Hilfe
Editorial
Vom Jugendwohlfahrtsgesetz (JWG) zum Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) - der Stand des Diskurses um Kindheit und Jugend macht sich auch an den jeweils dominierenden Begriffen fest. Ging es bei der Formulierung des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes Anfang der 20er Jahre um eine grundsätzliche Standortbestimmung der Jugend in der nachkaiserlichen, bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft deutscher Nation, so geht es in dem nun von breitem Konsens getragenen "Hilfe"-Gesetz um die Festschreibung und Weiterentwicklung des "Normalisierungsnetzes" (Foucault) für die nachwachsenden Generationen. Lag in dem paternalistischen Begriff "Wohlfahrt" noch die Anerkennung von Jugend als potentiellem gesellschaftlichen Subjekt, so löst sich diese Perspektive in der individualisierenden Vergabe von Hilfen an Kinder und Jugendliche - oder besser: an deren Erziehungsberechtigte - auf: Kinder und Jugendliche kommen als Subjekte mit eigenen Rechten nicht vor, sie bleiben Objekte erzieherischen Bemühens. Korrekterweise könnte das Gesetz auch Familienhilfegesetz oder Frauenhilfegesetz heißen. Auch wenn die Begründung des Gesetzes im Jargon progressiver Sozialarbeit argumentiert, wird dennoch deutlich, daß die zentrale Option der Jugendrechtsdiskussion der 70er Jahre eine umfassende Niederlage erlitten hat: die Option eigenständiger Rechte von Kindern und Jugendlichen, die nicht aus den Rechten der Eltern, der Erwachsenen generell bzw. deren Institutionen (Schule, Heime, usw.) abgeleitet sind.
Die Wertkonservativen aller Fraktionen der Bundesrepublikanischen Einheitspartei haben unter dem Etikett der individualisierenden, familienergänzenden Hilfen zu einem neuen hegemonialen Konsens gefunden, bei dem zwar alle an der Oberfläche sich streitenden Gruppierungen einige Abstriche machen mußten, bei dem hinter vorgehaltener Hand aber gegenseitig signalisiert wird: Damit können wir unsere Interessen realisieren.
Was sich von sozialdemokratischer Seite in den 70er Jahren als "Offensive Jugendhilfe" auf den Weg gemacht hatte, ist nun bei Maßnahmen der Kolonisierung der weißen Flecken privater und subkultureller Lebenswelten gelandet: Bundesweit gelten Intensivbetreuung und sozialpädagogische Familienhilfe als das Nonplusultra. Damit kann sich auch die Christdemokratische Familienschützerfraktion zufriedengeben, war sie es doch, die in den 70er Jahren in der "Offensiven Jugendhilfe" den Untergang des Abendlandes - sprich der Familie - sah.
Auch die sogenannten Haushaltsexperten alle Fraktionen können zufrieden sein: die einzig wirkliche Neuerung des Entwurfes zum jetzigen Gesetz: Der Rechtsanspruch auf einen "Erziehungsplatz" außerhalb der Familie für Kleinkinder, ist fallengelassen worden, so daß auch nicht mehr der Anschein einer Gefahr besteht, hier könnten Mittel eingefordert werden, die die staatlichen Administrationen ansonsten zur Subventionierung des Kapitals brauchten. Auch die Verdoppelung dieser parteipolitischen Strömungen in den vielfältigen Verbänden des "Jugendhilfekartells" können zufrieden sein - der Subsidiaritätsgedanke (das Recht der Verbände, sich aus öffentlichen Mitteln zu bedienen) ist bekräftigt und modernisiert worden.
Der "Block an der Macht" im Jugendkontrollsektor kann also rundum zufrieden sein - selbst wenn das Gesetz nicht in Kraft gesetzt würde, hat es seine Funktion erfüllt: die Beschaffung eines neuen Konsens.
Vor diesem Hintergrund kann sich eine Auseinandersetzung mit dem KJHG nicht auf einzelne Paragraphen beschränken, sondern muß sich zentral mit dem auseinandersetzen, was zwischen den Zeilen steht bzw. was den Kontext der gesellschaftlichen Strömungen thematisiert, in das dieses Gesetzesvorhaben eingebettet ist.
Maria-Eleonora Karsten analysiert das Gesetz aus frauenpolitischer Perspektive und kritisiert entsprechend die Familienorientierung, die das Gesetz vom ersten bis zum letzten Paragraphen durchzieht, als die abermalige "Dienstverpflichtung" der Frauen in die Zumutung der kostenlosen Reproduktion des gesellschaftlichen Nachwuchses. Statt Kinder und Jugendliche mit eigenen öffentlichen Rechten auszustatten, sieht sie eine weitergehende Verlagerung der Erziehungshilfen in die Familienhaushalte hinein - was einer Privatisierung öffentlicher Hilfen gleichkommt. Da alle Erziehungshilfen als familienergänzend definiert werden, ist damit auch die Gefahr der Dequalifizierung der pädagogischen Fachkräfte gegeben: Familie hat schließlich jede/jeder. Insgesamt sieht Karsten damit neue Ungleichheiten in den Lebens- und Entwicklungschancen von Frauen und Kindern insbesondere auf kommunaler Ebene festgeschrieben.
In dem zweiten Grundsatzartikel zum Thema untersucht Friedhelm Peters Ideologie und Praxis der "Sozialpädagogischen Familienhilfe". In dieser "Maßnahme" bündeln sich wie in einem Brennglas alle Aspekte des KJHG - von der ideologischen Konsensfunktion: auf diese Hilfeform können sich alle Fraktionen einigen, über die professionelle Legitimation: hier erleben wir die "zweite Geburt" der modernen Sozialarbeit, die weniger (sprich: subtilere) Kontrolle verspricht und dafür um so mehr das "Eigentlich-Sozialarbeiterische" (die helfende Beziehung), bis hin zu Kostengesichtspunkten: Sozialpädagogische Familienhilfe verspricht weniger zu kosten als traditionelle Heimerziehung. Wenn diese "Wunderwaffe" im Normalisierungsdiskurs von Kindheit und Jugend dazu noch im Gewand der Prävention gekleidet ist, wagt sich kaum noch eine kritische Stimme zu erheben. Friedhelm Peters und Timm Kunstreich versuchen es dennoch, denn, wie David Matza schon in den 60er Jahren feststellte: der Gedanke der Prävention ist immer verbunden mit dem der Ausmerzung - und diese fatale Kontinuität deutscher Gesellschaftsgeschichte sollte doch zu denken geben.
Die weiteren Artikel zum Schwerpunkt thematisieren in unterschiedlicher Weise den Kontext der KJHG-Realisierung. Zunächst weist Heribert Ostendorf, Generalstaatsanwalt von Schleswig-Holstein, darauf hin, daß das zur Zeit ebenfalls zur Novellierung anstehende Jugendgerichtsgesetz zumindest keine Verschlechterung bringt. Auch hier geht es darum, in der Praxis schon vollzogene Modernisierung im Gesetz nachzuvollziehen.
Auch wenn zu Recht niemand behauptet, daß die Adressaten des KJHG Kinder und Jugendliche als Subjekte seien, gibt es sie dennoch: eine Gruppe junger Menschen hat ihre Erfahrungen mit der z.Z. wohl modernsten Variante der Jugendhilfe - nämlich der im Stadtstaat Hamburg - aufgeschrieben und stellt wütend ihre eigene Rechtlosigkeit fest.
Der Schwerpunkt schließt mit einem historischen Beitrag ab: Benno Hafeneger untersucht die Jugend- und Sozialpolitik der KPD in der Weimarer Republik. Neben Bornierungen einer dogmatischen Politik und dem Gefühl, einiges erreicht zu haben (die Fürsorgeerziehung wird mit dem KJHG endgültig abgeschafft) macht der Artikel jedoch auch deutlich, daß eine Grundforderung weiterhin unerfüllt ist: die Forderung nach eigenständigen Rechten für Kinder und Jugendliche. Ohne sie bleiben Pädagogik und "Hilfe" Instrumente der Disziplinierung unmündiger Objekte.
Offenbach im März 1990