Klassengesellschaft reloaded - Zur Politik der neuen Unterschicht

Editorial

Christian Pfeiffer, ehemaliger niedersächsischer Justizminister und Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, plädiert als Folge der französischen Jugendrevolten Anfang November 2005 für verstärkte Integrationsanstrengungen auch in der Bundesrepublik. Zwar bestehe keine direkte Gefahr der Revolte, aber dennoch seien Hinweise, wie die neuerlich schlechten Ergebnisse hinsichtlich der Marginalisierung von MigrantInnen und benachteiligten Deutschen im Bildungssystem in der OECD-Studie Pisa alarmierend. Daher müsse "der Satz 'Jeder ist seines Glückes Schmied' wieder Gültigkeit bekommen." (süddeutsche.de vom 4. November 2005). Ein entscheidender Integrationsanteil sei in den Schulen zu leisten. Hier könnten andere Anreizsysteme bereit gestellt werden als in den Familien. Dort kämen vor allem "Schüler aus sozial benachteiligten Familien nach Hause und durchleben in Computerspielen erstmal stundenlange Gewaltexzesse. Die Nachmittagskultur der Unterschicht ist geprägt von einem vor sich hin gammeln. Dort gibt es kaum noch Eltern, die dafür sorgen, dass ihre Kinder lesen, einen Sport betreiben, ein Instrument erlernen oder Nachhilfe bekommen. Diese Nachmittagskultur muss durchbrochen werden."

Welche Deutung auch aus den Jugendrevolten in Frankreich gezogen werden, über eines scheinen sich die KommentatorInnen einig: Was hier sichtbar wird, ist die Gewalt von exkludierten Bevölkerungsgruppen, es handelt sich um einen "Aufstand der Armen" (Bild vom 7. November 2005). In Frankreich revoltiert demnach die "neue Unterschicht".

Diese Einschätzung ist bemerkenswert. Denn in den 1980er und 90er Jahren intonierten ModernisierungstheoretikerInnen unter anderem im deutschsprachigen Raum unter dem Dirigat von Ulrich Beck das Lied moderner Gesellschaften als Gesellschaften jenseits von Stand und Klasse. Klassengesellschaftsanalysen wurden daher mit Verweis auf den Grad funktionaler Differenzierung heutiger Gesellschaften als anachronistisch verworfen. Was nun ein bis zwei Jahrzehnte später überrascht, ist nicht nur ein erneuter Fokus auf jene 'unten' und 'draußen', im ökonomischen, sozialen und moralischen 'Abseits', sondern die Semantik in der dies geschieht: Begriffe von 'Schicht' und 'Klasse' erfahren eine neue, ungeahnte Konjunktur - und dies nicht nur im kleinen Kreis übrig gebliebener marxistischer und weberianischer SozialstrukturanalytikerInnen. Der kleine, aber bedeutsame Unterschied besteht allerdings darin, dass sie mit der Vorsilbe 'Unter-' versehen werden, die augenscheinlich den wichtigeren Bestandteil der Rede von eine "neue Unterschicht" darstellt. Sozial-progressive SozialwissenschafterInnen scheinen sich mit konservativen Intellektuellen darüber einig, dass eine solche 'Unterschicht' existiert und eine wesentliche, nicht angemessen berücksichtige, gesellschaftliche Herausforderung darstellt. Diskutiert wird 'nur' über ihre Form, den Grad ihrer Ausprägung und die notwendigen öffentlichen Reaktionen. So spricht beispielsweise der designierte deutsche Innenminister einer großen Koalition, Wolfgang Schäuble, in der Bild-Zeitung vom 7. November 2005 davon, dass die Verhältnisse in Frankreich zwar anders seien "als bei uns." In der Bundesrepublik gäbe es nicht "diese riesigen Hochhaussiedlungen", wie sie am Rand französischer Großstädte zu finden sind. "Aber auch bei uns entwickeln sich Viertel mit hohem Ausländeranteil, die sich immer mehr von der übrigen Gesellschaft abschotten." Heutige Gesellschaften werden auch von Schäuble in einem Zentrum-Peripherie-Modell gedacht: im Kern steht die 'integrierte' bürgerliche Mehrheitsgesellschaft und am Rand verbergen sich in zunehmend eigenen Welten Bevölkerungsgruppen mit einem extrem hohen Erwerbslosen- und Migrationsanteil.

Wie kommt es zum Comeback der Klassengesellschaftsdiagnose? Und in welcher Weise wird diese vollzogen?

Zu den Beiträgen im Einzelnen:

Diese Fragen haben sich die vier Schwerpunktbeiträge des vorliegenden Heftes gestellt.

Jock Young gibt in seinem Beitrag eine kritische Einführung in die Debatten um 'soziale Exklusion'. Mit Blick auf die Blindstellen und Fallstricke dieser Debatten, plädiert Young für einen auf Fragen der Ressourcenverteilung und 'Citizenship' fokussierten Ausschließungsbegriff. In ihrem ungleichheitstheoretischen Beitrag kritisieren Uwe Bittlingmayer, Ulrich Bauer und Holger Ziegler sowohl die herrschaftsanalytische Abstinenz zeitgenössischer Ungleichheits- und empirischer Bildungsforschung als auch die vorherrschende Dichotomie von linearitäts- und differenzanalytischen Deutungen sozialer Ungleichheit. Im Sinne einer sozialisations- und handlungstheoretischen Fundierung der Klassenmilieutheorie von Michael Vester skizzieren sie Grundlinien einer politischen Soziologie der Ungleichheit und Herrschaft. Mit seiner diskurs-rekonstruktiv orientierten Analyse der öffentlich-medialen Rede von der "neuen Unterschicht" schließt sich der Beitrag von Fabian Kessel solchen klassentheoretischen Einsichten an. Dabei zeigt er die Dominanz einer kulturalistischen Problematisierung von Armut und Marginalität auf, die einen wesentlichen Hintergrund jenes zeitgenössischen 'blaming the victim' darstellt, das Alex Klein, Sandra Landhäußer und Holger Ziegler in ihrem Betrag kritisieren. Dabei werden die Thesen einer 'Kultur der Armut' und Entwicklung einer vom 'Mainstream' der Gesellschaft entkoppelten 'Underclass' einer empirischen und machtanalytischen Prüfung unterzogen.

Die Redaktion