In and against the State!

Aktuelle staatstheoretische Perspektiven für eine Politik des Sozialen
Editorial

Vor noch nicht allzu langer Zeit galt der Staat in einer weit verbreiteten Vorstellung als so etwas wie eine "Brausetablette", die sich in den Wellen globalisierter Märkte und damit verbundener Prozesse der Deregulierung und Privatisierung zunehmend auflöste. Dies galt nicht nur für Apologet_innen eines "freien Marktes". Auch in der Auseinandersetzung mit der Geschichte und Entwicklung des Sozialstaats identifizierten Viele den "Nationalstaat" als zentrale Voraussetzung sozialstaatlichen Handelns und sahen diesen durch die intensivierte Globalisierung der Märkte gefährdet bzw. zunehmend beschränkt.

Diese weit verbreitete Vorstellung eines zunehmenden Bedeutungsverlusts des Staates geriet spätestens im Kontext der Finanzkrise mit der Rettung privater Banken durch staatliche Instanzen in eine Schieflage. Angesichts der Wiedereinführung nationaler Grenzkontrollen während der vermeintlichen "Flüchtlingskrise" sowie dem Aufkommen von "Renationalisierungsbestrebungen" infolge populistisch-nationalistischer Initiativen und Parteien überall in Europa und den USA sollten wohl auch letzte Zweifel beseitigt sein. Dabei sind gerade letztgenannte Phänomene weniger Ausdruck einer "Wiederauferstehung" sondern vielmehr Ausdruck von "Staatsversagen" (Jessop).

Bei genauerer Betrachtung war die Vorstellung eines zunehmenden Bedeutungsverlusts des (National)Staates für die Regulation und Reproduktion bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaftsverhältnisse im Post-Fordismus nie mehr als ein Mythos. Zwar relativierte sich die nationalstaatliche Souveränität gegenüber transnational agierenden Großkonzernen und der sie kontrollierenden Eliten. Vergessen werden darf dabei jedoch nicht, dass es sich bei der nach wie vor hegemonialen Politik der De-Regulierung um ein politisches Projekt handelt, dass staatlich durchgesetzt wurde und wird - dies gilt für die Schaffung eines europäischen Binnenmarktes nicht weniger als für die Bestrebungen zur Etablierung von Freihandelszonen. Dabei bleiben auch Standortpolitik betreibende "Wettbewerbsstaaten" systematisch auf machtvolle staatliche Instanzen angewiesen. Das Hegemonialwerden neoliberaler Politiken des "freien Marktes" war insofern - entgegen aller Gerüchte - nicht mit einer Reduktion regulativer Staatstätigkeit verbunden, sondern lediglich mit deren Transformation gemäß gewandelter gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse.

Dies gilt gerade auch für den wohlfahrtsstaatlichen Bereich personenbezogener sozialer Dienste bzw. die Soziale Arbeit. Der gesteigerte Wettbewerb zwischen verschiedenen Einrichtungen und Trägern Sozialer Arbeit um zunehmend budget- bzw. projektförmig gestaltete Finanzierungen auf sogenannten "Quasi-Märkten" (vgl. Redaktion Widersprüche 2010; Bode 2010, Vogel 2007) - was oft unter dem Stichwort Ökonomisierung diskutiert wird - ist letztlich ein politisch forcierter und staatlich genutzter Mechanismus zur "effizienten" Steuerung öffentlicher Finanzen sowie gleichzeitig auch inhaltlich-programmatischer Ziele. Soziale Arbeit ist in ihrer aktuellen Form kaum jenseits "des Staates" denkbar. Auch zivilgesellschaftliche Akteur_innen und Organisationen Sozialer Arbeit, allen voran die etablierten (kirchlichen wie säkularen) Wohlfahrtsverbände mit ihrer korporatistischen Verflechtung, übernehmen mitunter "staatstragende" Funktionen und nehmen Einfluss auf hegemoniale Projekte; sowohl unterstützend wie (gelegentlich) auch kritisierend. Als integraler Bestandteil des Wohlfahrtsstaats zeigt sich das von Gramsci aufgezeigte Verhältnis von Zwang und Konsens ("Hegemonie gepanzert mit Zwang") in der Sozialen Arbeit in dem für sie konstitutiven Widerspruch von Hilfe und Kontrolle bzw. Hilfe und Herrschaft und damit verbundenen Bindung von Unterstützung an die grundsätzliche Bereitschaft zur Übernahme einer zu den vorherrschenden Vorstellungen eines "bürgerlichen Lebens" sich kompatibel gestaltenden Lebensführung.

Transformationen und Widersprüche von Sozialstaatlichkeit gehören zu einem immer wiederkehrenden Thema dieser Zeitschrift. Schon in den ersten Heften Anfang der 1980er Jahre stellten Debatten um Spaltung der Gesellschaft und Umbau des Sozialstaats einen wichtigen Diskussionsstrang dar. Wer auf die Homepage der Zeitschrift geht wird feststellen, dass sowohl die Positionierung der Redaktion im Text "Verteidigen, überwinden und kritisieren zugleich" wie auch die spätere Auseinandersetzungen um "Alternative Sozialpolitik" und "Politik des Sozialen" oder "Soziale Infrastruktur" immer wieder mit expliziten oder impliziten Theorien über den (Sozial)Staat und seine Konfliktarenen und Regulierungen verbunden sind, wie sie auch in diesem aktuellen Heft zu finden sind. Auch Fragen an die Rolle der EU und die Entwicklungen der Sozialstaaten in Europa waren immer wieder Thema.

Vor diesem Hintergrund möchte das vorliegende Themenheft der Widersprüche Fragen auf den Grund gehen, welche sich für eine linke staatstheoretische Auseinandersetzung mit dem Verhältnis Sozialer Arbeit und "Staat" stellen angesichts eines bis heute unabgeschlossenen und sich dynamisch fortsetzenden Transformationsprozesses von (Wohlfahrts)Staatlichkeit in bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften.

Welche neuen (sozial)politischen Konstellationen ergeben sich daraus, dass zumindest in Europa mit der Entstehung supranationaler europäischer Staatsapparate bzw. Agenturen Staatlichkeit die Schwelle des Nationalstaats - zumindest partiell - "überschreitet"? Im Kontext der aktuellen Kräfteverhältnisse soll die EU zwar keine Sozialunion sein. Dennoch hat die europäische Ebene zumindest indirekt, so z.B. über Fonds wie den Europäischen Sozialfond (ESF) oder den kürzlich gegründeten Europäischen Hilfsfonds für die am stärksten benachteiligten Personen (FEAD/EHAP, eine durchaus gewichtige Funktion in der Finanzierung von sozialen Projekten und Einrichtungen gewonnen, über sie auch Einfluss auf die inhaltlichen Ziele Sozialer Arbeit erlangt. Zugleich stellt sich die Frage danach, wie sich die "Wohlfahrtsregime" (Esping-Andersen) in unterschiedlichen Ländern angesichts der Hegemonie neoliberaler Politik in Europa entwickelt haben. Welche unterschiedlichen Adaptionen lassen sich hier aufzeigen und wo zeitigen sich offensichtliche Brüche? Wie wird die Arbeitsteilung zwischen gesetzlicher Regelung von sozialen Rechten, staatlichen oder von Dritten erbrachten sozialen Dienstleistungen und der allgegenwärtigen Anrufung des zivilgesellschaftlichen oder caritativen Engagements bzw. praktizierter Mitleidsökonomie politisch gestaltet und an welche Bedingungen wird das Innehaben und Durchsetzen von sozialen Rechten geknüpft? Diese Fragen lassen sich nicht nur auf die Ebene nationalstaatlicher Programmatik beziehen. Sie stellen sich auch mit Blick auf konkrete kommunale Kontexte, so z.B. mit Blick auf Auswirkungen wohlfahrtstaatlicher Transformation auf den beruflichen Alltag oder auch mit Blick auf aktuelle Konfliktlagen, wie sie sich z.B. im Zuge eines erstarkenden Populismus stellen.

Zu den Beiträgen im Einzelnen

Der einleitende Beitrag von John Kanannkulam gibt einen Überblick über wesentliche Stränge der Entwicklung der materialistischen Staatstheorie. Die klassischen Versuche einer logischen Bestimmung des bürgerlichen Staats bei Marx und Engels werden ebenso vorgestellt wie die Ergebnisse der deutschen Staatsableitungsdiskussion in den 1970er Jahren. Als begrifflich ertragreicher Fortschritt erweisen sich die Erweiterungen in den Theorien von Gramsci, Althusser und nicht zuletzt Poulantzas. Die als hegemonie- und handlungstheoretische Orientierung fassbare Weiterentwicklung im Verständnis des Verhältnisses von Staat und Widersprüchen der kapitalistischen Produktionsweise erweist sich in der Lage, politische und soziale Kämpfe und Kompromissbildungen in den modernen Gesellschaften und Staatsapparaten zu erhellen. Poulantzas Argumentation zum autoritären Etatismus bietet Ansatzpunkte zur Analyse der Entwicklungen sowohl in einzelnen europäischen Staaten wie auch im transnationalen Staatsapparate-Ensembles der Europäischen Union.

Mit deren Krise befasst sich der Beitrag von Jens Wissel. Seiner Analyse nach kommt die "New Economic Governance", die in Europa durchgesetzt worden ist mit ihrer Orientierung am wirtschaftlichen zwischenstaatlichen und globalen Wettbewerb an ihr Ende. Die hegemonialen Kräfte in Entscheidungs- und Vermittlungsapparaten der EU verhinderten das Projekt einer Sozialen Union. Die EU wird als Eliteprojekt beschrieben, das in Krisen als Ganzes in Frage gestellt werden kann. Jens Wissel vertritt die These, dass das Fehlen einer europäischen Zivilgesellschaft, das Scheitern einer Sozialunion und einseitige gesellschaftliche und apparative Kräfteverhältnisse ausschlaggebend dafür sind, dass die Idee einer transnationalen europäischen Integration vor ihrem Ende zu stehen scheint. In dieser Krise sieht er auch die linken politischen Kräfte herausgefordert, aus der Perspektive der Subalternen alternative Vorschläge der politischen Regulierung zu entwickeln.

Hans-Jürgen Bieling betrachtet ebenfalls Entwicklungen von Staatlichkeit in Europa und fokussiert dabei auf die Frage, ob es im Rahmen der europäischen Integration zu einer Konvergenz der Wohlfahrtsstaatlichkeit kommt und worin diese bestehen könnte. Die Tendenz einer Spaltung der Wohlfahrtsstaaten in einen hierarchischen Mix von Mindestsicherungen, lohnarbeitsgebunden Sozialversicherungen und Zwang zu privater Vorsorge ist für ihn nachvollziehbar. Im Zuge der Finanzmarktkrise und ihrer austeritätspolitischen Bearbeitung sind diese Tendenzen erkennbar, aber auch modifiziert. Die Tendenzen erschließen sich, so seine Argumentation, vor allem im Kontext politökonomischer Entwicklungen und arbeitsmarktpolitischer Workfare-Strategien. Hans-Jürgen Bieling erläutert, wie im Rahmen der EU wohlfahrtstsaatlicher Konvergenzdruck erzeugt worden ist. Er rekonstruiert unterschiedliche Phasen der Reorganisation von Wohlfahrtsstaatlichkeit bis hin zur aktuellen Austeritätspolitik, die auf Basis einer politischen Ökonomie der ungleichen Entwicklung vollzogen wird.

Sigrid Leitner charakterisiert in ihrem Beitrag eine spezifische Politik der Regulierung der Geschlechterverhältnisse, die ebenfalls in der Programmatik der EU-Politik hegemonial ist. Mit dem "Adult Worker Model" einer modernen inner- und außerfamiliären Arbeitsteilung wird die Vorrangstellung der Erwerbsarbeit gegenüber den Sorgearbeiten zementiert. Das "Adult Worker Model" einer Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Sorgearbeit verbindet Interessen an Erweiterung der Erwerbsteilnahme mit produktivistischer Sozialpolitik. Sigrid Leitner zeigt, welche Widersprüche sich zwischen sozialstaatliche Programmatik und sozialstaatlichem Alltag entfalten, die von den Menschen be- und verarbeitet werden müssen. Unzureichende Betreuungs- und Versorgungsstrukturen wie unvereinbare Arbeitsbedingungen führen zu einer Reproduktionskrise. Wegen der Ambivalenzen von "Adult Worker Model" und Defamilisierung von Sorgearbeit besteht Sigrid Leitner auf der Notwendigkeit einer öffentlichen Debatte über das "Wie" der gesellschaftlichen Organisation von Erwerbs- und Sorgearbeit.

Thomas Wagner und Arnd Götzelmann berichten in ihrem Aufsatz über die eigensinnige Arbeit an der Geschichte aus der Perspektive von älteren, langjährig beschäftigten Sozialarbeiter_innen. Ausgehend von der Erkenntnis, dass Veränderungen der sozialstaatlichen Regulierungen nicht einfach von oben nach unten an die umsetzenden Professionellen kommandiert, sondern von diesen auch in bestimmter Art und Weise angeeignet werden, fragen sie danach, wie wohlfahrtsstaatliche Transformationen in autobiografischen Erzählungen über den beruflichen Alltag von Sozialarbeiter_innen interpretiert und verarbeitet werden. Grundlage des Textes ist ein kleineres Forschungsprojekt, in dem biografisch verarbeitete Erfahrungen und Deutungen von erlebter Geschichte eingefangen werden. Es entsteht eine Ahnung davon, wie auch Fachkräfte der sozialen Arbeit als eigensinnige historische Akteur_innen zu verstehen sind, die ihre "Geschichte machen".

Zur jüngeren Geschichte sozialer Arbeit gehört auch das Wachstum des Arbeitsfeldes der migrations- und fluchtbezogenen Arbeit. Katja Reinicke widmet sich in ihrem Beitrag der Herausforderung sozialer Arbeit durch vordergründig humanitär wirkende Programmatiken der Bekämpfung von Fluchtbewegungen. Sie thematisiert die nationalstaatliche Begrenztheit Sozialer Arbeit am Beispiel von EU-finanzierten Auffanglagern für Geflüchtete in Nordafrika. Bezugnehmend auf aktuelle Diskussionen um die Einbindung nordafrikanischer Staaten in Migrationskontrolle in Form z.B. von exterritorialen Lagern oder auch Heimen für Straßenkinder, verdeutlicht sie, welche Folgen diese Politik hat: zum einen für die Geflüchteten, aber auch für das professionelle und politische Selbstverständnis sowie die Praxis der Sozialen Arbeit. Sie kommt zu dem Schluss, dass die Grenzen - von Handlungsmöglichkeiten - für Geflüchtete und Soziale Arbeit aus dem widersprüchlichen Verhältnis von nationalstaatlicher Zugehörigkeit und Durchsetzung von Bürger- und Menschenrechten resultiert.

Was wäre ein Widersprüche Heft zu Staat und Staatstheorien, in dem kein Beitrag zu Diskursen über zentrale Normen aktueller staatlicher Politik zu finden ist? Mit der Frage "Ist Deutschland ein sicheres Aufnahmeland" begibt sich Christine Resch in den Diskurs um "Integration", wie er angesichts der jüngeren Fluchtbewegungen geführt wird. Sie schließt ihre Analyse an Kritiken des Integrationsbegriffs an, die ihn als repressiv charakterisieren. Sie argumentiert, dass mit Integration immer auch Disziplinierung mitgemeint ist. Das Material, das im Rahmen des Beitrags analysiert wird, stammt sowohl aus staatlichen und suprastaatlichen Quellen sowie aus einem Forschungsprojekt über Reaktionen der Bevölkerung auf Planungen einer Flüchtlingsunterkunft im Stadtteil. Christine Resch zeigt, dass die Norm der Integration auf identitätspolitischen Kategorisierungen beruht, die notwendig mit sozialer Ausschließung verbunden sind. Für die theoretische Analyse wird vorgeschlagen, über "Populismus" nachzudenken.

Die Redaktion