Kinder! Kinder?
Editorial
Dieses Jahrhundert sollte das des Kindes werden. Nicht was Lebensqualität, aber was Quantität angeht, kann man davon sprechen: Über die Hälfte der Menschheit in den als unterentwickelt eingestuften Ländern sind Menschen unter 18 Jahre - zur Jahrhundertwende stellen sie vielleicht die Mehrheit auf dem gesamten Globus.
Während die Diskussion darüber, ob Menschenrechte ein Geschlecht haben, heftig entbrannt ist, ist eine vergleichbare Kontroverse über die Frage der Rechte der Kinder nicht in Sicht. Das ist aufgrund der Struktur wohl auch schlecht möglich: Kinder als Kollektiv können sich kaum artikulieren - wenn sie dazu in der Lage sind, sind sie in der Regel nicht mehr Kinder, sondern: Männer und Frauen, arm und reich, mächtig oder ohnmächtig. So notwendig und löblich die im November vorletzten Jahres verabschiedete Kinderkonvention der UN-Menschenrechtskommission ist, die deutlich über eine Schutzdeklaration hinausgeht und in Ansätzen die Subjektrechte von Kindern - zumindest auf dem Papier - respektiert, so unvollständig bleibt diese Konvention notwendigerweise.
Solange Kinder vor allem durch ein "Noch-nicht" gekennzeichnet sind: noch nicht mündig, noch nicht rechtsfähig, wird sich daran auch nichts ändern. Und: Rechte allein genügen nicht, wenn die materiellen Voraussetzungen zu ihrer Realisierung fehlen bzw. systematisch zerstört werden.
Philip Ariès hat in seiner großen Untersuchung über die Geschichte der Kindheit auf dieses Dilemma aufmerksam gemacht: Die Aussonderung der Kinder aus dem Alltag von Produktion und Reproduktion im Prozeß der Durchsetzung bürgerlich-kapitalistischer Lebensweise hat, weltgeschichtlich betrachtet, für die Minderheit von Kindern den bedenklichen Schutz der von Erwachsenen lizensierten Räume des "Noch-nicht" gebracht, für die überwältigende Mehrheit immer aber nur noch größeres Elend. Auch wenn man Aries Glorifizierung des "ancien regime" folgt, wo die Kinder den Objektstatus der Unfreien mit ihren Eltern zwar teilten, innerhalb dieses Status jedoch relativ gleichberechtigt waren, verweist dieser Gedanke jedoch darauf, daß alle Schutzrechte von Kindern diese zugleich auch immer aus den gesellschaftlich wichtigsten Sphären verdrängen. Noch in der Vorstellung von Identität und Subjektwerdung ist dieses "Noch-nicht" immer wieder angelegt: Nicht nur die idealistische, jegliche Pädagogik lebt davon, daß aus dem Unmündigen das wahre, wirkliche Subjekt, die entfaltete Identität werde, denn nur diese sei zum herrschenden Dialog in der Lage.
Loris Malaguzzi, Inspirator der Reggio-Pädagogik, kehrt diese Sichtweise in bemerkenswerter Radikalität um: "Kinder haben 100 Sprachen, wir rauben ihnen 99". Dieses Insistieren auf die Subjekthaftigkeit des gerade Geborenen eröffnet eine ganz andere Perspektive. Nicht mehr das Schleiermachsche Dilemma, Kinder und Jugendliche zu einem Verzicht aufzufordern (oder zu zwingen), von dem gar nicht sicher ist, daß er sich lohnt, ist Ausgangspunkt dieser Philosophie, sondern die Aufgabe, die "100 Sprachen", das heißt alle Sinnesfähigkeiten in ihrer Entfaltung zu unterstützen, zu fördern und ihnen eigene Räume zu geben. Dies ist durchaus im Marxschen Sinne zu verstehen: Das Ergebnis der bisherigen Weltgeschichte ist die Entwicklung der fünf Sinne.
Heinz Sünker geht in seinem Diskurs über die gesellschaftlichen und historischen Konstitutionsbedingungen von Kindheit auf diese grundlegenden Zusammenhänge ein. Die Frage nach den Konstitutionsbedingungen kindlicher Subjektivität ist auch Voraussetzung für eine Befreiung des "Kinder-Themas" aus vorherrschenden familialistischen oder naturalistischen Restriktionen. Ohne das soziologische Reflexionsniveau dabei preiszugeben, tritt Sühnker für eine Bildungskonzeption ein, die der soziologisch nicht voll zu fassenden Entwicklung kindlichen Lebens und Erlebens gerecht wird.
Christa Preissing untersucht in ihrem Beitrag, welche Anforderungen der 8. Jugendbericht mit seinem Konzept einer lebensweltorientierten Jugendhilfe an das am 1.1.1991 in Kraft getretene Kinder- und Jugendhilfegesetz stellt und setzt damit die im Heft 34 begonnen Debatte um die Rechte von Kindern und Jugendlichen fort.
Daß dem Kindergarten und dem Kindertagesheim in den nächsten Jahren ein sehr viel größerer Stellenwert als bisher zukommen wird, und weshalb das so ist, darauf verweist Harald Seehausen mit seinen Überlegungen zum Verhältnis von Familie, Arbeit und notwendigen Veränderungen in den Kindertagesstätten.
Das allerdings der Flexibilisierung jeglicher Lebensentwürfe Grenzen gesetzt sind, darauf insistiert wiederum die "Reggio-Pädagogik", die den umgekehrten Weg fordert: Flexibilisierung der anderen gesellschaftlichen Sphären, damit die Kinder in produktiver Weise sich die Welt und ihre Räume aneignen können. Ihre Eindrücke aus einer Reise nach Reggio schildert Erika Kazemi-Vaseiri in ihrem Beitrag.
Daß "Traurigkeit in der Kindheit oft nichts zu suchen hat", dafür war die Angst der Kinder - auch hier in der Bundesrepublik - vor den Folgen und Schrecken des Golfkrieges ein aktuelles Beispiel. Zur Kriegsangst von Kindern und dem Umgang der Erwachsenen damit - "es ist alles halb so schlimm" - stellt Rose Ahlheim abschließend psychoanalytische Überlegungen an.
Offenbach, April 1991