Maieutisch statt klinisch.
Abstract
Wir wissen, dass Katzen zum Gebären ungestört sein müssen, an einem dunklen, einsamen Ort, vielleicht vorbereitet mit einer weich ausgeschlagenen Schachtel. Und alle, die Katzen kennen, wissen auch, dass man eine Katze beim Gebären oder ihr Neugeborenes nie stören darf, sonst hören die Wehen auf oder sie nimmt ihre Jungen nicht an. Und jetzt stellen Sie sich vor, dass vor langer Zeit eine Gruppe von gut meinenden Wissenschaftlern sich vorgenommen hat das Gebärverhalten von Katzen zu untersuchen. Sie haben angefangen, Katzen beim Gebären zu beobachten im hell erleuchteten, lauten, modernen Labor. Sie schlossen sie an viele Monitore und Sonden an, umgaben sie mit fremden Technikern, die ständig raus und rein gingen um alles zu dokumentieren. Die Studien an den gebärenden Katzen in den hell erleuchteten Kabinen gingen über viele Jahre. Es zeigte sich, dass die Geburtsarbeit unkoordiniert wurde, länger dauerte oder mittendrin aufhörte. Die Katzen waren zunehmend gestresst, ihr Stöhnen und ihre Schreie waren schrecklich. Die Jungen hatten Sauerstoffnot, kamen deprimiert zur Welt und brauchten Reanimation. Da kamen die Wissenschaftler zum Schluss: Es scheint, dass Katzen nicht gut gebären können.
Sie erfanden Maschinen um das Gebären zu verbessern und den Sauerstoffgehalt im Blut der Jungen zu überwachen; sie erfanden Schmerzmittel und Tranquilizer, Wehenmittel und Wehenhemmer und entwickelten Notfalloperationen. In wissenschaftlichen Papieren berichteten die Wissenschaftler über die Schwierigkeiten der Katzen beim Gebären und gleichzeitig über ihre eigene hoch entwickelte, effiziente Geburtstechnologie. Die Medien streuten diese Erkenntnisse und bald brachten alle ihre Katzen zum Gebären ins Labor. Das muss für Katzen der sicherste Platz zum Gebären sein.
Jahre gingen ins Land, die Arbeit in den Labors nahm zu, immer neues Personal wurde eingestellt, langsam wurden die ersten alt und gingen in Ruhestand. Leider wusste die zweite Generation nicht mehr, dass das Ganze als Versuch begonnen hatte. Sie hatten noch nie erlebt wie Katzen an einem einsamen Platz in einer weich ausgeschlagenen Schachtel ihre Jungen gebären. Wieso auch - was für eine gefährliche Idee! Sie waren absolut überzeugt, dass Katzen ohne die Hilfe von viel Technologie nicht gebären können. Sie dachten an die vielen wissenschaftlichen Ergebnisse, die sie in den letzten Jahren gesammelt hatten und waren sehr zufrieden mit sich selbst, ihrer klugen und guten Arbeit und den vielen Katzen und Jungen, die sie gerettet hatten." (Weiß 2004)
Wer auf welchem Wege auch immer mit der Geburtshilfe in Berührung kommt, kommt kaum an der Beobachtung vorbei, dass zwischen Hebammenkunst (Maieutik) und medizinischer Geburtshilfe eine unübersehbare Rivalität besteht, die so alt ist wie die medizinische Geburtshilfe selbst. Die oben aufgeführte Parabel aus einem Vortrag auf einem Hebammenkongress zeigt den Hintergrund dieses Streites auf anschauliche Weise auf. Auf Hebammenseite gründet die Kritik an der Medizin auf einem spezifischen medizinischen Selbstverständnis und der daraus sich ergebenden Haltung im konkreten Handeln.
Dieses klinisch-medizinische Selbstverständnis ist natürlich bewusst einseitig und überzogen dargestellt, verdeutlicht aber gerade aufgrund dieser Einseitigkeit bestimmte Aspekte des medizinischen Modells, die sich vom maieutischen Selbstverständnis abheben. Dieser klinisch-medizinische Typus gründet auf einem spezifischen Könnensbewusstsein, einem Bewusstsein, Gegenstände des eigenen Handelns unter Ausschluss störender Faktoren analysieren und damit diagnostizieren zu können und gleichzeitig unter Zuhilfenahme und Entwicklung technischer Instrumente methodisch behandeln zu können. Das eigene Könnensbewusstsein gepaart mit einem spezifischen Forscherdrang stiftet ein eigentümliches professionelles Selbstbewusstsein. Die mit diesem Professionalitätsbewusstsein in Berührung gekommenen Akteure richten sich eine eigene Umwelt zu: das klinische Labor, das streng von der Umwelt des Nichtklinischen getrennt und ganz auf das spezifisch technisierte Handeln zugeschnitten ist, um damit eine größtmögliche Kontrolle der Professionellen über das Geschehen zu erreichen (Foucault [1994]: 173ff.; 1976). Die Professionellen werden zu souveränen Meistern der zu untersuchenden und methodisch-technisch handhabbaren Situation. Es entsteht konsequenterweise ein Gefälle zwischen dem professionellen Experten und den sich an diese und ihr Wissen und ihre Kompetenz anlehnenden Klienten. Damit verbunden ist ein Ausfall von Selbstreflexivität zugunsten einer funktionalistischen Denkweise (Dörner 2003: 218). Schwierigkeiten, die im Laufe der professionalisierten Intervention auftreten, können nicht auf das eigene - als wissensbasiert und methodisch korrekt definierte - Handeln zurückgeführt werden, sondern müssen den Adressaten des eigenen Handelns zugeschrieben werden. Die Gebärschwierigkeiten müssen gemäß der Parabel der Katze zugeschrieben werden, dem als hilfreich konzipierten Labor kann gemäß dieses Rationalitätstypus' keine Verantwortung für die Verursachung zugeschrieben werden.
Doch damit nicht genug. Die Bedeutung der eigenen Interventionsfähigkeit steigert sich mit der Größe des dem Experten begegnenden Problems, das es zu lösen gilt. Je problematischer, defizitärer und pathologischer die Adressaten gesehen werden, desto stärker tritt das Können des Professionellen in den Vordergrund. Der Experte braucht die pathologische Zuschreibung des Patienten, um an ihm seine spezifische Kompetenz beweisen zu können. Gerade weil sich die Katze im Labor mit dem Gebären schwer tut, kann der hilfreiche Experte all sein bewundernswertes Können entfalten, um diese Defizite zu überwinden. Die klinisch-medizinische Professionalität dieses Typs steigert ihr Selbstbewusstsein nicht nur durch die Lösung selbstgeschaffener Probleme, sondern auch durch die Dramatisierung dieser Probleme, die nur mit hochprofessionalisierter Hilfe und technischem Höchstaufwand überhaupt lösbar werden. Es entsteht eine radikalisierte Zuschreibungstrennung: hier die hilflosen, destruktiven, leidenden Patienten, dort die fast omnipotenten, wissenden und allseits hilfreichen professionellen Retter.
Gleichzeitig verlieren die Klienten in diesem Schauspiel ihren Subjektstatus, insofern sich Subjektivität per definitionem der Kontrollierbarkeit entzieht. Die Person wird reduziert auf einen pathologischen Befund, und dieser Befund bestimmt die darauf folgende klinische Intervention. Dort, wo die Mitarbeit des Klienten erforderlich bleibt, steht die Professionalität vor dem Problem, dass sich ihre Klienten an die klinische Umwelt anpassen müssen, gleichzeitig aber handlungsfähig bleiben müssen. Wo sie sich dieser Verwandlung verweigern, wird ihnen bald mangelnde Kooperationsbereitschaft - non-compliance - unterstellt. Eigentlich müssten schließlich auch die Wissenschaftler der Parabel zum Schluss den schwer gebärenden Katzen eine solche mangelnde Compliance unterstellen, weil sie auf das klinische Setting mit einem Aufhören der Wehen oder gar einer Verweigerung der Sorge für die eigenen - mühsam geretteten - Jungen reagieren. Aus klinischer Sicht ein Skandal!
Die Parabel zeigt in ihrer Verkürzung auf bestimmte Aspekte einer spezifischen klinisch-medizinischen Rationalität eine bestimmte - in der Regel nicht-intendierte - professionelle Falle auf. Dass diese Falle keineswegs als realitätsfremd anzusehen ist, zeigt ein Blick in die dreihundertjährige Geschichte der Geburtsmedizin. Hier begegnet historisch gesichert dieser Professionalitätstypus und die damit verbundene Abwertung sowohl der gebärenden Frauen als auch der - nicht-klinischen - Arbeit von Hebammen. Vor allem wirkt ein Blick auf die Entwicklung klassischer Instrumente der Geburtsmedizin wie ein Blick in ein Gruselkabinett. Es ist heute allgemein vergessen, dass an der nichtindizierten, sondern am Forscherinteresse orientierten Anwendung der Geburtszange in den Anfängen der Geburtsmedizin jedes vierte Kind und jede sechzehnte Mutter starb (Schmidt/Vackinger 1999: 52f.; Gengnagel/Hasse 1999: 35). Beim ebenfalls immer wieder - auch rein zu Forschungszwecken angewandten - Kaiserschnitt überlebte nur in den seltensten Fällen überhaupt eine/r von beiden (Metz-Becker 1999: 38f.; Schmidt/Vackinger 1999: 54ff.). Gebärende waren gut beraten, sich in den von Ärzten aufgebauten Kliniken - den sogenannten Accouchiranstalten - vor deren entwürdigenden Interventionen zu retten und die einsetzenden Wehen zu verbergen, um auf diese Weise ihre Würde sowie das eigene Überleben und das ihres Kindes zu sichern (Metz-Becker 1999: 39f.).
Doch es wäre die falsche Reaktion, angesichts dieser Tatbestände die damaligen - durchweg männlichen - Mediziner als Sadisten und skrupellose Mörder zu verurteilen. Zu schnell könnten wir uns mit unserer heutigen humanen Medizin besser fühlen und unter einem tiefen Seufzer uns glücklich schätzen, dass diese alten Zeiten vorbei sind. Die Mortalitätsrate von Frauen und Kindern unter der Geburt zu Beginn der medizinischen Geburtshilfe hat nichts mit Sadismus zu tun, auch wenn dies unter medizingeschichtlicher Perspektive manchmal den Anschein haben mag; sie steht vielmehr im Kontext eines spezifischen wissenschaftlich fundierten Professionalisierungsbewusstseins und dessen Folgen für das zwischenmenschliche Handeln. Erst wenn wir die Problematik dieses spezifischen medizinischen Professionalitätsverständnisses mit seinen nicht-intendierten Folgen erkennen, stoßen wir auf das Kernphänomen und damit auf den Grund, warum heutige Hebammen eine solche medizinkritische Parabel auf einem Kongress zum Besten geben. Der Konflikt zwischen Maieutik und Medizin besteht letztlich in einem Konflikt um das Verständnis der je eigenen Professionalität und der damit verbundenen Haltung im konkreten Handeln.
Klinisch-medizinische Professionalitätsmodelle in der Sozialarbeitsdebatte
Damit können wir den medizinischen Kontext verlassen und uns der Sozialen Arbeit zuwenden, in der seit Jahren ein immer neu variierender Streit um deren Professionalisierung entbrennt, der auch in der Diskussion um die klinische Sozialarbeit seinen Niederschlag findet in deutlicher Orientierung an Momenten des medizinischen Handlungsmodells (Mühlum 2002; Pauls 2004: 16). Dieses medizinische Modell ist seit den Anfängen der sozialarbeiterischen Theoriebildung in den Arbeiten von Alice Salomon (1923) und Mary Richmond (1917) präsent und durchzieht im Besonderen die soziale Einzelfallhilfe. Sie ist bereits in den 70er Jahren ausgiebig kritisiert worden (zusammenfassend Kunstreich 1998: I 164f.; II 101), um in den letzten Jahren unter dem Namen "Klinische Sozialarbeit" ihr Comeback zu feiern, lediglich mehr oder weniger stark fokussiert auf Praxisfelder der Sozialen Arbeit in der Gesundheitshilfe (Feinbier 1997: 19ff.; Mühlum 2002: 21.35f.; Pauls 2004: 14ff.).
Insgesamt zeigen sich in der Debatte Momente eines Professionalitätsverständnisses, die denen des beschriebenen problematischen klinisch-medizinischen Selbstverständnisses nicht unähnlich sind. Auch hier geht es zunächst um eine Statusverbesserung der sozialpädagogischen Professionellen. Gleichzeitig wird ein eindeutiges Aufgabengebiet - "soziale Probleme" (Engelke 310ff.; Puhl/Burmeister/Löcherbach 1996: 167ff.) bzw. "abweichendes Verhalten" (Feinbier 1997) - definiert gepaart zwar nicht mit einer technologischen, wohl aber mit einer spezifischen methodischen Rationalität, die in ihrer unübersehbaren Betonung objektiver diagnostischer Kompetenzen Anleihen beim medizinischen Handlungsmodell nimmt (Pauls 2004: 206f.). Zwar wird gleichzeitig ein nicht-entmündigender moralischer Anspruch vertreten (Pauls 2004: 13), der jedoch neben dem medizinischen Selbstverständnis formuliert wird (Pauls 2004: 12f.; 197ff.), ohne sich kritisch mit diesem auseinanderzusetzen. Auffällig ist dabei auch die oberflächliche Unterscheidung zwischen kontrollierender und therapierender Orientierung in der Sozialen Arbeit (Pauls 2004: 18). Dass gerade über therapeutische Interventionen kontrollierend regulativ mit Adressaten umgegangen werden kann (Sturzenhecker 1998; Arnstein 1969), ist dabei gar nicht im Blick. Man kann in diesem Zusammenhang von einer Tendenz zur Neodiagnostik in der Sozialen Arbeit sprechen (Kunstreich 2004) als Kennzeichen dafür, dass lange überholte Phänomene der Diskussion um die Soziale Arbeit wieder zu neuem Leben erwachen.
Es fragt sich also, inwiefern die klinische Sozialarbeit den Gefahren entgeht, die im Zusammenhang mit dem klinisch-medizinischen Modell beschrieben werden. Dazu werden im Kontext der klinischen Sozialarbeit verschiedene Begriffe eingeführt. Die Diskussion um die klinische Sozialarbeit reproduziert nicht einfach die Einzelfallhilfe der Anfangszeit der Sozialarbeit, sondern es ist ihr ein besonderes Anliegen, die Schwierigkeiten des medizinischen Modells auf eigentümliche Weise zu entschärfen. Dazu zählt insbesondere das Paradigma der Ganzheitlichkeit statt der Reduktion von Adressaten auf einmal diagnostizierte objektive Merkmale (Mühlum 2002: 25). Ganzheitlichkeit meint eine möglichst umfassende professionelle Einbeziehung der Personalität des Gegenübers in den Interventionsprozess. Allerdings erhöht das Paradigma der Ganzheitlichkeit nur die Gefahren, die der klinisch-medizinischen, professionalisierten Intervention innewohnen. Diese spezifische Professionalität hängt eng mit größtmöglicher - eben klinischer - Kontrolle über den Interventionsprozess zusammen. Gerade die umfassende Kontrolle über eventuelle Störfaktoren kennzeichnet das beschriebene klinisch-medizinische Setting. Unter diesem Blickwinkel radikalisiert der ganzheitliche Blick sogar noch dieses medizinische Interventionsmodell. Während der Mediziner sich damit begnügt, ein bestimmtes Organ bzw. ein Körperteil am Menschen zu behandeln, maßt sich der ganzheitlich arbeitende klinische Sozialarbeiter an, den ganzen Menschen seiner kontrollierenden Interventionstätigkeit zu unterwerfen. Ganzheitlichkeit lässt sich dann gleichsetzen mit totalitär (Dörner 2003: 231). Nichts bleibt dem analytisch-diagnostischen Blick des klinischen Sozialarbeiters verborgen. Der Adressat gerät in die Gefahr, auf totale Weise gläsern zu werden. Die vielschichtigen Ebenen der Diagnostik im Kontext der klinischen Sozialarbeit mit physischer, psychischer und sozialer (oft zusammengefasst zu biopsychosozial, Pauls 2004: 35ff.) Ebene zeigen sehr deutlich diese Gefahr auf.
Eng mit der Ganzheitlichkeit verbunden ist der Begriff der Ressourcen (Pauls 2004: 19; Mühlum 2002: 24). Statt Klienten auf ihre Defizite zu reduzieren, um diese dann professionell gesteuert zu behandeln, rekurriert klinische Sozialarbeit auf positive Ressourcen, über die jeder Mensch im Umgang mit seiner jeweiligen Situation verfügt. Allerdings bleiben diese positiven Handlungsmöglichkeiten einem Objektstatus verhaftet. Der Begriff der Ressource entstammt dem ökonomischen Bereich. Mit ihm wird dasjenige bereitliegende Material benannt, das dem Produktionsprozess unter dem Primat der Nutzenmaximierung zugeführt werden kann. Er wird in diesem Sinne auch auf den immateriellen Verfügungsbereich erweitert, wobei das objektivierende Verfügbarmachen bisher unverfügbarer Güter und die dadurch erreichte Erhöhung der Kontrolle über die Natur in und um den Menschen die handlungsleitende Perspektive auch auf die immaterielle Form von humanen Ressourcen bleibt. Das bisher Unverfügbare soll der professionellen Verfügung zugeführt werden, um für die professionellen Ziele genutzt, wenn nicht gar verbraucht zu werden. Dass diese Unverfügbarkeit vielleicht einen Wert in sich trägt und an der Verfügbarmachung Schaden nehmen könnte, bleibt dabei kaum im Blick. Stattdessen wird Beteiligung und Ressourcenorientierung fast gleichgesetzt. Wer die ureigensten Fähigkeiten von Menschen nutzbar macht, beteiligt sie fast automatisch am Geschehen, auch wenn diese Beteiligung wenig zu tun hat mit der Selbstbestimmung, die das Ziel echter Partizipation darstellt. Es ist der problematische Kontext der beschriebenen Form medizinischen Professionalität, der die Begriffe in problematische Konzepte verwandelt, so dass durch diese wohlmeinenden Begriffe nicht nur die Problematik dieses Modells als Modell für Soziale Arbeit verschleiert wird, sondern die Problematik des medizinischen Modells teilweise sogar noch verschärft wird.
Schließlich soll die dem klinischen Modell inhärente Fremdbestimmung von Adressaten durch eine explizite Kundenorientierung relativiert werden. Das Kundenmodell versucht das Verhältnis von professionalisiertem Experten gegenüber dem abhängigen, objektivierten Klienten umzukehren. Der leidende Patient wird zum kompetenten Kunden umdefiniert, der spezifische Hilfedienstleitungen autonom einkauft. Ob damit der klinischen Wissensherrschaft des auf Aufträge angewiesenen Dienstleisters tatsächlich ein wirksames Kontrollinstrument entgegengesetzt werden kann, darf bezweifelt werden (Weber 2002/2003: 76f.). Vor allem jedoch beschränkt sich die Selbsttätigkeit des Kunden allein auf das Auswählen sowie auf die Einforderung von Leistungen bzw. die Beschwerde. Er wird mitnichten zu einem autonom handelnden Subjekt erklärt, sondern allenfalls zu einem Konsumenten mit einer spezifischen Kundenerwartungshaltung (anders Dewe/Otto 2002).
Die fremdbestimmte Selbstbestimmung in der sokratischen Maieutik
Die medizinische Geburtshilfe hat vor dreihundert Jahren das Aufgabengebiet der Hebammen an sich gerissen, die Geburt in die Klinik verlagert und den Geburtsverlauf medizinisch zugerichtet. Seit Neuestem ist eine Kehrtwende in der Geburtshilfe erkennbar, die Hebammen wieder verstärkt Verantwortung für den Geburtsvorgang überträgt, was nicht nur an der vermehrten Einrichtung von Geburtshäusern und der Zunahme von Hausgeburten, sondern auch an den neuerdings immer häufiger eingerichteten Hebammenkreißsälen in den Kliniken sichtbar wird. Das Tun von Hebammen scheint unter einem anderen, alternativen Selbstverständnis zu erfolgen, das unter den werdenden Eltern verstärkt Anklang findet. Dieses Selbstverständnis wurde schon sehr früh auch für pädagogische Kontexte nutzbar gemacht. Das philosophische Denken von Sokrates rekurrierte als erstes auf ein solches maieutisches Selbstverständnis, das - wie noch zu zeigen sein wird - in hohem Maße für das Selbstverständnis Sozialer Arbeit relevant ist.
Der Unterschied dieser maieutischen Kunst im Gegensatz zum medizinisch-klinischen Modell liegt auf der Hand. Während die klinische Medizin eine als gefahrvoll interpretierte Situation versucht, unter bestmögliche ärztliche Kontrolle zu bringen, um in dieser klinisch-kontrollierten Situation bestenfalls die Mitarbeit des Patienten zu gewinnen, geht die Maieutik von der Initiative der Betroffenen aus, um dieser Initiativität helfend beizustehen. Die jeweilige Frau gebiert das Kind und entfaltet in dieser absoluten Ausnahmesituation eine ungeheure Kompetenz, die Hebamme steht diesem Tun der Frau unter der Geburt mit ihrer umfangreichen Erfahrung und Kompetenz lediglich hilfreich bei.
(1) Sokrates geht es in seiner Maieutik um die Auffindung von Wahrheit. Doch diese Wahrheit - so Sokrates - kann eben nicht - wie landläufiger Meinung gemäß - gelernt werden, indem das Wahrheitswissen gehört und dann als Wissen abgespeichert wird, sondern nur indem die Wahrheit, die bereits in jeder Seele als Potential verborgen auffindbar ist, durch Hebammenkunst als a-letheia, als Unverborgenheit (Heidegger [1986]: 219), ans Licht gehoben wird. Der platonische Sokrates entwickelt diese Kunst als eine Kunst des Fragens in der Auseinandersetzung mit Menon, der die Gesprächsführung von Sokrates als die lähmende Wirkung eines Zitterrochens (Platon: Menon: 80a) darstellt, insofern jeder in dem, was er meint zu wissen, durch die sokratische Fragekunst in diesem Scheinwissen derart erschüttert wird, dass schließlich eine innere Lähmung auftritt. Sokrates belässt Menon nicht in diesem Eindruck, sondern führt praktisch anhand einer mathematischen Fragestellung im Austausch mit einem Sklaven (Platon: Menon 82b) vor, dass jeder Mensch in sich die Fülle der Wahrheit verbirgt, die durch eine entsprechende Kunst zu fragen aus ihm herausgehoben werden kann. Fast zwangsläufig bedeutet dies, dass das Zentrum der Hebammenkunst in einer ermutigenden Unterstützung der Selbsttätigkeit der Betroffenen besteht, die die eigentlichen Akteure des gesamten Prozesses darstellen.
(2) Damit gerät die begleitende Person auf den zweiten Platz. Sie ist nicht erster Akteur, sondern der Betroffene selbst nimmt vielmehr diese Position ein. Allerdings bedeutet diese Umkehrung nicht eine Verklärung der Situation, die diesen Beistand in gutem Zureden aufgehen lässt. Die Situation der Geburt ist dafür viel zu dramatisch. Auch in der sokratischen Hebammenkunst geht es um den Umgang mit zum Geburtsprozess gehörenden, äußerst schmerzhaften Wehen. Eine Geburt ohne Wehen ist eine unrealistische Fiktion. Eine der Hauptaufgaben der beistehenden Hebamme besteht in dem Umgang mit diesen Schmerzen und diese durch entsprechende Hilfsmittel und Methoden entweder zu verstärken oder aber zu mildern, um damit den Geburtsvorgang zu befördern (Platon: Theaitetos 149c). Damit geschieht eine deutende Verwandlung der Schmerzen. Auch Theaitetos gegenüber, der an einer ihn quälenden Unklarheit leidet, signalisiert Sokrates, dass diese Qual eine Form von Schmerz - nämlich Wehen - bedeutet, der ihn zur Geburt von neuem Wissen führen kann (ebd. 148d). Es geht also gerade nicht darum, die Schmerzen loszuwerden, sondern sie produktiv zu nutzen und zu lenken, bis aus ihnen Wissen entsteht.
(3) Hinzu kommt eine dritte Aufgabe der sokratischen Hebamme: die Ehestiftung (Platon Theaitetos 149d f.). Sie gerät in gefährliche Nähe zur Eugenik, insofern sie entscheidet, aus welcher Verbindung die besten Kinder gezeugt werden können. Was Sokrates mit dieser Ehestiftungskunst meint, ist jedoch etwas anderes: Es geht darum, "diejenigen herauszufinden, deren Umgang für [die Betroffenen] förderlich sein dürfte", damit sie die entsprechende, zu gebärende Wahrheit in sich wachsen lassen können. Es ist genau besehen eine weitere Tätigkeit, die die Position der Hebamme relativiert. Nicht der Profi erzeugt zusammen mit der Betroffenen das Wissen. Nicht die helfende Beziehung zur Hebamme spielt die zentrale Rolle für die Geburt, sondern die durch ihre Mithilfe gestifteten Beziehungen. In der Sozialen Arbeit wurde lange Zeit die Bedeutung der helfenden Beziehung vor allem in der Einzelfallhilfe überschätzt. Die sokratische Maieutik macht deutlich, dass die professionelle helfende Beziehung lediglich eine vermittelnde Funktion hat in einem Netz von Bezügen, das in den Betroffenen Neues entstehen lässt.
(4) Schließlich betont Sokrates die Bedeutung einer spezifischen Unterscheidungskunst (Platon Theaitetos 150 a ff.), die Fehl- und Missgeburten - die von ihm so genannten "Mondkälber" - einleitet und damit die Schwangere von den damit verbundenen Beschwerden entbindet. Die Unterscheidung von Schein und Wahrheit bei der Hebung des im Betroffenen wachsenden Wissens spielt für das Tun von Sokrates eine besondere Rolle. Hier entsteht leicht der Eindruck, dass die Geburtshilfe doch wieder einen expertokratischen Zug erhält, zumal wenn wir bedenken, welche ethischen Fragestellungen auf der Bildseite von Sokrates hier angesprochen werden. Die professionelle Anmaßung, zu entscheiden, welche Schwangerschaften wegen des Lebensunwertes des in ihnen wachsenden Lebens abgebrochen werden können, bei Sokrates sogar sollen, zerstört leicht den Grundgedanken des selbstbestimmten Entwickelns von Wahrheit wieder, den Sokrates für sich in Anspruch genommen hatte. Zur Ehrenrettung von Sokrates lässt sich in diesem Zusammenhang lediglich sagen, dass er diese Zuschreibung von Wahrheit und Falschheit nicht von außen an den Betroffenen vollzog, sondern diese sich vielmehr in der Arbeit an den inneren Widersprüchen in dem vermeintlich Gewussten durch die sokratische Fragetechnik von selbst zeigte, bis die Betroffenen solche Fehlgeburten des Wissens von selbst einsahen.
Potentialvermutung, Umdeutung und Verwandlung von Defiziten in Chancen für Neues sowie Vernetzung und die Arbeit an fehlleitenden Widersprüchen bilden die Kernkompetenzen in der sokratischen Maieutik, die insofern leicht auf Soziale Arbeit übertragbar sind. Allerdings wird gleichzeitig auch die Grenze des sokratischen Modells von Beistandschaft deutlich. Sokrates ist in seiner Maieutik nur an der jeweiligen Selbstentwicklung von Wahrheit im Menschen interessiert. Dass noch ganz anderes einzigartiges Neues aus einem Menschen heraus wachsen und ans Licht der Welt kommen könnte, ist für ihn belanglos. Wahrheit ist gerade nicht individuell, sondern universell bestimmt, und so muten die Vorführungen des platonischen Sokrates in den überlieferten Dialogen wie eine suggestive Befragungstechnik an, die Betroffene dazu bringt, das einzusehen, was Platon sie gemäß seiner Philosophie einsehen lassen will. Vor diesem Hintergrund wird es verständlich, dass die sokratisch-platonische Maieutik vor allem Einzug in die theologische Katechetik (Gräffe [1798]; Dinter [1839]; Dolz 1789; Vierthaler [1798]) erhielt, insofern der katechetische Unterricht anders als die Predigt die offenbarten Wahrheiten nicht durch Hören aufnehmen lässt, sondern durch eine maieutische Fragetechnik selbst entwickeln lassen will. Damit ist die Grenze zur Manipulation berührt, die fremdbestimmt eine objektiv bestimmte Selbstbestimmung in Subjekten hervorzurufen sucht, ohne dass diese eine solche Fremdbestimmung wahrnehmen. Gerade in Bezug auf den Sklaven des Menon fällt auf, dass dieser die ihm gestellte mathematische Frage gar nicht selbst entwickelt hat, sondern von Sokrates gestellt bekommt, um unter stark lenkender Frageanleitung von Sokrates diese Frage schließlich zu lösen. Damit wird der Sinn des maieutischen Handelns wieder konterkariert. Es geht nicht wirklich um die Beistandschaft hin zu einer originären Selbstbestimmung von etwas Einzigartigem, das jede Personalität impliziert, sondern lediglich um den einsichtigen Nachvollzug einer allgemeinen Wahrheit, an der der Betroffene im Fall des Menon gar kein Interesse hat und an der die professionelle Fragetechnik höheren Anteil hat als die Selbstbestimmung der Betroffenen.
Die radikale Authentizität der kindlichen Kreativität nach Nietzsche
Eine Maieutik selbstbestimmten Handelns steht damit vor der Aufgabe, die Subsumtion der Selbstbestimmung unter die Wahrheitsfrage aufzulösen, um auf diese Weise zu einer nicht vorgängig bestimmten Selbstbestimmung vorzudringen. Genau das ist das Anliegen der Philosophie von Friedrich Nietzsche, dessen Denken insofern eine besondere Rolle in diesem Kontext spielt, als es ihm um die Entwicklung einer radikal authentischen Selbstbestimmung bei gleichzeitiger Auflösung der philosophischen Wahrheitsfrage geht. Da Sprache immer mit Allgemeinbegriffen umgeht, um ein Einzelnes durch Zuschreibung von Allgemeinheiten zu erfassen, gerät Nietzsche vor das Problem, dass ein solch radikales einzigartiges authentisches Menschsein, das über das bestehende Menschsein hinausgeht, sich mit Allgemeinbegriffen nicht fassen lässt. Es gelingt ihm nur mit metaphorischen Umschreibungen anzudeuten, was diesen neuen Menschen, den "Übermenschen", überhaupt auszeichnen könnte, die äußerst vage bleiben müssen, weil wir nicht wissen können, was dieses Neue ist, das aus dem Jetzigen hervorgehen kann und das dieses schließlich überwindet. In diesem Zusammenhang wird für Nietzsche das Bild der Schwangerschaft wichtig: "Dass der Schaffende selber das Kind sei, das neu geboren werde, dazu muss er auch die Gebärerin sein wollen und der Schmerz der Gebärerin." (Nietzsche: KSA 4: 111) Und im Zusammenhang einer deutlichen Kritik der helfenden Haltung: "Ihr Schaffenden, ihr höheren Menschen! Man ist nur für das eigne Kind schwanger. Lasst euch nichts vorreden, einreden! Wer ist denn euer Nächster? Und handelt ihr auch für den Nächsten', - ihr schafft doch nicht für ihn!" (Nietzsche KSA 4: 362) Die Neuartigkeit des Neuen, das als Einzigartiges geboren wird, entspringt bei Nietzsche nicht einem aufklärerischen Erkenntnisprozess wie bei Platon und Sokrates, sondern einem schöpferischen Geschehen des Menschen in seinem Bezug auf sich selbst, den niemand um ihn herum ihm abnehmen kann. Der schöpferische Übermensch ist alles drei in einem: die Gebärerin, die aus der menschlichen Welt kommt und in der Welt schwanger wird, der Schmerz, der mit diesem schöpferischen Prozess verbunden ist und schließlich das Neue selbst, in das er verwandelt wird. Dieses schöpferische Neue, das mit der Metapher der Geburt angezeigt wird, nimmt so viel Raum ein, dass daneben für eine beistehende, begleitende Hebamme gar kein Platz bleibt. Folglich spricht Nietzsche auch nicht von einem Geburtsverlauf, sondern von einer dreistufigen "Verwandlung des Geistes" (Nietzsche KSA 4: 29ff.), an deren Ende das Neue des Kindes steht.
(1) Zunächst wird der Geist im Gang dieser Geburtsverwandlung zu einem Kamel, das sich durch seine besondere "Tragsamkeit" auszeichnet. In genialer Weise zählt Nietzsche in diesem Zusammenhang ganz unterschiedliche Lasten auf, die der Geist auf der Stufe des Kamels zu tragen aufgeladen erhält. Das Kamel ist ausschließlich fremdbestimmt, und doch sind die Lasten, die Nietzsche erwähnt, in Frageform aufgezählt. Das Kamel steht vor der Frage, welche Lasten es auf sich nimmt, wobei solche Lasten, die den Lastenträger niederdrücken (christliche Feindesliebe und Selbstverleugnung, wissenschaftliche Wahrheitssuche etc. Nietzsche KSA 4: 29), unterschiedslos neben solchen Lasten stehen, die den Träger dieser Lasten stärken, nämlich sich den gestellten Aufgaben und Situationen (dem "Versucher" ebd.) zu stellen, die Endlichkeit zu bejahen ("von unserer Sache scheiden" ebd.) oder eben auch angebotene Hilfe zu verweigern, um ganz auf eigenen Beinen zu stehen (die "Tröster heimschicken" ebd.). Es sind eindeutig die letzteren Lasten, die den Verwandlungsweg markieren, und der beladene Geist steht zentral vor der Frage, für welche Lasten er zur Verfügung stehen will. Nicht die Minimierung von Lasten kann die Aufgabe des Menschen in der Verwandlung sein, das kann ihm nur seine spezifische Stärke rauben; nicht größtmögliche Unterstützung ist vonnöten, sondern ein Ja zu denjenigen Lasten, die den Lastenträger stärken auf seinem Weg, und ein Abladen sinnloser Lasten, aus denen keine Stärke gewonnen werden kann.
(2) Der Weg des Kamels führt durch die Wüste, und so wird für Nietzsche die Wüste zum Ort der zweiten Verwandlung: zum Löwen. In der Einsamkeit der Wüste geht es um einen Kampf mit eben diesen Lasten, die das Kamel eben noch willig getragen hat. Es geht um den Kampf für die Freiheit, eine Freiheit von den fremdbestimmten Werten, indem der Geist seinen eigenen Willen entdeckt. Der Weg von der Fremdbestimmung zur Selbstbestimmung führt über den Widerstand. Wer die Selbstbestimmung von Belasteten will, muss deren Widerständigkeit, ihre non-compliance, wollen, er muss es ertragen können, dass sie zu dem, was ihnen zugemutet wird, in höchst authentischer Weise Nein sagen. Denn Selbstwerdung heißt Bewusstwerdung alternativer Weltverhältnisse. Das bisher als notwendig und natürlich Erscheinende zeigt sich als Beschränktes bzw. Teil eines Entfremdungsprozesses, der Selbstbestimmung verhindert. Nur über den Weg der Kritik des Bestehenden - vom alltäglichen Selbstverständlichen über politische und gesellschaftliche Kulturen bis hin zu Vorgaben professioneller Interventionen bleibt prinzipiell nichts dem kritischen Freiheitskampf entzogen (Sünker 1989: 133ff.).
(3) Doch Nietzsche belässt es nicht bei dieser zweiten Verwandlung, sondern fügt noch eine dritte hinzu. Denn das Nein kennt noch keine Kreativität. Es arbeitet sich lediglich verneinend an den Zumutungen ab, die ihm auferlegt werden. Die dritte Verwandlung ist die des Geistes zum Kinde: "Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginnen, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-sagen." (Nietzsche KSA 4: 31) Auf der letzen Stufe verwandelt sich das Nein in ein Ja und die Kampfbereitschaft in ein schöpferisches Spiel, wobei die Kräfte zu diesem Spiel einzig aus dem Betroffenen selbst kommen. Die ehemaligen Lasten sind vergessen, es geht nur noch um den spielerischen Prozess des ständigen schöpferischen Neubeginnens.
Auch wenn Nietzsche eine Hebammentätigkeit in diesem Prozess nicht kennt, können aus seinem Konzept einige entscheidende Momente für eine förderliche Begleitung von kreativer Selbstbestimmung gewonnen werden. Zunächst ist dabei eine radikale Zurückhaltung gegenüber dem Betroffenen zu nennen, da jede Form der Beistandschaft den Selbstfindungsprozess, den er in der Verwandlung beschreibt, zerstören kann, indem sie versucht Lasten abzunehmen, statt den Lastenträger zu stärken. Das Beistehen besteht (1.) im Verwandeln der Lasten in Herausforderungen der je eigenen Stärke, (2.) in einem Zulassen von Widerständigkeit und deren Umdeutung in einen Befreiungsprozess und schließlich (3.) in einem Zulassen von Spielräumen, in denen sich die je eigene Kreativität wieder entfalten kann.
Nietzsche geht somit einen entscheidenden Schritt weiter als Sokrates. Der Verwandlungsprozess endet nicht mehr im Bewusstwerden der absoluten Allgemeinheit, der Wahrheit, sondern in einer radikalen Authentizität, von der niemand sagen kann, wohin diese Authentizität führt. Das Neue ist das Unabsehbare und begrifflich nicht Fassbare, das den (Durchschnitts-)Menschen Übersteigende, der Übermensch. Somit traut Nietzsche dem Einzelnen auch unendlich mehr zu als Sokrates. Je weniger Beistandschaft, desto eher gelingt die Verwandlung. Allerdings bleiben Betroffene in dieser Einzelheit auch gleichzeitig stecken. Für Nietzsche gibt es nur den Übermenschen in der Einzahl. Wie sich mehrere Übermenschen begegnen können, was passiert, wenn das einzigartige Kind auf andere Neuanfänger trifft, liegt jenseits seines Denkkonzeptes.
Anknüpfende Beistandschaft nach Hannah Arendt
Um einzigartig zu sein unter Unseresgleichen brauchen wir eine Vermittlung des je Neuen, das wir sind bzw. werden können, mit der Welt um uns herum. Damit wird das maieutische Anliegen unversehens politisch. Es ist v.a. das Denken von Hannah Arendt, das sich wie kein zweites um diese Verknüpfung von einzigartigen Subjekten zum gemeinsamen Handeln zum Thema macht und auf diese Weise eine Lösung anbietet für Nietzsches radikale einsame Authentizität. Hannah Arendt unterscheidet dabei zwischen verschiedenen Tätigkeitsformen, wobei zunächst diejenigen Tätigkeiten, die der Natur geschuldet sind, unterschieden werden von denjenigen, die sich der von Menschen geschaffenen Welt verdanken. Die Tätigkeitsform des Arbeitens bestimmt Arendt dabei im Anschluss an Karl Marx als "Stoffwechsel mit der Natur" (Arendt [1999]: 117). Das Arbeiten ist in den Naturprozess im und um den Menschen herum eingebunden und reagiert auf diesen. Die menschliche Bedürftigkeit wird zum Leitmotiv dieses Tätigsein und bestimmt dieses Tun mehr oder weniger zwingend. Dies gilt insbesondere dann, wenn diese Bedürfnisse ungestillt bleiben. Ganz gleich ob es sich um physische Schmerzen, psychische Angst, existentielle Armut oder soziale Diskriminierung handelt, eine Not in einem solchen Bereich der Versorgung menschlicher Naturbedürfnisse macht die Fremdbestimmtheit des natürlichen Menschen offensichtlich und zerstört jeden Sinn für freiheitliche Selbstbestimmung nachhaltig. Damit beschreibt Arendt einen wichtigen Zusammenhang der Sozialen Arbeit. Adressaten Sozialer Arbeit kommen hier nicht als Unwissende in den Blick, die mit Wahrheitswissen schwanger gehen wie bei Sokrates, auch nicht als Problembelastete, deren Lasten sie entweder erdrücken oder aber stärken wie bei Nietzsche, sondern sie stehen in der Gefahr, unter dem Druck ihrer unbefriedigten natürlichen Bedürfnisse ihr Bewusstsein für freiheitliches Handeln zu verlieren (Weber 2003: 154ff. 249ff.).
Von diesem Stoffwechsel mit der Natur und damit auch von jeder reinen Versorgungstätigkeit kategorial unterschieden ist das freiheitliche Handeln, das sich einem reflexiven Bezug zur je eigenen Gebürtlichkeit verdankt. So wie jeder Mensch aufgrund seines Geborenseins einen Neuanfang (lateinisch: initium) in einer bestehenden Welt darstellt, so ist der Mensch, indem er reflektierend dieses Neuanfangen realisiert, dazu fähig, handelnd in der Welt immer wieder neue Initiativen zu entwickeln und damit bestehende Abläufe in unvorhersehbarem Maß zu unterbrechen und ihnen eine neue Richtung zu geben (Arendt [1999]: 215). Die Neuartigkeit ist also ebenso Bestandteil dieses freiheitlichen Handelns wie dessen Eingehen in eine bereits bestehende Welt. Darin unterscheidet sich die Initiativität des Handelns deutlich vom kreativen Handeln des Kindes bei Nietzsche. Arendt spricht in diesem Zusammenhang von der Wundertätigkeit des Handelnden, insofern durch ihn die bestehenden, oftmals automatischen natürlichen oder auch gesellschaftlichen Prozessabläufe unterbrochen werden und Neuanfänge "schlechterdings unerwartet und unerrechenbar in die Welt brechen" (Arendt [1999]: 216), die uns mit Staunen erfüllen.
Dies hat Konsequenzen für eine maieutische Beistandschaft in diesem Handlungskontext, denn das freiheitliche Gebären von Handlungsinitiativen geschieht nicht in der Einsamkeit der Wüste, sondern unter der Bedingung der Anwesenheit von anderen, die ebenso mit Spontaneität begabt sind: "Etwas wird begonnen oder in Bewegung gesetzt von einem einzelnen, der anführt, worauf ihm viele gleichsam zu Hilfe eilen, um das Begonnene weiter zu betreiben und zu vollenden."(Arendt [1999]: 235) Handeln ist auf die Mitanwesenheit anderer angewiesen, um aufgenommen und weiterbetrieben bzw. verstärkt und vollendet zu werden. Anfänge brauchen Anknüpfungspunkte in der Welt. Nur wenn sie diese finden, können sie Anfänge von etwas sein, statt im Bestand der menschlichen Welt unterzugehen. Dieses Anknüpfen an die Anfänge anderer benennt Arendt mit Helfen und zeigt damit den besonderen Stellenwert des maieutischen Beistehens im Zusammenhang des freiheitlichen Handelns auf. Dieses Helfen geht aus von den initiatorischen Impulsen der Adressaten, die es zunächst einmal überhaupt erst als solche erkennt und würdigt. Mit dem freiheitlichen Helfen ist eine spezifische Unterscheidungsgabe verbunden, die automatische Reaktivität im menschlichen Tätigsein unterscheidet von initiatorischen Impulsen. Ganz gleich, wie stark Menschen dem Naturprozess zum Opfer gefallen sind und all ihr Handeln darauf ausgerichtet ist, der eigenen Not - welcher Form auch immer - Herr zu werden, kein Mensch kommt in seinem Tätigsein ganz ohne freiheitliche Impulse aus (Arendt [1999]: 215). Wie klein und unscheinbar solche Impulse auch sein mögen, das helfende Handeln beginnt mit dem Entdecken und Verstärken eben dieser bestehenden Impulse. Die Würdigung der Initiativität beginnt mit dem Staunen über diese Anfänglichkeit, aber Helfen bleibt nicht dabei stehen, sondern greift diese Anfänge selbst aktiv auf und spricht ihnen damit erst ihren weltlichen Wert zu. Das Helfen wird zur Brücke zur Welt, bis die Initiativität wieder leichter Fortführung in der Welt findet. Allerdings ist diese helfende Fortführung nicht eine fremdbestimmte Dienstleistung, sondern geschieht selbst initiativ. Helfende sind nicht dienstleistende Wunscherfüller selbstbestimmter Kunden der Sozialen Arbeit, sondern geben sich mit ihrer eigenen Initiativität in das Spiel des ständig Neuen hinein. Dieser Zusammenhang sprengt den Gedanken des maieutischen Beistandschaft, insofern Arendts anknüpfende Helfer im Gegensatz zur Hebamme von dem Gebärprozess des Neuen, das sie unterstützen, selbst betroffen sind (Platon: Theaitetos 149 b).
Diese Konzeption des freiheitlichen Helfens unterscheidet Arendt schließlich sehr sorgfältig von jedem Herrschaftshandeln (Arendt [1999]: 235f.). Das Verhältnis von Befehl und Gehorsam stellt letztlich den Verfallszustand des freiheitlichen Handelns dar. Das Handeln bedarf der Fähigkeit des Erduldens, insofern die selbstgesetzten Ziele durch die initiatorischen Impulse anderer immer wieder verändert oder gar direkt durchkreuzt werden (Arendt [1999]: 236). Wer dieses Spiel der Freiheit nicht zulassen will, sondern Souveränität über die einmal gesetzten Impulse erhalten will, dem bleibt nur die Möglichkeit, alle Initiativität auf seine Person zu konzentrieren und anderen nur noch die Möglichkeit zuzugestehen, diese Ideen und Ziele gehorsam auszuführen. Er wird unweigerlich zum Herrscher, er friert in seiner Position des Anfangenden fest und verbündet sich nicht mehr mit anderen, sondern kontrolliert vielmehr deren Tun.
Damit zeigt sich der auffälligste strukturelle Unterschied zwischen professionellem Herrschaftshandeln, wie es das beschriebene klinische Modell vorstellt, und einem maieutischen Zugang zum Hilfegeschehen. Die klinische Rationalität orientiert sich am methodisch-technischen Können der Professionellen, dem sich alle anderen mehr oder weniger offensichtlich unterordnen müssen. Das maieutische Selbstverständnis dagegen stellt die freiheitlich-selbstbestimmten Impulse der Betroffenen ins Zentrum und gruppiert alle anderen, auch die eigenen Handlungsimpulse der Professionellen, darum herum. (1) Ermutigendes Staunen über diese Impulse des Neuartigen, das in jedem Menschen als Begabung verborgen ist und durch Handeln das Licht der Welt erblickt, das (2) Erdulden der ständigen Durchkreuzung einmal gesetzter Ziele, der (3) engangiert selbstbestimmte Umgang mit diesen Anfängen anderer und die (4) Brückenbildung zur Welt freiheitlicher Bezüge bilden die Grundkategorien dieser maieutischen Handlungskompetenz nach Arendt.
Schluss
Deutlich wird der zentrale Unterschied zwischen dem beschriebenen problematischen klinisch-medizinischem Selbstverständnis und der maieutischen Grundhaltung. Während die Klinik schnell in die Gefahr gerät, zum Reparaturbetrieb zu werden, zugerichtet auf das Agieren des spezialisierten und gleichzeitig in seinem Aufgabengebiet souveränen Experten und insofern - obwohl in bester hilfreicher Absicht - dennoch zur kontrollierenden Herrschaftsausübung degeneriert, zeigt sich die Maieutik als Beistandschaft der Selbstbestimmung zum freiheitlichen Handeln. Ziel der Maieutik ist nicht die professionelle Lösung biopsychosozialer Probleme, sondern die Schaffung und Gestaltung einer Bühne, auf der Betroffene sich mit dem, was in ihnen steckt, im Miteinander entfalten können, wobei dieser Beistand das Bühnengeschehen derart mitgestaltet, dass dieses aufscheinende Neue Fortführung in den Bezugsnetzen der Welt finden kann.
Die drei philosophischen Natalitätskonzepte legen dabei vier zentrale maieutische Kompetenzen offen: (1) den Umgang mit den die Geburt der Einzigartigkeit begleitenden Komplikationen und Schmerzen (Sokrates), (2) das Bejahen und Aushalten von Widerständigkeit als Moment auf dem Weg zur kreativen Selbstbestimmung (Nietzsche) sowie (3) das freiheitlich engagierte Anknüpfen an freiheitliche Impulse anderer (Arendt) und schließlich (4) das Verweben dieser Impulse in bestehende freiheitliche Bezugsgewebe (Arendt sowie die sokratische Ehestiftung). Das Konzept der klinischen Sozialarbeit versucht zwar, Momente einer solchen maieutischen Förderung selbstbestimmter Vollzüge aufzunehmen mit ihren Begriffen von Ressourcenorientierung und Ganzheitlichkeit, doch verstrickt sie sich dabei in unlösbare Widersprüche, die allenfalls die Folgen des klinisch-medizinischen Modells relativieren, evtl. jedoch auch einfach nur kaschieren können. Sobald wir uns entscheiden, das zwischenmenschliche Hilfegeschehen primär auf unser professionelles Können hin auszurichten, um Selbstbewusstsein, Planbarkeit und professionelle Handlungskontrolle zu erreichen, sodann wird es uns unmöglich sein, die Selbstbestimmung von Adressaten wirklich zu fördern oder gar freizusetzen (Pauls 2004: 204; Ansen 2002). Wer die auf das professionelle Handeln zugeschnittene Klinik betritt, begibt sich in die Obhut der Ärzte und vertraut sich fast von selbst deren Handlungsvollzügen und Intentionen an, statt auf die eigene Kompetenz, Selbstbestimmung und die eigenen Vorstellungen und Wünsche zu vertrauen. Dieser Zusammenhang lässt sich auch mit professionsethischen Maßgaben über die Notwendigkeit der Einwilligung und Mitarbeit von Betroffenen oder deren menschliche Würde und Selbstbestimmung nicht kompensieren (Ansen 2002: 88).
Freilich zeigt das Beispiel des platonischen Sokrates', dass auch die maieutische Grundhaltung nicht davor gefeit ist, sich in klinischen Handlungsmustern zu verlieren. Freiheit ist immer ein gefährdetes Gut; sie bedarf eines spezifischen Sinnes für diese Freiheit, gepaart mit einem stabilisierenden Maß institutioneller Sicherungen, dem Vertrauen wie der Zumutung dieser Freiheit gegenüber Betroffenen sowie einem größtmöglichen Schatz freiheitlicher Selbsterfahrung, um auf dieser Basis die beschriebenen maieutischen Kompetenzen entwickeln und bewahren zu können und auf diese Weise die Unabsehbarkeit, Lebendigkeit und Vielfalt des je einzigartigen Handelns in der Welt zu hegen.
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