Das Kind als Subjekt
I.
Die Frage wie sich kindliche Subjektivität konstituiert, ist die Voraussetzung für einen Perspektivenwechsel sowohl für die Analyse kindheitstheoretischer und kindheitspolitischer Beiträge als auch für die Entwicklung weiterführender Argumente, um angesichts gesellschaftlicher Entwicklungen und neuer Vergesellschaftungsmodi den Umgang mit dem "Kinder-Thema" aus vorherrschenden familialistischen oder naturalistischen Restriktionen zu befreien. (1) Betrachtet man die Lage der bundesdeutschen "Kinder-Forschung", so fällt zum einen - gerade wegen der Differenz zur Situation in der "Jugendforschung" (2) - der Mangel an empirischer Forschung zu Lebenswelten von Kindern wie zu prekären Lebenssituationen im Kindesalter - wobei es sich hier um die Altersgruppe der Kleinkinder bis hin zu den 12-Jährigen handelt - auf. Besonders erstaunlich wird diese Feststellung, wenn man berücksichtigt, in welchem Ausmaße in den letzten 30 Jahren die öffentliche Gestaltung des Kinderlebens im Bereich von Erziehungs- und Bildungsinstitutionen expandierte.
Gleichwohl galt und gilt mehrheitlich für Forschung wie Politik eine Einschätzung, wie sie paradigmatisch von der Bundesregierung in ihrem Bericht zur Vorbereitung der XX. Europäischen Familienministerkonferenz 1989 mit dem Thema "Kindererziehung in Europa von heute und Rolle der Familiendienste" als Ansatzpunkt ihrer Politik für Kinder und in Familien beschrieben worden ist. Dabei wird klar, daß dies in der Realität eine steuerungspolitische Ausrichtung an und mit Familien bedeutet, obwohl sich Hinweise für Einsichten in die widersprüchlichen Verhältnisse von Familien- und Kinder-Leben heute finden lassen:
"In der Bundesrepublik Deutschland spielt nach wie vor die Familie die Hauptrolle bei der Kindererziehung. Zwar ist wie in allen Staaten der Europäischen Gemeinschaft neben die Familie das System der öffentlichen Erziehung und Bildung in Kindergärten und Schulen getreten. Dennoch ist die Kindheit eine 'Familienkindheit' geblieben. Kinder wachsen nach wie vor in Familien auf und erhalten dort die ihr Leben prägenden Erfahrungen. Allerdings hat sich die Kindheit insofern verändert, als die Arbeitsvollzüge aus dem Familienleben mit der Modernisierung und Industrialisierung unserer Gesellschaft ausgelagert worden sind und für Kinder dort nicht mehr erfahrbar werden. Kindheit ist zu einem sozialen Status mit eigenen Rechten und Pflichten geworden. Die notwendigen Erfahrungen und Fertigkeiten werden an die Kinder gezielt herangetragen" (Bericht 1989: 1; vgl. 38 ff, 47 ff).
Der Verweis auf europäische Gemeinsamkeiten im Bereich einer Sozialpolitik, die darauf abzielt, Kindheit mit Familienleben zu identifizieren und damit zu ideologisieren, läßt sich durch weitere komparative Aspekte beleuchten, zieht man einen anderen europäischen "Fall" heran:
"Amazingly the social origins of child welfare children were offen, and sometimes still are, dismissed in the research by stating that children concerned come from multiproblem families. The neglect may be partly explained by history. The history of Finnish child welfare indicates that the goals have not been connected with real social problems but with ideological notions on childhood and expectations of their upbringing and education. Moreover, people acting on behalf of children 's welfare have been likely to adopt an apolitical strategy (cf. the ideology of childsavers). There is a long tradition of avoiding politicization in the context of childhood" (Bardy 1988: 7; vgl. van Krieken 1986).
Der häufig konstatierbare Naturalismus und Familialismus im Umgang mit der Kinder-Thematik führt dabei zu dem, was Bardy als Tradition, im Kontext der Beschäftigung mit Kindsein und Kindheit gesellschaftspolitische Implikationen zu negieren, kennzeichnet. Dies bildet zudem einen Erklärungsaspekt bei der Beantwortung der Frage, warum es, wie Lang bemerkt, eine spezifische Sozialpolitik für Kinder nicht gebe (Lang 1985: 20; vgl. Engelbert 1986) und die Lebensbedingungen von Kindern in der Sozialpolitikdiskussion und -forschung bisher nur äußerst selten eine Berücksichtigung fanden: weil Kinder eben mehrheitlich nur als Determinanten der Lebensqualität von Erwachsenen - und damit häufig zugleich von Familienpolitik (3) - von Interesse gewesen seien (Lang 1985: 37; vgl. Lüscher 1984).
In einer allgemeineren Perspektive kann darüber hinausgehend festgestellt werden, daß nicht allein die Erforschung von "Kindeswohl" (vgl. Simitis et al. 1979; Goldstein et al. 1988, 1991; Honig 1989; Sünker 1989) sich in einer marginalisierten Situation befindet, vielmehr letztlich für die Kinder-Forschung insgesamt festzuhalten ist, daß die Forschungssituation sich wesentlich durch ihren Status als Vorüberlegung "auszeichnet": "Singuläre Beobachtungen kindlichen Verhaltens, Verallgemeinerungen zufälliger und auffälliger Handlungen von Kindern auf der einen Seite und systematische Überlegungen zu den Veränderungen der Lebensbedingungen von Kindern durch den Wechsel in den materiellen und gesellschaftlich geregelten Voraussetzungen auf der anderen Seite ersetzen - auch dann, wenn sie vermischt werden - nicht eine integrale, d.h. eine theoretische und empirische Untersuchung der gesellschaftlichen und individuellen Situation heutiger Kindheit" (Rabe-Kleberg 1989: 168).
II. Diskussion um das Eigenrecht kindlicher Lebensweisen
Vor dem Hintergrund dieser Forschungslage wie der Einschätzungen über Aufgabenstellungen, die zu einer theoretischen Verdichtung der Themen "Kindheit" und "Kinderleben" führen könnten, nimmt es nicht Wunder, daß in der Diskussion um das Eigenrecht kindlicher Lebensweisen - in der Folge von der Rede der sozialen Figuration "Kindheit" - immer wieder auf den begrenzten Wert empirischer Belege für die These vom gesellschaftlichen Wandel der Kindersituation heute (vgl. Geulen 1989: 8ff; Honig 1990: 19ff) hingewiesen wird. Dabei geht es nicht allein um die hier auch infragestehende zu schmale empirische Basis für weiterreichende Urteile, sondern auch um ein, wenn man so will, im Falle der Kinder-Thematik besonders deutlich auftretendes Problem einer Vermittlung zwischen gegenstandsbezogenen Fragen und analytischen Vorgehensweisen, was zusammengenommen auf die Schwierigkeit einer Verallgemeinerung von Ergebnissen und Erkenntnissen verweist.
Der gesellschaftliche Ort von Kindheit, damit Kindheit als soziales Konstrukt, und die Ausdifferenzierungen real existierender Verhältnisse und Bedingungen, die das Leben von Kindern heute in unserer Gesellschaft rahmen und sich in gesellschaftliche, materielle und kulturelle Dimensionen auseinanderlegen lassen, verdeutlichen diese Schwierigkeiten noch einmal. Dementsprechend ist vorab zu skizzieren, unter welchen Voraussetzungen und mit welchen Konsequenzen im Kontext unterschiedlicher Zugangsweisen "Kindheit" bzw. "Kinderleben" zum Thema wird.
a) Bezogen auf politische und gesellschaftliche Interessen werden Kinder als Element von Bevölkerungspolitik, Familienpolitik und Sozialpolitik betrachtet, d.h. funktionalistisch gesehen. Unter dem Titel "Kinder sind unsere Zukunft" lassen sich - wie in einer Entschließung der SPD-Fraktion im Düsseldorfer Landtag (neue praxis 1988: 447) - ausgehend von der Feststellung: "In Kindern wachsen die Überzeugungen und Fähigkeiten von morgen. Sie sind die künftigen Träger von Kultur, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft", familienpolitische und sozialpolitische Unterstützungsleistungen fordern, um zugleich die mangelnde Kinderfreundlichkeit unserer Gesellschaft zu konstatieren. Dies läßt sich dann auch, wie in einer Orientierungshilfe der Arbeiterwohlfahrt zur Einsetzung von Kinderbeauftragten geschehen (neue praxis 1989: 362 ff), mit der Forderung nach "Kinderkommissionen" als Unterausschüssen von Jugendwohlfahrtsausschüssen und der - im Anschluß vor allem an skandinavische Modelle - Forderung nach der Einrichtung der Stelle von Kinderbeauftragten verbinden.
b) Im Rahmen erziehungswissenschaftlicher bzw. pädagogisch-praktischer Überlegungen ist einsichtig, daß sich aus dem Bezug auf Kinder - als Objekte oder auch Subjekte des Erziehungs- und Bildungsverhältnisses - ein Ansatz zur Begründung der eigenen Bemühungen ergibt. Gerade in klassischen, früh bürgerlichen Ansätzen zur Konzeptualisierung von Erziehungswissenschaft bzw. pädagogischer Praxis wird dies besonders deutlich. So sieht Schleiermacher (1826) Erziehung im intergenerationellen Verhältnis begründet und leitet daraus die Aufgabe ab, "daß die jüngere Generation an die großen Lebensgemeinschaften abgeliefert werden soll, in denen sie selbständig zu handeln hat". Gerade aus dem zu konstatierenden Spannungsverhältnis von gemeinschaftlichem Leben und freier Selbsttätigkeit leitet er seine Perspektive für das Handeln der nachwachsenden Generation mit den Aufgaben "Bewahren" und "Verändern" ab (Schleiermacher 1983: 94).
Für Kant steckt hinter der Edukation "das große Geheimnis der Vollkommenheit der menschlichen Natur" (Kant 1964: 700). Denn "Gute Erziehung gerade ist das, woraus alles Gute in der Welt entspringt. Die Keime, die im Menschen liegen, müssen nur immer mehr entwickelt werden. Denn die Gründe zum Bösen findet man nicht in den Naturanlagen des Menschen" (a.a.O.: 704f). Auch wenn, wie Kant festhält, die Erziehung das größte und schwerste Problem, das den Menschen aufgegeben ist, darstellt, so gilt doch mit Nachdruck: "Kinder sollen nicht dem gegenwärtigen, sondern dem zukünftig möglich bessern Zustande des menschlichen Geschlechts, das ist: der Idee der Menschheit, und deren ganzer Bestimmung angemessen, erzogen werden" (a.a.O.: 704).
c) Mit den beiden vorhergehenden Problemkreisen verbindet sich ein drittes Motiv, das auf die wissenschaftsgeschichtliche Einbettung im Umgang mit unserem Thema verweist. Mit den Publikationen von Ariès und de Mause hat es in den letzten 20 Jahren einen kontroversen Neuanfang in der Beschäftigung mit der Geschichte der Kindheit gegeben, innerhalb dessen Prozesse der Ausgrenzung und Integration von Kindern in gesellschaftliche Kontexte hinsichtlich der Konsequenzen für das jeweilige Kinderleben diskutiert werden. Der Kernpunkt der Kontroverse besteht dabei darin, daß der kontrolltheoretischen Argumentation von Ariès (1975), derzufolge Pädagogisierung und Disziplinierung von Kindern ineinandergreifen, mit den - historisch weitergreifenden - Überlegungen von deMause ein evolutionstheoretisch optimistisch argumentierender Ansatz entgegengesetzt wird, der seinen Ausdruck bereits im ersten Satz seines Beitrages findet: "The history of childhood is a nightmare from which we have only recently begun to awake. The further back in history one goes, the lower the level of child care, the more likely children are to be killed, abandoned, beaten, terrorized, and sexually abused. It is our task here to see how much of this childhood history can be recaptured from the evidence that remains to us" (de Mause 1974: l, vgl. 1989: 70-88). (4)(5)
Der Ertrag - und auch Vorzug - dieser Diskussion ist darin zu sehen, daß die historisch-gesellschaftliche Formung des Lebens von Kindern sowie von Vorstellungen über Kindheit deutlich herausgearbeitet wurde. Damit können Einsichten in den Zusammenhang von Kindheitstheorie, Kindheitsbildern und Kinderleben begründet Vorstellungen entgegengesetzt werden, mit denen Kinder auf den Stand und Zustand natürlicher Wesen allein reduziert werden. Zudem haben weitere ethnographisch bzw. zivilisationstheoretisch argumentierende Studien wie hier exemplarisch zu nennende von Gelis "The Evolution of the Status of the Child in Western Europe: From the Collective Body to the Private Body" (1986), Richter "Das fremde Kind. Zur Entstehung der Kindheitsbilder des bürgerlichen Zeitalters" (1987), Wild "Die Vernunft der Väter. Zur Psychographie von Bürgerlichkeit und Aufklärung in Deutschland" (1987) und Glantschnig "Liebe als Dressur. Kindererziehung in der Aufklärung" (1987) die Fruchtbarkeit einer Beschäftigung mit der Geschichte der Kindheit für systematische Einsichten in gesellschaftliche Vermittlungszusammenhänge, die die Beziehung von Individuum und Gesellschaft thematisieren, verdeutlicht.
M.E. kann die in diesen Studien erkennbar werdende Ambiguität der historischen Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft, die einen Ausdruck in den Widersprüchlichkeiten, Mehrdeutigkeiten und Mehrwertigkeiten sowohl historischer Situationen als auch der Verfaßtheit historischer Akteure annimmt, Positionen gegenübergestellt werden, mit denen speziell in der Kinder-Diskussion gesellschaftliche Entwicklungsprozesse und die Frage nach Subjektivitätspotentialen überwiegend negativ aufeinander bezogen werden: Leitmotive wie Ansätze lassen sich hier auffinden in Thesen vom "Verschwinden der Kindheit" (Postman 1982), zu "Tendenzen der Liquidierung von Kindheit" (Hengst 1981), zur "Psychiatrisierung und Therapeutisierung von Kindheit" (Wambach 1981), zur "Intervention im frühen Lebensalter" (Hörmann 1988).
III. Anhaltspunkte für Veränderungen der sozialen Lebensbedingungen von Kindern
Abstrakten Gegenüberstellungen, die - vereinfacht gesprochen - die gegenwärtige Situation dadurch einzuschätzen suchen, daß sie der These, den Kindern gehe es heute so gut wie nie zuvor, die Aussage, den Kindern gehe es so schlecht wie nie, entgegensetzen, ist somit zu entgehen. Dazu ist es notwendig, gesellschaftliche wie kulturelle und damit strukturelle wie interaktive Bedingungsfaktoren und Bestimmungsgrößen kindlichen Lebens und Erlebens in der Gegenwart zu analysieren. Dabei kommt es auch darauf an, - mit Bezug auf die angesprochene Verallgemeinerungsproblematik - sich die Frage zu stellen, welche analytischen Ebenen wesentlich und auseinanderzuhalten sind. Es geht mithin um die Frage nach Anhaltspunkten für Veränderungen in den sozialen Lebensbedingungen und Lebensmöglichkeiten, nach (veränderbaren) Aneignungsformen gesellschaftlicher Wirklichkeit, im Falle der Kinder also wesentlich um Veränderungen von Erfahrungsräumen, und von Subjektivitätspotentialen in den letzten 20-25 Jahren in der BRD wie in vergleichbaren Gesellschaften (vgl. dazu Büchner 1989; Dencik 1989; Geulen 1989, 1989a; Honig 1989, 1990):
- Die (bürgerliche) Kleinfamilie breitet sich immer mehr aus und zugleich expandiert die Zahl nicht-ehelicher Lebensgemeinschaften (mit und ohne Kinder).
- Mit dem Rückgang der Kinderzahl pro Familie werden Geschwister immer seltener, so daß sich der familiale Erfahrungsraum wesentlich verändert.
- Daß Kindsein keinen Naturstatus an sich verkörpert, zeigt sich daran, daß die Lebenslage "Kind" immer stärker altersmäßig differenziert werden muß (0-3, 3-6, 6-12). Zudem werden früher für Jugendliche typische Verhaltensweisen immer mehr in die Kindheitsphase vorverlagert, sodaß sich das Problem des Verhältnisses von Abhängigkeit und Selbständigkeit immer stärker stellt: letztendlich können wohl nur noch Kleinkinder und Säuglinge in vollkommener Abhängigkeit gehalten werden.
- In dem Zusammenhang der vorgängigen Beschreibungen ist auch die weitgreifende Veränderung kultureller Maßstäbe für Normalität und abweichendes Verhalten anzusiedeln: vieles, was vor gut zwanzig Jahren noch als verhaltensauffällig bzw. abweichend definiert wurde, gilt heute als normal (und in manchen Fällen als wünschenswert).
- Die Expansion einer Kinderkultur läßt Kinder auch zu Konsumenten werden, die in ökonomischer Sichtweise höchst interessant sind.
- Zugleich gilt, daß aus den Orten früheren Kinderlebens und Erfahrungsräumen, häufig Kindergettos geworden sind. Zudem fehlt es an Spielräumen.
- So nimmt es nicht Wunder, daß immer mehr Kinder in einem immer früheren Alter Institutionen öffentlicher Erziehung und Bildung besuchen (was je nach gesellschaftlicher, institutioneller und individueller Rahmung notwendig bzw. sinnvoll sein kann). (6)
- einher geht damit ein breiteres Interesse der Öffentlichkeit an den Bildungs- und Erziehungsinstitutionen - bis hin zur Skandalisierung vieler Situationen und Verhältnisse etwa in der Schule oder in der Heimerziehung.
- Die Eltern-Kind-Beziehungen haben sich entscheidend verändert: kindliche Subjektivität, Persönlichkeit, Eigenständigkeit wird häufig nicht nur anerkannt, sondern auch gewünscht.
- Begleitet wird diese Entwicklung von neuen Positionierungen hinsichtlich der Frage von Kinderrechten (bis hin zum Vorschlag der Einsetzung von Kinderbeauftragten) (7).
IV. Formen und Gehalte der Eltern-Kind Beziehung
In einer Verlängerung dieser allgemeinen Beschreibung gesellschaftlicher Wandlungsprozesse ist nun weiter auszuloten, was - gerade mit Bezug auf die Verallgemeinerungsproblematik - an Elementen der Dialektik gesellschaftlicher Praxis, in die die Konstitutionsbedingungen von Subjektivität eingebettet sind (vgl. Sünker 1989a), insbesondere für kindliches Leben und Erleben bedeutsam ist. Wie sind Lebensbedingungen mit den jeweils aktuellen sozialen Erfahrungen von Kindern vermittelt; welche Elemente haben für das Leben von Kindern eine besondere Bedeutung?
Fragt man danach, was in welcher Weise Einfluß auf die sozialen Erfahrungen und das Erleben von Kindern nimmt, von diesen verarbeitet bzw. erarbeitet werden muß, dann wird man auch unter den gegenwärtigen Bedingungen mit einer Analyse der Formen und Gehalte der Eltern-Kind-Beziehung - in ihren Konsequenzen für beide Seiten - beginnen. Allgemeiner zu bestimmende Entwicklungsprozesse aus den letzten zwei Jahrzehnten sind demzufolge auf ihre Konsequenzen für ein spezifisches soziales Segment zu untersuchen.
Einen gesellschaftstheoretischen und -politischen Eckpfeiler in dieser Diskussion findet man mit dem Stichwort "Individualisierung" (8) was erst einmal nicht anderes meint, als die Herauslösung aus traditionalen Lebensformen und Gemeinschaften. Einer der Hauptverantwortlichen für diese Diskussion, U. Beck, schreibt hier für unseren Zusammenhang etwas Wichtiges:
"Mit dem innerfamilialen Individualisierungsprozeß verändert sich auch die soziale Beziehung und Bindungsqualität zum Kind. Einerseits wird das Kind Hindernis im Individualisierungsprozeß. Es kostet Arbeit und Geld, ist unberechenbar, bindet an und würfelt die sorgfältig geschmiedeten Tages- und Lebenspläne durcheinander. Mit seinem Erscheinen entwickelt und perfektioniert das Kind seine 'Diktatur der Bedürftigkeit' und zwingt mit der nackten Gewalt seiner Stimmbänder und dem Leuchten seines Lächelns den Eltern seinen kreatürlichen Lebensrhythmus auf. Gerade dies macht es auf der anderen Seite aber auch unersetzlich. Das Kind wird zur letzten verbliebenen, unaufkündbaren, unaustauschbaren Primärbeziehung. Partner kommen und gehen. Das Kind bleibt. Auf es richtet sich all das, was von der Partnerschaft herbeigesehnt, aber in ihr unauslebbar wird. Das Kind gewinnt mit dem Brüchigwerden der Beziehungen zwischen den Geschlechtern Monopolcharakter auf lebbare Zweisamkeit, auf ein Ausleben der Gefühle im kreatürlichen Hin und Her, das sonst immer seltener und fragwürdiger wird. In ihm wird eine anachronistische Sozialerfahrung kultiviert und zelebriert, die mit dem Individualisierungsprozeß gerade unwahrscheinlich und herbeigesehnt wird. Die Verzärtelung der Kinder, die 'Inszenierung der Kindheit', die man ihnen angedeihen läßt - den übergeliebten, armen Wesen -, und das böse Ringen um die Kinder in und nach der Scheidung sind einige Anzeichen dafür. Das Kind wird zur letzten Gegeneinsamkeit, die die Menschen gegen die ihnen entgleitenden Liebesmöglichkeiten errichten können. Es ist die private Art der 'Wiederverzauberung', die mit der Entzauberung und aus ihr ihre Bedeutung gewinnt. Die Geburtenzahlen gehen zurück. Die Bedeutung des Kindes aber steigt. Mehr als eines wird es denn meistens nicht. Für mehr ist dieser Aufwand auch kaum leistbar." (Beck/Beck-Gernsheim 1990: 55).
So "schön" dies Zitat auch klingt, so ist es doch - die Aussage relativierend - in Beziehung zu setzen zu Überlegungen, die H. Popitz zum Wandel sozialer Subjektivität in den Konsequenzen für "Autoritätsbedürfnisse" vorgetragen hat. Seine Einschätzung zum Aufkommen eines neuen Elements im Verhaltensrepertoire - benannt als "wechselseitiges Verstehen-Wollen und Verstanden-Werden" - diskutiert er auch mit Bezug auf Eltern-Kind-Beziehungen. Er geht von der These aus, daß in der frühen Kindheit wie bisher eine einseitige Autoritätsbindung entstehe, die aber nicht bleibe:
"Doch zu den wichtigsten Veränderungen der Eltern-Kind-Beziehung in den letzten Jahrzehnten gehört der zunehmend intensive Versuch vieler Eltern, die Individualität ihrer Kinder ohne 'altersgerechte' Abstriche ernst zu nehmen, nicht als etwas sich erst entwickelndes, zukunftsbezogenes, sondern als Individualität hier und jetzt, als präsente Individualität. Darin liegt der Keim einer neuen Gleichwertigkeit des Kindes - der 'Emanzipation des Kindes'. Das als Individualität anerkannte, zur Individualität ernannte Kind wird von einem Objekt zu einem möglichen Subjekt der Individualitätsanerkennung. Eltern empfinden die Achtung ihrer Kinder - nicht die allgemeine Dankbarkeit, sondern ihre persönliche Achtung - als Kriterium ihrer individuellen Bewährung. Ein Anerkennungsentzug des Kindes bedroht ihr Selbstwertgefühl. Das Kind wird für sie zur Autorität. So können auch hier Autoritätsbeziehungen auf Gegenseitigkeit entstehen" (Popitz 1987: 645f).
Beide vorhergehend herangezogenen Einschätzungen lassen sich mit der Schlußfolgerung aus einer Studie, die in nordischen Ländern über die Bedingungen des Aufwachsens von Kindern heute entstanden ist, verbinden. Für die Situation heutiger Eltern kommt die Untersuchung zu der Schlußfolgerung, daß diese zum ersten Mal seit Adam und Eva in einer Situation sich befänden, Kinder für eine Zukunft zu erziehen, die ihnen selber verschlossen bleibe und dies in einer Weise, die sie selber nicht durchlebt hätten (Dencik 1989: 159). (9)
Im Zusammenhang mit der Frage nach den Subjektivitätspotentialen von Kindern und deren Kompetenzen sind auch weitere Ergebnisse dieser empirischen Studie heranzuziehen, die wesentliche Auswirkungen gesellschaftlicher Entwicklungen veränderter familialer Situationen wie neuer Formen und Inhalte von Institutionen öffentlicher Erziehung auf Kinder darstellen. So werden folgende weitreichende Konsequenzen dieser Bedingungsfaktoren für Aktivitäten, Handlungsfähigkeit und psychische Entwicklungsprozesse von Kindern, gerade auch im Unterschied zu früheren Dimensionen von Kinderleben, angeführt (Dencik 1989: 176f):
- aufgrund der unterschiedlichen sozialen Orte des Lebens geht es um soziale Flexibilität;
- aufgrund der vielfältigen und neu geordneten Beziehungen zu anderen geht es um die Entwicklung von möglichst früher Reflexionsfähigkeit;
- aufgrund der unterschiedlichen Erfahrungsbereiche geht es um die Entwicklung von Integrationsfähigkeit;
- Kommunikationsfähigkeit ist zu entwickeln verbunden mit der Kompetenz, eigene Wünsche und Meinungen effektiv zu vertreten bzw. vorzubringen;
- die Fähigkeit zu Selbstkontrolle, Affektkontrolle, zur Regulierung von Impulsen ist insbesondere in den Institutionen öffentlicher Kleinkindererziehung zu entwickeln;
- der Aufbau von Selbstvertrauen ist vielleicht stärker als früher an die Fähigkeit gebunden, initiativ zu werden und sich selbst zu "repräsentieren".
Diese zivilisationstheoretisch inspirierte Interpretation Denciks läßt sich als eine Konkretisierung dessen lesen, was Habermas in seiner "Theorie des kommunikativen Handelns" als Szenario der Auswirkungen der System-Lebenswelt-Dichotomie für Familienfunktionen, gesellschaftliche Integrationsprozesse der nachwachsenden Generation, deren Identitätsbildungsprobleme und Orientierungsverluste wie Orientierungsgewinne durch eine nunmehr geforderte Eigenständigkeit, entwickelt. Dabei leitet ihn die Überlegung, daß im Strukturwandel der bürgerlichen Kleinfamilie auch die eigensinnige Rationalisierung der Lebenswelt, d.h. ein Anwachsen von Verständigungspotentialen, wiederzuerkennen sei. Es geht ihm in diesem Kontext um die Begründung der Möglichkeit, "daß in den egalisierten Beziehungsmustern, in den individuierten Verkehrsformen und den liberalisierten Erziehungspraktiken auch ein Stück des im kommunikativen Handeln angelegten Rationalitätspotentials freigesetzt wird" (Habermas 1981: 568).
Die Ambiguität des von ihm analysierten gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses findet eine wesentliche Begründung darin, daß die familialen Lebenswelten den von außen auf sie zukommenden Imperativen des wirtschaftlichen und des administrativen Handlungssystems ins Gesicht sehen, "statt von ihnen hinterrücks mediatisiert zu werden. An den Familien und ihren Umwelten läßt sich eine Polarisierung zwischen kommunikativ-strukturierten und formal-organisierten Handlungsbereichen beobachten, die die Sozialisationsprozesse unter andere Bedingungen stellt - und einem anderen Typus von Gefährdungen aussetzt" (Habermas 1981: 568f) (10).
Gerade der potentielle Anstieg kommunikativer Rationalität in familialen Lebenswelten führt zu anspruchsvollen wie anfälligen Sozialisationsbedingungen, die ihre Zuspitzung in einem gegenwärtig konstatierbaren Formenwandel der Adoleszenzproblematik finden und der - die Habermassche Argumentation verlängernd - auch auf die Konsequenzen für die soziale Figuration "Kindheit" und Dimensionen kindlichen Lebens hin zu befragen ist. Habermas kommt dabei zu dem Schluß, daß in der Folge der Auflösung traditionaler Vergesellschaftungsmuster, damit auch von Sinnstiftungen und Lebensorientierungen, die je verloren gegangenen "Leistungen" von der heute nachwachsenden Generation selbst erbracht werden müssen - und dies trotz und gegen Zugriffsmechanismen abstrakter Systeme. Dies meint, daß das, was früher sich gleichsam naturwüchsig vollzog, als "normal" betrachtet wurde, realiter aber sich im Rahmen gesellschaftlicher Reproduktionsprozesse und Vergesellschaftungsmuster vollzog, heute der Unterstützung, vielleicht sogar der Neustrukturierung durch die jungen Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft, die "Betroffene" und "Handelnde" zugleich sind, bedarf (vgl. dazu auch Heller 1978: 27f).
Mit Bezug auf die möglichen Orientierungsgewinne, die diesem gesellschaftlichen Entwicklungsprozeß in seinen Auswirkungen auf potentielle Subjekte inhärent sind, ist abschließend zu diskutieren, welche politisch-institutionellen und pädagogischen Leistungen für eine Unterstützung des hiermit avisierten Ziels vorhanden sein sollten. In der Folge von Kritiken existierender politisch-institutioneller Rahmenbedingungen (vgl. Karsten/Sünker 1990: 109-117), denen nicht einmal eine Kompensation sozialer Benachteiligungen gelingt (vgl. Herlth 1986), läßt sich die Forderung nach einer "child resource policy" aufstellen, die von funktionalen Erfordernissen für ein gesundes, neugieriges, produktives und motiviertes Kind ausgeht, das dabei als kompetenter bzw. Kompetenzen erwerbender Akteur in einem größeren sozialen System und in sozialen Netzwerken verstanden wird (Heath/McLaughlin 1988: 337).
Allerdings bedarf auch dieser Vorschlag einer durch soziologische Argumentation nicht einholbaren Fundierung, die es bildungstheoretisch zu konzeptualisieren gilt. Auch entwickelte soziologisch argumentierende Positionen, die materialistisch orientiert, etwa die Realität des intergenerationellen Verhältnisses als Ausdruck sozialer Beziehungen von Macht und Autorität darstellen (Hood-Williams/Fitz 1983: 104) oder "das kindheitstheoretische Dilemma zwischen der Angewiesenheit der Kinder auf Erwachsene, der Selbständigkeit von Kindern und ihren Rechten als Subjekten" (Honig 1990: 36) zum Ausgangspunkt ihrer Analyse nehmen, geraten ob ihrer letztlich dem "Gegenstand" noch äußerlich bleibenden Bestimmungen in Aporien.
Ohne das sozialwissenschaftliche Reflexionsniveau preiszugeben, geht es perspektivisch doch darum, sich der soziologisch nicht voll zu fassenden Entwicklung kindlichen Lebens und Erlebens zu stellen. Hegels Rede vom Recht der Kinder auf Erziehung (Hegel 1955: § 174), Mollenhauers Hinweis, daß der Bildungsprozeß eines Kindes nicht nach dem Modell von Bearbeitung, Formung oder Veränderung eines Materials zu denken ist, sondern nur als Unterstützung einer sich entwickelnden Kraft, als dialogische Beziehung konzipiert werden kann (Mollenhauer 1983: 90), geht jeweils aus von einer Überzeugung der Vernunftbegabung und Bildungsfähigkeit aller. Heißt dies zum einen in einer konkretisierenden Weise, "die Würde des Kindes dadurch achten, daß man ihm Aufgaben zumutet" (Mollenhauer 1983: 103), so erweisen sich zum anderen Erwachsene als widerständig gegen antipädagogische Affekte aller Art, wenn sie erkennen: "Als Individuum ist der Mensch nur potentiell Subjekt, aktuell erst als Resultat der Bildung" (Koneffke 1986: 72, vgl. Sünker 1989: 6).
Anmerkungen
1. Im Rahmen meiner Überlegungen rede ich im folgenden noch ohne die bei weiteren Analysen vorzunehmenden Differenzierungen im klassen- und kulturtheoretischen oder auch geschlechtsspezifischen Kontext von "Kindern".
2. Trotz aller Fortgeschrittenheit der Jugendforschung gegenüber der Kinderforschung gilt gleichwohl, wie W. Hornstein festgestellt hat, daß in den Diskussionen über gesellschaftliche Wandlungsprozesse von Jugend offensichtlich gesellschafts- bzw. modernisierungstheoretische Konzepte eine gewichtigere Rolle spielten als die zur Verfügung stehenden empirischen Materialien dies über ihren Gegenstand auswiesen (Hornstein 1988:70). Deshalb betrachtet er es als eine Aufgabe der Jugendforschung, und dies ist m.E. auch auf die Kinderforschung zu übertragen, Problemlagen und soziale Situationen Jugendlicher zu untersuchen, "dabei auf der einen Seite deren gesellschaftliche Konstituierungen und Qualität (zu) beachten..., auf der anderen Seite darf sie aber auch die aktiven Formen der Verarbeitung im Rahmen einer Subjekttheorie nicht aus den Augen verlieren. Eine spezifische Verbindung von Gesellschaftstheorie und Subjekttheorie stellen also charakteristische Momente einer solchen Konzeption dar" (a.a.O.: 89).
3. Zur gängigen Funktionalisierung von Familienpolitik in wechselnden gesellschaftlichen Kontexten s. die immer noch instruktive Studie von Haensch (1969); vgl. auch Riedmüller (1981).
4. Zu gesellschaftlichen Orten und Systematik der Diskussion über Gewalt gegen Kinder und Risiken von Kinderleben heute s. Honig (1987) und Eurosocial (1989).
5. Unter komparativen Gesichtspunkten diskutieren Lenhart (1989) und Melzer (1989) Fragen von Kinderleben und Kindheit.
6. Für den Elementarbereich und die darin tätigen Professionen wird es damit m.E. immer wichtiger, sich nicht länger unter die Ideologie des "familienergänzenden" subsumieren zu lassen; vgl. dazu insgesamt die Beiträge Projektgruppe Reggio/Hamburg (1990). Zu den Voraussetzungen und Resultaten des Aufwachsens im Elementarbereich s. Dencik (1989); zu Auseinandersetzungen um diesen Bereich und seine Ausgestaltungen in differenten gesellschaftlichen Kontexten s. Nave/Herz (1990). Zur Diskussion um die Bedeutung der Beziehungen zu Gleichaltrigen bereits im Kleinkindesalter s. Corsaro (1985).
7. Die akzentuierteste Position hinsichtlich der Frage von Kinderrechten wird in den skandinavischen Ländern vertreten; die Darstellung bei Dencik (1989:163) lautet: "There is a tendency to regard children and parents as independent subjects with separate legal Status. In Sweden for example, a recent government report gave serious consideration to granting children the rights of separation from their parents, and award them the status of a legal party in separation proceedings. The state provides maintenance benefits and legal assistance to children, and legislates on the relationship between children and parents. Examples of this would be the law against corporal punishment, and the obligation placed on parents to see that the child is properly stimulated and receives an education consistent with its aptitudes".
8. Daß diese Entwicklungen so neu nicht sind, vielmehr in historisch gesellschaftlichen Prozessen verankert sind, darauf macht Gelis nachdrücklich aufmerksam, wenn er schreibt (1986: 690): "The new relations that started to form between parents and children at the end of the fifteenth Century testify to a breaking up of ancient solidarities; the interest of the couple was diverging from that of lineage, and the interest of the individual from that of the group. A complex evolution like this took more than a generation or even a Century to come about, and many factors intervened to step up or slow down its pace. Today, at a time when western societies face challenges whose import we are just beginning to gauge - an aging population, fertilization in vitro, Surrogate mothers - we have a strong sense of having reached a turning point in our development. And we may rightly wonder whether our current debates did not already exist in the bud with the first signs of a new view of the child".
9. Auf diese Probleme beziehen sich auch Überlegungen von Martin und Nitschke (1986: 31 f). wenn sie schreiben: "...man kann auch nicht ohne weiteres annehmen, daß es vor allem strukturfunktionale Beziehungen sind, die im Prozeß der Sozialisation das Verhältnis z.B. zwischen Erwachsenen und Kindern, zwischen Familie und Gesellschaft regeln. Man muß doch davon ausgehen, daß es mit der Kindheit verbundene elementare Herausforderungen gibt, auf die zwar jeweils in kulturspezifischer Weise geantwortet wird, ohne daß aber diese Antworten vollständig aus dem Zusammenhang der jeweiligen Erwachsenengesellschaft erklärt werden könnten. Wirken, so muß man fragen, Traditionen? Muß man vielleicht von einer Art von "Gegenseitigkeitsordnung" reden, in der das Verhältnis der Geschlechter zueinander, das von Eltern und Kindern, von Elternhaus und Schule - bewußt oder unbewußt - nach dem Prinzip der Komplementarität geregelt ist. Oder reagieren Kinder und Jugendliche - erst in ihrer Phantasie, dann in ihrem Handeln - früher als Erwachsene auf Veränderungen ihrer Umwelt. Haben Erwachsene in Zeiten eines gesellschaftlichen Wandels von ihnen zu lernen?"
10. Aus einer Perspektive, die Sozialpsychologie, politische Psychologie und Gesellschaftstheorie miteinander vermittelt, nähert sich Kilian (1971: 273) dieser Problemstellung: "Die Sozialtechniken und die Gesellungsformen des Menschen, welche das Gesicht der Herrschaftskulturen bestimmten, haben in der gegenwärtigen Phase der geschichtlichen Entwicklung ihre Funktion als Ordnungsfaktoren weitgehend eingebüßt. Der organisierende Prozeß der herrschaftsstrukturellen Sozialtechniken beginnt in einen desorganisierenden Prozeß umzuschlagen, in welchem eben jene Faktoren, die bisher der Erhaltung der Ordnung dienten, zu Faktoren der Unordnung und der Zerstörung werden. Umgekehrt wird deutlich, daß die Entfaltung der durch gewohnheitsmäßige unbewußte Repression bisher weitgehend 'unterentwickelten' freien Kommunikationsfähigkeit im weitesten Sinne des Wortes als jenes noch kaum erkannte Kulturziel der heute lebenden Generation anzusehen ist, von dessen weitgehender konkreter Realisation die Überlebenschancen der Menschheit in der nächsten Zukunft möglicherweise abhängen werden".
Literatur
ARIES, PH., 1975: Geschichte der Kindheit. München
BARDY, M., 1988: Knowledge in and on Child Welfare. International Expert Meeting "Children at Risk - Future Developments in Child Welfare and Family Policy", Oktober 1988 in Smilovice/Prague. European Center for Social Welfare. Wien
BECK, U./BECK-GERNSHEIM, E., 1990: Das ganz normale Chaos der Liebe. Frankfurt
BERICHT DER BUNDESREGIERUNG, 1989: Zur Vorbereitung auf die XXI. Europäische Familienministerkonferenz. Dokument MMF-XXI (88) "Kindererziehung heute und Rolle der Familiendienste". Bonn
BÜCHNER, P., 1989: Individualisierte Kindheit "jenseits von Klasse und Schicht"?, in: Geulen
CORSARO, W.A., 1985: Friendship and Peer Culture in the Early Years. Norwood
DENCIK, L., 1989: Growing Up in the Post-Modern Age: On the Child's Situation in the Modern Family, and on the Position of the Family in the Modern Weifare State, in: Acta Sociologica 32
ENGELBERT, A., 1986: Kinderalltag und Familienumwelt. Frankfurt
EUROSOCIAL 1989: Children at Risk. Report 33. Wien
GELIS, J., 1986: The Evolution of the Status of the Child in Western Europe: From the Collective Body to the Private Body, in: Social Research 53
GEULEN, D. (Hrsg.), 1989: Kindheit. Neue Realitäten und Aspekte. Weinheim
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