlich 22 Jahre zurückliegende Zeit vor dem Beitritt erinnern.
Quelle: vgl. Anmerkung 2
AC: Ich finde, wir sollten jetzt dazu übergehen, das zu interpretieren. Du hattest bei deinen Umfrageergebnissen zwei Motivationsgruppen angeführt, das eine ist der Mangel an Kommunikation, zuviel Herrschaft, zuviel Autorität als empfundener Mangel des Gesundheitswesens, das zweite ist das Effizienzproblem. Ich will jetzt mal auf den ersten Punkt eingehen und dazu auch eine These bringen, das geht ja auch ein bißchen in die Richtung, was auch oft gesagt wird, Selbsthilfegruppen haben die Möglichkeit das Experten-Laien-Gefälle im Sinne einer Demokratisierung zu verändern. Ich will das jetzt aber an einem Punkt problematisieren, nämlich: Die Experten sind das Eine und das Expertenwissen ist das Andere. Deswegen Frage oder auch These - machen Selbsthilfegruppen nicht zum Teil einfach nur das, daß sie sich das Expertenwissen aneignen und dann die Expertenherrschaft ohne Experten sozusagen selbstverwaltet exekutieren.
"Wird durch Selbsthilfegruppen nicht die Konfrontation von Herrschern und Beherrschten verfeinert?"
Übernehmen sie nicht z.B. nur nosologische Einteilungen, Diagnosen, pathophysiologische Erklärungsmechanismen einfach aus der professionellen Medizin, eignen sich das an und machen sich damit zu so einer Art Miniexperten, das ist sozusagen ein Übergang in der Trägerschaft des Expertenwissens, aber ändert sich dadurch die Funktion - das geht so ein bißchen in die Richtung Mikrophysik der Macht - ist es nicht so, daß die äußere Konfrontation von Herrschern und Beherrschten verfeinert wird oder verschwindet zugunsten einer Verinnerlichung von Herrschaft. Ich denke, daß das bei bestimmten Selbsthilfegruppen so ist, z.B. daß die Anonymen Alkoholiker ein ziemlich krasses Beispiel sind oder auch viele andere Anonymus-Gruppen.
Ich behaupte, daß die Leistung dieser Selbsthilfegruppe darin besteht - und das von den Mitgliedern auch angestrebt wird - die Normalisierungs- und Anpassungsleistungen, die von den Experten nicht mehr gebracht werden können, in Selbstverwaltung in der Selbsthilfegruppe viel effizienter bringen zu können.
Also: Ist die Demokratisierung des Expertenwissens gleichzeitig eine Emanzipation von Expertenwissen?
AT: Also ich sage erst einmal warum ich meine ja, und dann vielleicht auch mal, wo ich Grenzen sehe und selber offene Fragen habe. Also ich meine, du hast Recht in dieser Beurteilung: es ist ein ganz starkes Element in diesen Gruppen, daß da Expertenwissen ausgetauscht wird untereinander, systematisch angeeignet wird und daß die sich dann Experten, aber wirkliche Experten! für ihre Krankheiten - auch von auswärts - heranholen in ihre Gruppen und von denen lernen. Das ist auch ein wesentliches Beitrittsmotiv (S. Tab 1). Ich glaube, daß es deswegen emanzipativ ist, weil die meisten in diesem Bereich unter Krankheiten leiden, bei denen 90% der Experten, will ich mal frech sagen, der sogenannten Experten, der Ärzte nämlich, im Grunde gar nicht richtig Bescheid wissen, d.h. nur Bruchstücke von Wissen haben und wo es Glücksache ist, ob jemand wirklich einen Experten erwischt, wenn er zum Arzt geht oder nicht.
Ich finde, die emanzipative Wirkung, wo wirklich Herrschaft aufgehoben wird, das ist auf der Ebene der alltäglichen Arzt-Patientenbegegnung, wo nämlich die Leute in der Selbsthilfegruppe, einem allgemeinen Arzt und auch einem durchschnittlichen Krankenhausarzt auf der Expertenebene tatsächlich begegnen können. Das ist eine Sache, die das Verhältnis verändert. Ich könnte da auch Befragungsergebnisse zitieren, daß Wissen nicht nur erworben, sondern auch angewendet wird.
AC: Da könnte natürlich auch eine Komplizenschaft zwischen Arzt und Patient daraus werden.
AT: Ja, aber ich glaube der Ausdruck paßt nicht mehr, wenn die z.B. sagen: unser Verhältnis zu den Ärzten ist besser geworden, seitdem die akzeptieren, daß wir Fortbildung für sie machen. Also, daß die Selbsthilfegruppe über ihre Krankheit Fortbildung für Experten machen, das ist ja eine Umdrehung des Verhältnisses. Nur man muß jetzt auch wieder die quantitative Dimension vor Augen haben, also daß es nicht so viele sind, die überhaupt in den Selbsthilfegruppen sind, und ich würde gerne noch einen Aspekt, der mir ganz wichtig erscheint, da hineinbringen: Wenn ein Arzt seine Erfahrung anführt, die gesammelte Erfahrung, dann kann jemand aus einer Selbsthilfegruppe auch mit gesammelter Erfahrung argumentieren und ich glaube, der fühlt sich dann in der Situation stärker, als ich, d.h. als Arzt ohne gesammelte (Berufs-)Erfahrung.
RL: Stichwort "emanzipative Gehalte", "Selbsthilfegruppenmitglieder werden selber zu Experten". Du hast Asthmagruppen genannt, und ich kenne das mehr aus dem Bereich Eltern asthmakranker Kinder. Diese Gruppe beispielsweise, die ich im Auge habe, die funktioniert ganz deutlich nach dem Modell der pressure group und ich denke, so etwa ist es ja bei funktionierenden Marktmechanismen in der Geburtshilfe auch, Rooming-In und bei natürlicher Geburt, wo zum Teil Experten ihre Überzeugung, ihr Wissen bis an den Rand des Verrates bringen, einfach unter dem Marktdruck, das ist jetzt gefragt, hier ist eine Gruppe, die macht in der Richtung Druck und Propaganda, also verändern wir uns jetzt in dieser Richtung. Und bei den Asthmagruppen finde ich es besonders problematisch gerade deshalb, weil mein Eindruck ist, daß die Eltern in diesen Gruppen unheimlich psychodynamische Probleme haben und diese aber bei ihren Anfragen an die Experten immer gekonnter ausklammern. Sie somatisieren das Problem eigentlich immer stärker und ich meine sogar, daß sie das Wissen der Experten ausdünnen und in eine Richtung bringen, die stark medikalisiert, somatisiert ist, und das bringt mich zu dem Problem. Voraussetzung für die Emanzipation wäre ja, daß Bedingungen im sekundären Krankheitsgewinn, daß psychodynamische Probleme, die in der Krankheit eine Rolle spielen, auch irgendwo bearbeitbar werden können, und ich habe gerade den Eindruck, daß, je expertenhafter Selbsthilfegruppen sich geben, desto mehr klammern sie gerade diese Dimension aus, und zwar perfekter, als die Experten.
"...Animositäten zwischen den verschiedenen Selbsthilfegruppen..."
AT: Das ist ein hochinteressantes Beispiel, man kann vielleicht generalisieren bei allen psychosomatischen Problemen kommt das zum Tragen, daß die kaum mehr auf die innere Dimension, das innere Problem eingehen, bloß eben das Äußere. Nur: das hat eben für dich in der Klinik einen negativen Aspekt, aber es hat auch einen positiven Aspekt, daß es ganz eindeutig eine Gruppe ist, die als Lobby funktioniert gegen die äußeren Ursachen von Krankheiten und die eben ausgehend von ihrer Krankheit Umweltprobleme aufgreift und gerade dieser Verband, mit ca. 100 Ortsstellen, hat auch eine Broschüre herausgegeben, in der für eine bessere Umweltpolitik gestritten wird und ich denke dadurch wird das Problem noch komplexer. Ich denke dieses "nach Außen" die Probleme sehen, das hat auch eine emanzipative Funktion, nämlich zu den Ursachen zurückzugehen, allerdings von bestimmten anderen Ursachen vielleicht dann auch abzulenken.
HH: Wenn ich mich da so an meine SB-Geschichte erinnere, da denke ich, haben wir ebenfalls oft von unseren "inneren" Problemen abgelenkt. Trotzdem war das für uns wichtig und hat uns auch Kraft gegeben, später dann auch psychischen Zusammenhängen auf den Grund zu gehen.
AT: Aber ich wollte damit die Problematik, die du anschneidest nicht vom Tisch wischen, das ist nämlich genau das, was ich vorhin angekündigt habe, wo auch bei mir die Fragen anfangen und wo ich nicht sicher bin. Es gibt nämlich bei dieser Sache aktive Interessenvertretung, was ich erstmal positiv empfinde.
Aber z.B. bei den Herzoperationen eine Koalition mit professionellen Experten zu bilden, ist fragwürdig, da m.E. zu viele Herzoperationen, insbesondere diese Bypassoperation, gemacht werden. Der Erfolg bei den Sachen ist zweifelhaft; die meisten Leute fühlen sich subjektiv gar nicht besser, es wird ihnen eben auch etwas falsches suggeriert - das ist ein echtes Problem, daß die ganz eindeutig auf der Seite der Herzchirurgen sind, die ja immer mehr Herzoperationskapazitäten fordern. Ich glaube es gibt auch im Behindertenbereich, oft bei den etablierten Behindertenverbänden, so etwas wie, immer mehr Technik zu fordern wo ich glaube, daß die Technik zum Teil Ersatz ist für andere Dinge, die fehlen - aber das ist immer so leicht zu sagen, wenn man gesund ist. Ich will damit bloß sagen, daß diese Selbsthilfegruppen sicher auch in gewisser Weise benutzbar sind und auch vereinnehmbar sind, nicht nur von Staatswegen sondern auch von Seiten des Marktes, und die Experten betrachte ich dabei mal als einen Teil des Anbietermarktes.
AC: Du hast eben gesagt, Vereinahmung von Experten, Lobbyarbeit für eine Optimierung, im Grunde nur der seit jeher bestehenden professionellen Versorgung. Das bringt mich noch auf etwas anderes, nämlich auf eine Marktkonkurrenzverschiebung zwischen den verschiedenen Selbsthilfegruppen, und wenn man jetzt mal versucht das ganze Feld zu sehen, dann fällt einem ja auf, daß es zum Teil ja auch erhebliche Animositäten zwischen den verschiedenen Selbsthilfegruppen gibt. Besonders deutlich bei den Blindengruppen, die ja von vielen anderen so als Elite der Behindertengruppen gesehen werden, die ja auch z.T ein elitäres Selbstbewußtsein haben. Führt das nicht dazu, daß quasi unter diesen Selbsthilfeverbänden eine neue Ellenbogenmentalität sich breit macht, wir sind die beste Pressure-Group, wir haben das beste Public Relation- und Lobbykonzept und wir können uns am besten im politischen Feld durchsetzen, anders herum gesagt, ist das nicht ein Indiz dafür, daß das ziemlich unzulässig ist oder auch ziemlich blauäugig, das ganze jetzt zu einer Bewegung zu machen, ist es nicht so, daß das so eine Ideologie des freien Marktes ist, der dadurch eine neue Stärkung erfährt. Jeder kann etwas werden in dieser Gesellschaft, wenn man nur seine Interessen in die Hand nimmt, im Sinne einer pluralistischen politischen Ideologie, und ist es nicht so, daß mehr divergente, zentrifugale Tendenzen innerhalb dieses Gesamtfeldes Selbsthilfegruppen oder Selbsthilfeverbände da sind, als zentripetale?
Emanzipation nur noch eine des unmittelbaren Erlebens?
RL: Bevor du darauf antwortest, ich denk die gleiche Frage andersrum ist die: Wir haben jetzt eigentlich immer als Ziel der Emanzipation von Selbsthilfegruppenteilnehmern das Freiwerden von Experten genommen und das ist mir ein bißchen zu sehr am Illich dran, wo dann die Macht letztlich in den Experten wohnt und nicht in den ökonomischen Bedingungen oder Herrschaftsstrukturen. Insofern bin ich mir immer noch nicht ganz sicher, wenn wir von emanzipativen Funktionen reden, was wir jetzt mit Emanzipation meinen. Habt ihr Forschungsergebnisse, inwiefern die Teilnahme an Selbsthilfegruppen Verhalten in sozialen Bereichen verändert, auch Wählerverhalten, das Verhältnis zu Selbsthilfegruppen alten Stils - ich nehm mal ganz großspurig die Gewerkschaften, die ja irgendwo historisch sowas sind. Ich hab den Eindruck, daß es in der Entwicklung so ist, daß die Teilnahme an Organisationen, die sich an ökonomischen und sozialen Problemen aufhängen und damit eine wirkliche Dissidenz und ein Gegengewicht gebildet haben, nicht zuletzt die ganzen linken Bewegungen und die elitären Gruppen und Avantgarden - die sind Anfang der 70iger Jahre mehr oder weniger sang- und klanglos zugrunde gegangen, die Gewerkschaften kämpfen jetzt doch sehr um ihre Existenz - und etwa parallel dazu stieg so der Begriff der Selbsthilfe, dieses Unmittelbarkeitsideal an, und ich habe jetzt manchmal den Eindruck, daß Emanzipation jetzt so eine Emanzipation des unmittelbaren Erlebens ist, wie sich stärker fühlen, ein bißchen mehr angstfreien Raum bekommen. Aber eine politische Emanzipation, politische Rechte, Teilnahme an gesellschaftlichen Entscheidungen, in diesem Emanzipationsprozess nur noch sehr wenig thematisiert wird.
AT: Das sind dann aber ganz schön viele und unterschiedliche Fragen...?
AC: Ich glaube schon, daß das möglich ist, das in eine Frage zu fassen und ich würde das ganz gerne mal auf Begriffe ziehen, also auf sehr alte Begriffe in der linken Diskussion, nämlich mit dem allgemeinen und dem partikularen Standpunkt. Ist es so, daß in Selbsthilfegruppen, so was wie ein allgemeiner Emanzipationsstandpunkt zu entdecken ist oder ist es nicht nur sozusagen eine organisatorische Neufassung von Partikularinteressen oder vielleicht eine erstmalige organisatorische Fassung von Partikularinteressen, wo es aber eine sehr waghalsige Interpretation wäre, da die Linie zum allgemeinen gesellschaftlichen Emanzipationsprozess zu ziehen. Oder ist dir das zu allgemein?
AT: Nein, nein, das muß man ja erst mal verstärken, das ist so: diese Selbsthilfegruppen sind ja nach den üblichen Kästchen, Kategorien, Krankheiten und Problemen organisiert und das sind Partikularinteressen, die die vertreten. Nun kommt das große Aber: Das sind Partikularinteressen von Gruppen, die in unserer Gesellschaft allgemein als nicht politikfähig gelten, weil sie keine Durchsetzungsmacht haben wie z.B. Gewerkschaftenals Arbeitnehmervertretung, weil sie eben auch nichts haben, was sie verweigern können oder womit sie einen politischen Druck ausüben können. Insofern ist es etwas enorm Politisches, wenn unzufriedene "Dienstleistungskonsumenten", ich sage das mal so technokratisch, ihre Stimme erheben und sich beschweren oder Mitwirkungsrechte fordern und zum Teil sich auch nehmen.
Und jetzt kommt die Frage: Gibt es irgendsowas wie einen gemeinsamen Nenner, der dann auch so etwas wie eine gemeinsame Politik konstituieren könnte? Uns sind auf der Tagung November 83 in Hbg., auf der ja wirklich sehr unterschiedliche Selbsthilfegruppen mitgemacht haben, auch viele Gemeinsamkeiten deutlich geworden. Da war sogar eine Aufbruchstimmung zu verspüren, gerade dieses Thema "Sozialpolitik und Selbsthilfeförderung" weiter zu verfolgen, d.h. die gemeinsamen Interessen. Bei diesem Thema wurde - trotz Partikularinteressen - aber auch gemeinsame Gegenwehr gegen bestimmte Kürzungen gefordert; da war die Diskussion durchaus solidarisch und es war für viele ein Aha-Erlebnis , zu sehen, daß auch andere Gruppen dasselbe erleben wie sie selbst.
Da hat sich zunächst eine Gruppe konstituiert, die ist aber hinterher wieder eingeschlafen. Inzwischen gibt es eine problemübergreifende AG, die sich bei KISS trifft und ein "Selbsthilfehaus" fordert.
AC: Ich versuche halt, diese Selbsthilfegruppen-Fragestellung immer auch in so einem linken Theoriezusammenhang zu begreifen und da gibt es traditionell in der Theorie der bürgerlichen Gesellschaft zwei Arten von Partikularinteressen, das Interesse der Bourgeoisie, was notwendigerweise partikular bleiben muß, um sich nicht selber aufzuheben, weil es den allgemeinen Standpunkt nicht einnehmen kann, andererseits das Partikularinteresse des Proletariats, was allgemein werden muß, um sich zu verwirklichen.
HH: Gut, damit vertrittst du eine wirklich sehr alte Theorie.
AC: Na ja gut, das ist die alte Theorie, aber ich glaube, daß die implizit immer auch noch bei sehr vielen Theoretikern aus der Selbsthilfebewegung da ist, nämlich als Vorstellung, daß sich diese verschiedenen Partikularinteressen auf irgend eine Weise zu einem Allgemeininteresse zusammenschließen werden oder können.
HH: Welche Partikularinteressen?
AC: Die Partikularinteressen der verschiedenen Selbsthilfegruppen.
HH: In Verkörperung des Proletariats?
AC: Nein, als sozusagen revolutionäres oder emanzipatives Projekt in der Tradition des Proletariats, was abgeschrieben ist.
RL: Sagen wir mal als Ergebnis der Auflösung einer Arbeiterklasse in sehr viele diffuse Klassenströmungen, die aber in der Kontinuität eher von der Arbeiterklasse kommen, als von einer Kapitalklasse.
HH: Gut, wenn man jetzt auf der Ebene diskutiert, könnte man sagen, Selbsthilfegruppen vertreten partikulare Interessen. In der Form und dem Inhalt ihrer Arbeit ist aber die Möglichkeit angelegt, zu allgemeineren Interessen durchzustoßen.
AT: Wobei natürlich die Richtung der Interessenentwicklung schwierig wird. Ich hatte gesagt, Emanzipation von den Experten ganz überwiegend: ja. Aber ... was Kapitalinteressen angeht, wenn man das mal jetzt gleichsetzt mit den Marktanbietern von Produkten (also weniger von Dienstleistungen), gerade da denke ich ist eine ziemliche Gefahr, daß sie sich einwickeln lassen.
AC: Ich würde das noch ein bißchen erweitern, so als grundsätzliche Überlegung: es hat in der Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft immer Emanzipationsbewegungen im Reproduktionsbereich gegeben, die sich im nachhinein als Optimierung auf der ursprünglich funktionellen Schiene erwiesen haben.
Das ist vielleicht ein system-theoretischer Defätismus, ich weiß es nicht, ich denke dabei an die ganzen Psychiatriereformen, die natürlich immer zwei Momente beinhalten, einerseits Reduzierung der Inhumanität der psychiatrischen Versorgung, auf der anderen Seite aber eine Erhöhung sozusagen der gesellschaftlichen Wirksamkeit von Psychiatrie. Ich lasse mich erst mal nicht darauf ein, daß jetzt ein Gegensatz konstruiert wird, Experten, feststehende Gruppe und Klasse-Kaste von Experten auf der einen Seite und Selbsthilfegruppen als Antiexperten - Konglomerat in irgend einer Weise auf der anderen Seite, die schon dadurch, daß sie nicht Experten sind, etwas ganz anderes sind. Ich würde es erst mal für möglich halten, daß die auch sozusagen eine innovative Funktion haben, eine innovative Funktion, die aber die Herrschaftsfunktion von Sozialpolitik, vom Gesundheitswsesen, von Medizin weitgehend unangetastet läßt und sich im Nachhinein letztlich, ja als eine Optimierung, Differenzierung dieser Herrschaftsfunktion erweisen wird.
"...wir sind eben vielleicht die 'nützlichen Idioten', die die Anpassung nachvollziehen..."
AT: Also wenn ich sage, ich habe im Moment meine Zweifel, dann denke ich nicht nur an die Selbsthilfegruppen, sondern auch Gesundheitsläden oder wo man jeweils selbst mitarbeitet, ob wir nicht alle bei dem, was wir an innovativem Potential, kreativen Ideen, aber auch an emanzipativ politischem Handeln auf die Beine stellen, ob wir da nicht bloß hinter irgendwelchen technologischen Entwicklungen hinterherhinken. Denen müssen die ganzen sekundären Systeme angepaßt werden, und wir sind eben vielleicht die nützlichen Idioten, die diese Anpassung nachvollziehen - wobei ich diesen Begriff 'nützliche Idioten' vielleicht doch lieber zurücknehmen möchte, weil ich glaube, es ist genau so eine wichtige Tätigkeit und Aufgabe wie die des Mediziners/in der kurativen Medizin. Da kann man sich eben auch nicht hinstellen und sagen, das ist ja bloß "das Kind aus dem Brunnen herausholen" oder "Anpassung" von Patienten, sondern es ist eben für die aktuelle Situation etwas dringend notwendiges.
AC: Das ist auch ein virtueller Standpunkt, den ich dabei einnehme, bloß ich habe dabei auch einen Hintergrund, ich denk dabei schon an so eine Dynamik der Vergesellschaftung, die zwei Stichworte "Intimisierung von Politik", "Politisierung von Subjektivität", also eine immer intensivere Durchdringung von Herrschaft als was Großem, was Institutionellem, Kapital, Staat und ursprünglichen Refugien des Privatem, Emotionalität, der geschützten Subjektivität, und ich denke schon, daß sich über die ganze Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft Tendenzen erkennen lassen, wie sich das immer mehr durchdringt.
HH: "Enteignung der Privatheit"...
AC: Enteignung würde ich gar nicht sagen, Vergesellschaftung der Privatheit, aber Vergesellschaftung in einem herrschaftlichen Sinn, ja, nicht in einem emanzipativen Sinn.
RL: Du hast es ja gerade selber ein bißchen relativiert, aber eben hast du Vergesellschaftung, zunehmende Vergesellschaftung gleichgesetzt mit Vergesellschaftung unter feststehenden herrschaftlichen Bedingungen und ich denke, das kann man nicht. Vergesellschaftung ist erst mal ein Entwicklungszug, der aufgrund vieler sozialer Phänomene stattfindet und unter konkreter Herrschaft, aber eben nicht nur ausschließlich unter Herrschaft, sondern auch unter Gegenwehr, die stärker oder schwächer jeweils Ausgangsbasis ist; und in diesem Zusammenhang denke ich, daß man Vergesellschaftung wahrscheinlich nicht oder nur sehr schlecht und vielleicht auch nur bei Strafe, bei Verlust von Fähigkeiten, zurückdrehen kann. Die Frage aber, wer in einer Vergesellschaftung herrscht, ist sehr wohl angehbar und da kann Vergesellschaftung ja sogar auch eine Hoffnung sein und insofern begreif ich die Selbsthilfeansätze gegen die Experten, eher als ein Stück vorpolitischen Raum, in dem sowas wie eine politische Kultur möglich wird, noch nicht einmal notwendig entsteht, sondern möglich wird, und in dieser Möglichkeit der politischen Kultur ist die Erfahrung, gerade die persönliche Erfahrung, Widerstand zu leisten, vielleicht sogar erfolgreich Widerstand zu leisten, sich vielleicht in einem Zusammenschluß durchsetzen zu können, erstmal etwas Wichtiges; überhaupt noch nicht eindeutig in einer Richtung, aber durchaus eine notwendige Voraussetzung in der Richtung, daß man gemeinsam Machtverhältnisse verändern könnte. Ich denke allerdings einige, Experten - da spreche ich aus Erfahrung - sind manchmal der falsche Prügelknabe, und zwar deshalb falsch, weil es nicht darum geht, Experten allgemein zu schlagen, sondern beim Auseinanderfallen in Status und Kompetenz, in horizontale und vertikale Arbeitsteilung, in Herrschaft und Hilfe, den Herrschaftsaspekt der Experten, anzugreifen. Ich bin ja eigentlich ein radikaler Expertenbefürworter, ich bin der Meinung, man braucht bessere Experten und ich habe den Eindruck, eine Selbsthilfegruppe, die nach meinem Dafürhalten eine gute Selbsthilfegruppe ist, die enttarnt falsche Experten, die nur den Status hochhalten und keine Kompetenzen haben und...
AC: üben auf Leute wie dich einen permanenten Leistungsdruck aus.
RL: Natürlich tun sie das, zu Recht, das ist ja im Rahmen von verdichteter Vergesellschaftung auch meine Funktion das zu leisten, deshalb brauche ich auch verkürzte Arbeitszeiten - brauchte ich.
So würde ich erst mal im groben Zug eine Richtung einer politischen Kultur sehen, die möglicherweise entstehen könnte und die Frage ist für mich jetzt, entsteht sie dann auch so, oder wird da bei dem Partikularismus stehen geblieben, oder wenn die Vernetzung im geringsten Maße nicht gelingt, nämlich das Ankämpfen gegen Herrschaft in Gestalt von Experten, die Herrschaft ausüben bei mangelhafter Kompetenz, wenn das nicht verallgemeinert wird und nicht erkannt wird, daß das das Exemplarische ist, was einem gemeinsam ist, dann kann es sein, daß das so eine Wild-West-Situation wird, nach dem Motto "viele Söhne sind des Nachbarn Tod" - ...
AC: Ich will nochmal auf die Vergesellschaftung eingehen, auf die traditionelle Figur der Negation der Negation, die in linken Diskussionen immer eine große Rolle spielt. Beispiel: Ich habe neulich Ernest Mandel auf einer Podiumsdiskussion erlebt, und der hat gesagt, was wollt ihr denn eigentlich, die Vergesellschaftung des Produktionsprozesses schreitet doch ständig fort, wir brauchen ja jetzt bloß die herrschaftliche Vergesellschaftung von Produktionsprozessen zu negieren, also die Negation von Menschlichkeit, die darin natürlich auch enthalten ist, zu negieren, dann haben wir ja die vollendete Menschlichkeit. Das ist eben so eine geschichts-philosophische Figur, wo dann irgendeine Art von Vergesellschaftung genommen wird und gesagt wird, das ist doch im Grunde Vergesellschaftung, wir brauchen es doch bloß umzukehren. Die gleiche Gefahr sehe ich manchmal ein bißchen in der Selbsthilfediskussion, daß gesagt wird, da ist doch eine Vergesellschaftung von Sozialisationsprozessen z.B., oder von Anpassungsprozessen. Wir brauchen auch diese Vergesellschaftung die da entsteht nur jetzt wirklich zu vergesellschaften, also nicht nur in ihrer Organisationsform, sondern auch in ihrer Stoßrichtung, nämlich auf das Ganze der Gesellschaft, dann haben wir doch den Sozialismus. Ich würde dagegenhalten, nur als Behauptung um den Gegensatz deutlich zu machen: Bei Selbsthilfegruppen handelt es sich um eine Sozialisierung von Borniertheit, eine Mikrosozialisierung von Partikularinteressen, die aber den notwendig bornierten Standpunkt dieser Partikularinteressen des Leidens an der Krankheit nicht überschreiten; die vielmehr die Zuteilungen, die ja auch eine lange Sozialgeschichte haben, (alle medizinischen Diagnosen haben eine Sozialgeschichte und basieren auf Partikularisierungsprozessen, auch Segmentierungsprozessen, die das Prinzip von Sozialpolitik ausmachen) die diese Segmentierung und Partikularisierung aufrecht erhalten und gewissermaßen jetzt nur gemeinschaftlich vollstrecken.
AT: Also Borniertheit heißt ja vom Wort her, daß das was mit "Grenzen" zu tun hat. Und so war das ja wohl auch gemeint. Jetzt will ich mal sagen, wo ich die Grenzen so sehe. Also ich glaube, ich stimme mit dir überein, es führt überhaupt kein Weg, schon gar nicht ein gerader und zwangsläufiger Weg von der Teilnahme in der Selbsthilfegruppe über irgendwelche politischen Sozialisationsprozesse zu der Beschäftigung mit dem Kapital und dem daraus folgenden Handeln. Also in diesem Sinne, da sind sie wirklich borniert, also an diese Grenze kommen sie, glaube ich, nicht ran. Aber was eben auch in der Öffentlichkeit häufig angenommen wird, diese Gruppen könnten nicht über den Tellerrand dessen gucken, was sie als eigene Probleme mit sich herumtragen, das stimmt insofern nicht, weil fast alle von diesen kleinen Gruppen (die ja nur einen kleinen Ausschnitt aller Betroffenen repräsentieren) die Interessen zumindest aller von dem jeweiligen Problem Betroffenen vertreten wollen. Was wir selbst auch erlebt haben, ist, daß sie bereit sind, noch einen Schritt weiter zu gehen, nochmal eine Grenze zu überwinden und jetzt auf einmal festzustellen (wie es auf dieser Tagung war): ja die Transvestiten, ja das hatte ich mir nie so vorgestellt, das sind ja auch Menschen, die haben ja zum Teil dieselben Probleme wie wir. Die Grenze war da, glaube ich, die Selbsthilfegruppe Pädophilie, aber auch das wurde noch toleriert und ich glaube das ist ein ganz erhebliches Stückchen Grenze überschreiten, was die Leute leisten. Ich glaube da machen wir uns häufig gar keine Vorstellung davon...
AC: ...wie revolutionär das im Einzelnen ist.
AT: Ja, wir haben z.B. gehört, daß für manche Frauen, und ca. 70% der Selbsthilfegruppen-Teilnehmer sind Frauen, daß für Frauen alleine in diese Gruppe zu gehen, ohne den Mann und selbständig, daß das ein emanzipativer Akt gewesen ist, der auch zu Hause auf eine Menge Unwillen stößt, ja sogar auf echten Widerstand. Das ist für uns natürlich nicht nachvollziehbar, was das für so eine Frau bedeutet, aber mit dieser Teilnahme an Selbsthilfegruppen ist immer wieder verbunden, Grenzen zu überschreiten, Bornierung zu überwinden, aber eben wie gesagt, nicht so weit wie du jetzt gedacht hast oder wie du meinst, da würde ich dir beistimmen.
HH: Ich denke das auch, aber da ist noch ein zweiter Aspekt zu ergänzen. Vorhin ist diskutiert worden über Herrschaft in Form von professioneller Expertenherrschaft, aber es gibt ja noch eine andere Form von Herrschaft, die die Gruppen, jedenfalls nach dem was ich mitgekriegt habe, zum Teil sehen, das ist Herrschaft von staatlichen Behörden, Institutionen und so. Auf beiden Ebenen gibt es da Veränderungen, z.B. wo die Mitglieder in den Gruppen auf die Idee kommen, sie könnten mit Behördenvertretern "verhandeln". Beispiel "graue Panther": die sind natürlich in einer besonderen Rolle, ganz klar. Aber in welcher Form die mit Behördenvertretern verhandeln und was bei den Behördenvertretern in diesen Verhandlungen passiert, das sind Bewußtseinssprünge, die nicht allzu häufig passieren. Vorhin war mir das zu statisch gesehen, daß Herrschaft sozusagen quasi naturgegeben Herrschaft bleibt und sich mittels des Mediums Selbsthilfegruppen in die kleinsten sozialen Bereiche und in die Mikrophysik der Individuen hinein verfeinert. Aber in und mit Selbsthilfegruppen passiert da was, es verändert sich sowohl die Form der Herrschaft, die Bereitschaft zum Beherrschtwerden, als auch über was geherrscht wird. Wenn wir das so betrachten würden, daß sich nur die Herrschaft runter verästelt, dann höre ich daraus wieder, wir sind die Opfer, die irgendeinem allgegenwärtigen und allmächtigen System gegenüber stehen ... und das stimmt halt einfach nicht.
Anmerkungen
- "Die Tagung" fand im November 1983 in Hamburg statt. Sie war die Rückkoppelung des Forschungsprojektes "Gesundheitsselbsthilfegruppen" an seinen Forschungsgegenstand, der damit aus dem Objektstatus hinauskam. Der Titel lautete "Gemeinsam sind wir stärker" - "Leben und Lernen in Selbsthilfegruppen". Diskussionsergebnisse dieser Tagung sind veröffentlicht unter dem Titel "Wünsche, Wissen, Widerstand" von M. Dobler, V. Enkerts, C. Kranich, A. Trojan. Das Büchlein (DM 7,-) ist zu bestellen über KISS (Kontakt- und Informationsstelle für Selbsthilfegruppen), Gaußstraße 21, 2000 Hamburg 50
- Die Tabellen stammen aus dem Manuskript des im Frühjahr 1986 erscheinenden Buches "Wissen ist Macht - Eigen-ständig durch Selbsthilfe in Gruppen", herausgegeben von Alf Trojan, fischer alternativ, Frankfurt/Main. Im Gespräch wurden die Ergebnisse referiert, für eine bessere Lesbarkeit schien uns die Tabellenform geeigneter.